22
Francis
Was mochte so wichtig sein?
Francis marschierte mit großen Schritten die George Street zur Ecke St James Street entlang und ging im Kopf die Nachrichten auf seiner Mailbox durch. Marni Mullins wollte sich mit ihm treffen, ohne ihm zu sagen, warum – doch die Dringlichkeit in ihrer Stimme sprach Bände. Was wusste sie? Was hatte sie entdeckt? Er sollte sich heute Abend eigentlich mit Robin treffen, aber das würde nun bis nächste Woche warten müssen. Er verspürte einen Anflug von Schuldgefühl, weil ihn die Aussicht, sich mit Marni Mullins zu treffen, um einiges mehr reizte, als einen Abend mit seiner großen Schwester zu verbringen.
Ein Obdachloser streckte die Hand nach seinem Bein aus.
»Haben Sie ein bisschen Kleingeld?«
Francis sah den Mann an und wusste sofort, wofür der das Geld ausgeben würde. »Ich kaufe Ihnen etwas zu essen.« Ein paar Läden zuvor war er an einem Lebensmittelgeschäft vorbeigekommen.
»Geben Sie mir einfach das Geld.« Das Gesicht des Obdachlosen wirkte feindselig.
Unbeirrt machte Francis kehrt, ging in den Laden und kaufte Sandwiches, einige Schokoriegel und eine Flasche Wasser, die er vor den Mann hinstellte.
»In der St Peter’s Church gibt es eine Nachtunterkunft«, sagte er. »Dort bekommen Sie eine warme Mahlzeit und ein Bett.«
Der Mann murmelte ein Dankeschön und nahm die Sandwiches. Seine dunklen Augen wirkten wie leere Höhlen.
Etwa hundert Meter weiter entdeckte Francis die Tapas-Bar, die Marni in ihrer Nachricht erwähnt hatte, und Sekunden später stieß er die Tür auf. Drinnen war es warm, das Licht gedämpft. Nackte Bodendielen, freiliegendes Mauerwerk und klobiges Holzmobiliar verliehen dem Restaurant ein rustikales Ambiente. Er sah sich suchend um und entdeckte Marni an einem Tisch im hinteren Bereich. Vor ihr stand eine offene Flasche Rotwein, eines der beiden Gläser auf dem Tisch war halb voll.
»Warum hier?«, fragte er, als er sich setzte. »Warum sind Sie nicht ins Präsidium gekommen?«
»Da war ich doch«, sagte sie. »Man wollte mir nicht sagen, wo Sie sind.«
Das machte Sinn – Francis war in der Gerichtsmedizin gewesen und war erst ein paar Minuten auf der John Street, als Marnis Nachricht einging.
»Mit wem haben Sie gesprochen? Mit Rory Mackay?«
Marni schüttelte den Kopf. »Nein, mit einer Frau. Einem Obermiststück, um ehrlich zu sein. Hat sich so aufgeführt, als wären Sie ihr Eigentum oder so ähnlich.«
Er fragte sich, wer das gewesen sein könnte. Angie? Ja, die war manchmal ziemlich patzig.
»Außerdem brauchte ich etwas zu trinken.«
Er sah sie an. Sie wirkte in der Tat ziemlich aufgewühlt.
Marni schenkte ihm Wein ein, bevor er die Chance hatte, sie davon abzuhalten, also ließ er das Glas unberührt.
Ihre Blicke begegneten sich. Er hätte ihren gern länger festgehalten, doch dann sah er zur Seite.
»Dann schießen Sie mal los. Was haben Sie für mich?«, fragte er leicht verlegen.
»Das hier«, antwortete sie und tippte auf etwas, was auf dem Tisch lag – einen Katalog. Er hatte ihn gar nicht bemerkt, als er sich setzte.
Nun nahm er ihn zur Hand und hielt ihn so, dass die Hochglanzblätter vom Licht der Kerze in der Mitte des Tisches erhellt wurden.
Auf dem Cover war der Rücken einer Frau abgebildet, auf den ein prächtiger chinesischer Drachen tätowiert war, dessen leuchtende Farben sich von einem schlichten schwarzen Hintergrund abhoben. Es kam ihm bekannt vor, und dann wurde ihm klar, dass dies genau der Katalog war, den Iwao benutzt hatte, um ihm Jonah Masons Arbeit zu zeigen.
»Die Alchemie von Blut und Tinte
«, las er laut vor. »Moderne Meister einer uralten Kunstform
.«
Marni nickte. In ihren Augen spiegelte sich das Kerzenlicht.
»Warum zeigen Sie mir das?«
»Das war eine Ausstellung, letztes Jahr, in der Saatchi Gallery. Schlagen Sie den Katalog mal auf.«
Perplex blätterte Francis durch die Seiten. Fotos von Tätowierungen in unterschiedlichem Stil. Er entdeckte das Bild, das Iwao ihnen gezeigt hatte.
»Jonah Mason. Der Tattoo-Künstler, der Evan Armstrong tätowiert hat.«
»Das ist richtig.«
»Und?«
Sie nahm ihm den Katalog ab, blätterte ein paar Seiten um und deutete auf ein anderes Foto.
»Sehen Sie mal hier.«
Es handelte sich um ein Biomechanik-Motiv, ganz ähnlich dem auf dem fehlenden Arm von Giselle Connelly.
»Bartosz Klem«, las Francis vor.
»Ja. Einer von Thierrys Kollegen hat seinen Stil erkannt, als ich ihm das Foto von dem Sleeve-Tattoo gezeigt habe. Und das hier …«
Sie blätterte zur nächsten Seite, auf der eine Reihe von verschlungenen gotischen Buchstaben zu sehen waren.
»Die sind von Rick Glover, der hier um die Ecke arbeitet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Wort ›Belial‹ und das Spinnennetz von ihm stammen«, sagte sie, dann schwieg sie erwartungsvoll.
Francis nahm den Katalog, den sie ihm entgegenstreckte, und betrachtete die Bilder.
»Und?«, fragte er nach ein paar Minuten.
»Kapieren Sie’s nicht?« Marni wirkte ungeduldig. »Sie wollten einen Zusammenhang zwischen den Morden finden. Da ist er! Alle drei Opfer hatten Tattoos von Künstlern, die in der Saatchi Gallery ausgestellt haben – die besten Tätowierer der Welt. Irgendwer sammelt deren Werke.«
»Verbindung oder Zufall?«
Mit weit aufgerissenen Augen schluckte Marni den verbliebenen Wein in ihrem Glas und schenkte sich nach. »Das ist doch wohl nicht ernst gemeint, oder?«
»Doch, natürlich – ich muss diese Frage stellen.« Francis ballte eine Hand zur Faust. »Sicher, diese Künstler haben vielleicht Evan Armstrong, Jem Walsh und die ermordete Frau tätowiert, was allerdings erst noch bestätigt werden muss. Ja, sie haben alle in dieser Galerie ausgestellt, aber außer ihnen noch mindestens ein halbes Dutzend anderer Tätowierer …« Er blätterte durch die Seiten. »Bislang haben wir keine Leichen mit deren Motiven gefunden – das Ganze bringt mir also im Augenblick nichts.«
»Und was haben Sie bisher in der Hand?«
Um Zeit zu schinden, nahm Francis einen Schluck Wein.
»Sie trinken?«
»Ich bin nicht im Dienst.«
»Trotzdem arbeiten Sie.«
Ein junger Kellner näherte sich ihrem Tisch. Marni bestellte mehrere Tapas, und er entfernte sich wieder.
Francis zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wir essen etwas?«
»Das hilft, um den Körper funktionsfähig zu halten.«
Er musste zugeben, dass sie ihm sympathisch war. Sie war wirklich geradeheraus. Völlig klar in dem, was sie mochte und nicht mochte. Warum zum Teufel ist sie im Gefängnis gewesen?
Er biss sich auf die Zunge, damit er sie bloß nicht danach fragte. Er war auch bei Rory nicht näher auf das Thema eingegangen, damit es nicht so aussah, als habe er mehr Interesse an Marni, als er zugeben wollte.
»Dann lautet Ihre Theorie also, dass sich jemand die Ausstellung angeschaut hat und sich nun seine eigene Sammlung aufbaut? Sie denken, wir haben es mit einer Art Tattoo-Dieb zu tun?«
»Ja, genau das denke ich. Ein Tattoo-Dieb.«
»Ich bin mir nicht sicher, inwiefern uns das weiterhilft.«
»›Uns‹«, wiederholte Marni. Ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, genehmigte sie sich einen weiteren Schluck Wein.
»Sollte Ihre Theorie tatsächlich zutreffen …«
»Es sind meine Leute, die in Gefahr sind, meine Community. Sie sollten das ernst nehmen.«
»Erst wollen Sie nichts damit zu tun haben, jetzt führen Sie einen Kreuzzug?«
»Es gefällt mir nicht, wenn Menschen sterben. Menschen, die ich vielleicht kenne.«
Francis vertiefte sich wieder in den Ausstellungskatalog und blätterte zurück zur ersten Seite.
»Sehen Sie mal«, sagte er und drehte die aufgeschlagene Seite so, dass sie sie sehen konnte.
»Ja?«
»Der Kurator – Ihr Freund Ishikawa Iwao.«
»Ich weiß. Ich war bei der Eröffnung.«
Francis schwieg. Er dachte an die tätowierte Katze, die ihn angefaucht hatte. Wenn Marni recht hatte mit der von ihr hergestellten Verbindung, würden er und sein Team sich auf Tattoo-Diebstahl konzentrieren müssen, aber zumindest hatten sie eine klare Richtung, in die sie ermitteln konnten.
»Essen Sie«, sagte Marni. »Und dann, Frank, erzählen Sie mir, warum Sie Polizist geworden sind.«
»Francis«, korrigierte er sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Wenn du mir erzählst, warum du auf die falsche Seite des Gesetzes geraten bist, Marni Mullins.