21
Marni
Wie zum Teufel war das passiert? In der einen Minute war er noch ein Baby gewesen, jetzt lag er betrunken auf dem Sofa und schnarchte laut. Marni holte eine Plastikschüssel unter der Spüle hervor und ein großes Glas Wasser, dann schob sie Alex’ Füße beiseite, um sich hinzusetzen. Anschließend tippte sie ihm aufs Schienbein, um ihn zu wecken.
»Wie ist die letzte Prüfung gelaufen?«, fragte sie, als er anfing, sich zu regen.
»Was?« Er rieb sich die Augen und sah das Glas Wasser.
Sie wartete, während er es in einem Zug leerte.
»Die letzte Prüfung, Alex? Du erinnerst dich? Heute Morgen, dein Abitur?«
Er ließ das Glas sinken. Ein breites Grinsen ließ seine Mundwinkel in die Höhe schnellen.
Wenn er lächelte, sah er Thierry so ähnlich, dass es ihr fast das Herz zerriss.
»Die hab ich mit links geschafft.«
»Wirklich?« Erleichtert stellte sie fest, dass er gar nicht so betrunken klang.
»Es sind genau die richtigen Fragen drangekommen, alles ist gut.«
»Das hast du weiß Gott weder von deinem Vater noch von mir. Wir haben beide kein Abi.«
»Dad hat sein baccalauréat,
das ist doch nichts anderes.«
Über Thierry wollte Marni jetzt nicht reden. Sie hatte ihn in den letzten Tagen viel zu oft gesehen, all die widerstreitenden Gefühle waren in ihr aufgewühlt worden, die sie zu vergessen versuchte.
»Wie ist es für Martin und die anderen gelaufen?«
»Auch ganz gut, glaube ich. Liv hat etwas gestöhnt, aber das tut sie immer, und dann ist sie eine der Besten.«
Liv war Marnis Nichte, die dieselbe Schule besuchte wie Alex.
Er hickste. »Wie viel Uhr ist es? Ich muss mich mit den anderen treffen.«
»Kurz nach vier. Warte, du wirst doch jetzt nicht wieder ausgehen? Du bist doch schon betrunken!«
»Mum!« Er schnitt eine Grimasse. »Ich bin nicht betrunken. Wir haben eine Flasche Champagner getrunken, anstatt zu Mittag zu essen. Viele hatten am Nachmittag noch Prüfungen, deshalb beginnt die eigentliche Party erst heute Abend.«
Marni seufzte. Sie war alleinerziehend. Da musste sie gleichzeitig den guten und den bösen Cop spielen.
»Ich mache dir Pasta, bevor du gehst. Komm doch zu mir in die Küche, dann können wir uns unterhalten.«
Das Telefon klingelte, als sie Wasser aufsetzte.
»Marni Mullins?«
»Wer ist dran?«
»Hier spricht Tom Fitz vom Argus.
Es heißt, Sie haben eine Leiche gefunden …«
Marni legte auf. Wenn es eine Sorte Menschen gab, der sie noch mehr misstraute als der Polizei, dann waren es Journalisten. Verdammt –
woher wusste der Typ, dass sie den toten Mann entdeckt hatte? Und wie war er an ihre Nummer gekommen?
Als die Pasta fertig war, war die Spannung zwischen Mutter und Sohn verpufft. Alex war nie ein schwieriger Teenager gewesen, musste sie der Fairness halber einräumen, da hatten ihre Freunde mit ganz anderen Kalibern fertigwerden müssen.
»Erzähl mir von deinem Tag«, sagte Alex, der sich auf einen Hocker an der Frühstücksbar setzte und seine Spaghetti verschlang. »Wen hast du auf immer mit deiner Nadel verunstaltet?«
Marni lachte. Es war ausgeschlossen, dass Alex in die Fußstapfen seiner Eltern trat. Er hatte nichts als Verachtung übrig für Tätowierungen, ganz gleich, welcher Art, was für Marni okay war, zumal sie wusste, dass es Thierry ärgerte.
»Nur eine bedauernswerte Frau, die nicht über die nötige Einsicht verfügte, dass ein Tattoo ihr Leben zerstören wird«, neckte sie ihn.
»Mum, du bist wirklich schrecklich. Du hättest sie warnen müssen. Jetzt fällt sie womöglich diesem Tattoo-Mörder zum Opfer. Du hast gerade den potenziellen Opferpool erweitert.«
»Was weißt du denn darüber?«
Alex zuckte die Achseln. »In der Schule ist das das Hauptthema. Jedes Mal, wenn du jemanden tätowierst, wirfst du dem Kerl frische Beute vor.«
»Ich verstehe nicht, warum er jemanden ermorden sollte, der eins meiner Tattoos trägt.« Aber nach welchen Kriterien wählte er seine Opfer aus?
»Warum nicht? Sie sind gut. Wenn ich Leute umbringen würde, um deren Tätowierungen zu sammeln, hätte ich gern eine, die von dir stammt.«
»Das ist lieb von dir, aber du bist voreingenommen. Außerdem glaube ich kaum, dass es ihn interessiert, wer die Tattoos gestochen hat.«
»Hast du nicht gesagt, dein Polizist denkt, es könnte sich um Trophäen handeln? Wenn dem so ist, dann will er doch bestimmt etwas Anständiges haben. Nicht irgendeine Stümperei nach einem Saufgelage an einem Touri-Strand auf Mallorca.«
Marni stellte seinen Teller in die Spülmaschine. Sie wusste, dass sie das nicht für Alex übernehmen sollte, aber wenn sie ihn machen ließ, würde der Teller nie dort landen.
»Das stimmt«, räumte sie ein. »Er hat bislang kein einziges schlechtes gewählt. Die waren alle gut.«
Alex machte sich über eine Packung Eis her, als habe er seit einer Woche nichts mehr gegessen. Anscheinend hatte er das Interesse an dem Gespräch verloren.
An der Küchenwand hinter ihm hing ein Poster von einer Tattoo-Ausstellung. Darauf war eine nackte Frau von hinten abgebildet, deren kompletter Rücken mit einem spektakulären japanischen Backpiece bedeckt war. Die Ausstellung mit dem Titel Die Alchemie von Blut und Tinte
hatte letztes Jahr in der Londoner Saatchi Gallery stattgefunden, ihr Mentor Ishikawa Iwao war der Kurator gewesen. Alex und sie waren zusammen nach London gefahren, um sie sich anzusehen, auch wenn sich Alex nicht wirklich dafür interessierte. Er hatte ihr eine Freude zum Geburtstag machen wollen. Neben der nackten Frau auf dem Poster war eine Liste mit zehn Namen abgedruckt – die Namen der zehn Tattoo-Künstler, deren Arbeiten ausgestellt wurden.
Rick Glover
Jason Leicester
Ishikawa Iwao
Gigi Leon
Jonah Mason
Polina Jankowski
Vince Priest
Bartosz Klem
Petra Danielli
Brewster Bones
Angeblich die zehn besten Tattoo-Künstler der Welt – was in Marnis Augen Unsinn war, aber dann fiel ihr ein, wie empört Thierry reagiert hatte, weil er nicht dabei sein konnte, wie er getobt hatte, als er das Poster sah. Sie las noch einmal die Namen auf der Liste.
»Ach du lieber Himmel«, hauchte sie dann und griff nach ihrem Handy.