23
Rory
Punkt acht Uhr in Bradshaws Büro. So lautete die Anweisung des Chefs, der letzten Abend eine Textnachricht geschickt hatte. Rory war da. Bradshaw war da. Nur der Chef war nirgendwo zu sehen.
»Also, wie macht er sich so?«
Rorys Blick war momentan auf einen Klecks Rasierschaum geheftet, der an einem von Bradshaws Ohrläppchen hing.
»Rory?«
»Entschuldigung, Sir. Was haben Sie gesagt?«
»Sie arbeiten mit Sullivan. Sollten Sie mich nicht auf dem Laufenden halten?«
»Er ist in der Tat ziemlich clever.«
»Aber?«
»Dieser Fall … diese Fälle … Kompliziert. Wir wissen noch nicht, ob es sich um einen oder um mehrere Täter handelt, da wir bislang kein Bindeglied finden konnten …«
»Fahren Sie fort.«
Rory seufzte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ein relativ unerfahrener Detective wie er wirklich der Richtige für diesen Job ist.«
Bradshaw ließ sich Rorys Worte einen Moment lang durch den Kopf gehen. »Danke, dass Sie so offen zu mir sind, Mackay.«
Super gemacht. Das ist die Strafe, wenn man zu spät kommt.
»Das soll natürlich nicht heißen, Sir, dass …«
Es klopfte, dann öffnete sich die Tür zu Bradshaws Büro.
Rory unterbrach sich und drehte sich um. Sullivan betrat den Raum. Sein Anzug war so frisch gebügelt wie immer, doch sein Gesicht wirkte alles andere als frisch. Er starrte Rory mit blutunterlaufenen Augen an, als wolle er ihn fragen, warum Bradshaw und er ihr Gespräch so abrupt unterbrochen hatten.
Was hatte er gestern Abend so spät noch vorgehabt?
»Morgen, Sir. Es tut mir leid, dass ich zu spät komme. Morgen, Rory.«
Bradshaw knurrte missbilligend und warf demonstrativ einen Blick auf die Uhr, während der DI Platz nahm.
»Morgen, Chef«, sagte Rory.
»Ich nehme an, Sie haben Fortschritte gemacht?«, erkundigte sich Bradshaw, der Francis’ Blick festhielt.
»Hat Sergeant Mackay Sie auf den neuesten Stand der Ermittlungen gebracht?«
»Nein. Rory und ich haben Personalfragen besprochen. Granger geht bald in Mutterschutz.«
Rory sah, dass Sullivan ihm kein Wort glaubte.
»Wir haben in der Tat Fortschritte erzielt, Sir«, sagte Francis. »Ich habe die Berichte der SCAS mit offenen Fällen bei uns und anderswo abgeglichen und möglicherweise einen Treffer gelandet.«
Bradshaw nickte.
»Im letzten Jahr wurde eine weibliche Leiche auf einem Golfplatz gefunden. Der Frau fehlte ein Arm. Es handelt sich um die Rechtsreferendarin Giselle Connelly aus Littlehampton – sechsundzwanzig, verheiratet …«
»Wollen Sie mir erzählen, dass wir es jetzt anstatt mit zwei mit drei ungelösten Mordfällen zu tun haben? Das ist nicht unbedingt das, was ich ›Fortschritt‹ nennen würde. Außerdem liegt Littlehampton gar nicht in unserem Zuständigkeitsbereich.«
»Sie wurde auf dem Golfplatz gefunden, und sie …«
»Genau. Sie. Das Opfer ist eine Frau. Die beiden Opfer, zwischen denen Sie bislang keinerlei Zusammenhang herstellen konnten, sind Männer. Ich dachte, Sie wissen, dass Serienmörder nach einem bestimmten Muster vorgehen und während einer Mordserie nicht plötzlich das Geschlecht ihrer Opfer wechseln, Sullivan. Wie ich schon sagte – die Tatsachen sprechen schlicht und ergreifend nicht für Ihre Serienmörder-Theorie.«
»Sir«, widersprach Francis mit festerer Stimme, was Rory beeindruckte, »die Frau hatte ein Sleeve-Tattoo auf dem abgehackten Arm, der übrigens bis heute nicht aufgetaucht ist.«
»Ein Was
»Eine Tätowierung, die den gesamten Arm umschließt. Ich weiß nicht, ob das Motiv relevant ist, aber es handelt sich um ein Biomechanik-Tattoo.«
»Was soll das sein?«
»Ein Biomechanik-Tattoo ist eine Tätowierung, die den Träger aussehen lässt wie einen Cyborg – einen Robotermenschen –, als sei unter der Haut eine Maschine.«
Der Chef klang, als habe er sich umfassende Fachkenntnisse angeeignet. Hatte er etwa noch mehr Zeit mit Marni Mullins verbracht?
»Großer Gott!« Bradshaw verdrehte die Augen. »Und das bei einer Rechtsreferendarin
»Der Punkt ist, dass alle drei Opfer – Evan Armstrong, Jem Walsh und jetzt auch Giselle Connelly, die übrigens mehrere Monate vor den beiden umgebracht wurde – Tätowierungen hatten, die den Leichen fehlten. Obwohl wir nicht damit rechnen können, die entfernte Hautpartie von Evans wiederzufinden, ist es durchaus möglich, dass der Schädel und der Arm von Walsh und Connelly wiederauftauchen – der Täter muss die Knochen schließlich irgendwo loswerden.«
»Daran glaube ich keine Sekunde.« Bradshaw schüttelte den Kopf. »Mit Ihnen geht die Fantasie durch, Sullivan. Die Sache mit den Tätowierungen ist reiner Zufall. Der Mord an der Frau hat nichts mit den beiden aktuellen Fällen zu tun, und ehrlich gesagt kann ich auch dort keine Verbindung erkennen.« Er schob seinen Schreibtischstuhl zurück, als wolle er darauf hinweisen, dass das Meeting beendet war. »Sie haben es mit drei verschiedenen Tötungsdelikten zu tun, die nicht miteinander in Zusammenhang stehen, und Sie können es sich nicht leisten, noch mehr Zeit darauf zu verschwenden, krampfhaft nach einer Verbindung zu suchen. Das ist vergeudete Energie, die Sie besser in die einzelnen Fälle investieren sollten.«
»Eine Verbindung nachzuweisen, würde uns zu der Spur verhelfen, die wir so dringend brauchen«, entgegnete Sullivan.
»Vergessen Sie’s. Rory, worauf konnten Sie das Team sonst noch ansetzen?«
Rory räusperte sich und wollte soeben zu reden beginnen, als ihm der DI zuvorkam.
»Sir, ich denke, Sie sollten sich das einmal ansehen.« Francis zog einen Katalog aus seiner Dokumententasche. »Die verschwundenen Tätowierungen stammen allesamt von Künstlern, die bei dieser Ausstellung mitgemacht haben.«
Bradshaw warf einen Blick auf den Katalog, den Sullivan ihm entgegenstreckte.
Was zum Teufel war das denn? Warum hatte er das nicht zu Gesicht bekommen?
Rory verrenkte sich den Hals, um herauszufinden, was Bradshaw da betrachtete.
»Das hier ist unsere potenzielle Verbindung, so dürftig sie auf den ersten Blick erscheinen mag«, fuhr der DI fort. »Selbstverständlich baue ich nicht die gesamten Ermittlungen auf diese Prämisse auf, aber ich denke, wir dürfen sie nicht außer Acht lassen. Momentan lasse ich das Team Freunde und Kollegen sowohl von Evan Armstrong als auch von Jem Walsh befragen. Bei beiden liegen keinerlei Hinweise auf kriminelle Aktivitäten vor, aber das muss ja nicht zwangsläufig etwas bedeuten.«
»Dann haben Sie also nichts weiter gefunden«, schnaubte Bradshaw und warf den Katalog auf die Schreibtischplatte. Er hatte definitiv das Interesse verloren. Rory beugte sich vor, um ihn an sich zu nehmen. Es war nicht schwer zu erraten, woher er ihn hatte – der Chef hatte sich mit Marni Mullins getroffen. Er fragte sich, wie Thierry Mullins das gefallen würde. Das geschiedene Paar schien sich noch immer nahezustehen.
»Wir haben beide Familien wegen Armstrongs und Walshs Freunden und Gewohnheiten befragt. Burton und Hollins kümmern sich um die Freunde, Hitchins und ich haben die Pubs aufgesucht, in denen sie regelmäßig verkehrten. Heute werden Hitchins und Hollins an die jeweiligen Arbeitsplätze fahren, und Angie hat vor, einen Blick auf den Connelly-Fall zu werfen und die Social-Media-Feeds aller drei Opfer zu überprüfen«, sagte er an den DCI gewandt.
Bradshaw schnaubte erneut, als auch er Giselly Connelly erwähnte. »Und was ist mit dem fehlenden Kopf?«
»Bislang hat Rose noch nichts Konkretes für uns, aber sie lässt mit Hundestaffeln den gesamten Strand absuchen«, berichtete Rory. »Die Hunde haben Walshs Witterung auf einem Parkplatz am Madeira Drive aufgenommen, keine hundert Meter östlich vom Pier, und sind ihr bis runter an den Strand gefolgt. Offenbar ist sie dort am stärksten, wo wir den Leichnam gefunden haben. Die Hunde haben die Spur bis zum Wasser verfolgt, was nahelegt, dass der Kopf ins Meer geworfen wurde. Allerdings konnten wir bei Ebbe nichts finden, weshalb ich Taucher weiter rausgeschickt habe, die den entsprechenden Strömungen gefolgt sind, aber auch sie haben nichts entdeckt. Sollte der Kopf wirklich im Wasser treiben, haben wir meines Erachtens nur eine sehr geringe Chance, ihn wiederzufinden.«
»Würde der denn nicht nach ein paar Wochen in Selsey Bill angespült werden?«, überlegte Bradshaw.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Küstenwache konnte mir einen Tidenplan geben, aber sie kann natürlich auch keine genauen Berechnungen anstellen, wie sich so ein abgetrennter Kopf auf dem Meeresboden verhält. Diesbezügliche Vergleichsexperimente sind nur äußerst schwer durchzuführen.«
»Mit anderen Worten: Es gibt keinerlei Fortschritte. Was haben Sie als Nächstes vor? Mackay?«
»Wie ich schon sagte, Sir, wir werden die Kollegen der Opfer befragen und Hintergrundinformationen über Giselle Connelly zusammentragen.«
»Keine identifizierten Fahrzeuge im Umfeld der Leichenfundorte?«
»Die Nummernschilder sind jeweils nur zum Teil lesbar. Wir arbeiten daran.«
Bradshaw runzelte die Stirn. Für ihn ging es nie schnell genug. »Sullivan? Was haben Sie vor?«
»Ich werde noch einmal mit Ishikawa Iwao reden. Er war der Kurator der Ausstellung. Ich möchte herausfinden, wie er über die drei Morde denkt.«
»Wissen Sie nichts Besseres mit Ihrer Zeit anzufangen? Ich sagte Ihnen doch, dass wir diesen Blickwinkel außer Acht lassen wollen.«
Der Chef bekam einfach nicht den richtigen Draht zu seinem Vorgesetzten – eine Fertigkeit, die bei der Polizeiarbeit unerlässlich war.
»Sir, es handelt sich um eine glaubwürdige Theorie, und zu diesem Zeitpunkt ist sie die einzige. Ich möchte, dass wir sie weiterverfolgen, damit ich sie zumindest widerlegen oder aber feststellen kann, dass tatsächlich etwas dran ist.«
»Und dieser Ishikawa kann dazu beitragen?«
»Ich denke schon.«
Es entstand ein unbehagliches Schweigen.
»Das ist der Kerl, der Katzen tätowiert, richtig?«, fragte Rory, der sowohl die Stille füllen als auch eine Feststellung machen wollte.
Bradshaws Augenbrauen verschwanden beinahe in seinem Haaransatz.
»Ist das legal?«, erkundigte er sich. »Haben Sie den Tierschutz informiert?«
Francis schüttelte den Kopf. Daran hatte er gar nicht gedacht, aber natürlich hatte Bradshaw recht: Vermutlich würden sie das melden müssen.
»Tut mir leid«, sagte er. »Rory, könnten Sie bitte Tweedledum oder Tweedledee ausrichten, sie sollen herausfinden, ob es legal ist, Tiere zu tätowieren?«
Bradshaw atmete hörbar ein, seine Nasenlöcher wurden schmal. »Sie hätten ihn zur Befragung ins Präsidium bestellen sollen, Sullivan.«
»Wegen der Katze?«
»Nein, wegen der gottverdammten Morde, Sie Idiot!«
»Tierquälerei«, sagte Rory. »Damit fangen viele von diesen Scheißkerlen an.«
»Bestellen Sie ihn ein!«
Bradshaws Tonfall erlaubte keine Widerrede, aber Francis setzte sich darüber hinweg.
»Es deutet absolut nichts darauf hin, dass er etwas mit der Sache zu tun hat. Ich hielt es für richtig, ein informelles Gespräch mit ihm zu führen und mir ein Bild zu machen, ohne sein Misstrauen zu erregen.«
Er hätte den Mund besser nicht aufgemacht, aber nun war es zu spät.
»Ich sagte, Sie sollen ihn einbestellen«, knurrte Bradshaw.
»Ich übernehme das, Sir, gleich heute Nachmittag«, ließ sich Rory vernehmen, dem nicht entging, dass Sullivan frustriert die Hände zu Fäusten ballte.
»Halten Sie sich da raus, Rory.« Francis stieß verärgert die Luft aus. »Sir, wir haben womöglich nur eine Chance, ihn offiziell zu befragen. Die sollten wir uns aufheben und nutzen, wenn wir konkrete Fragen haben, die konkrete Antworten erfordern.«
Francis Sullivan hatte gerade eben Nein zu einer dienstlichen Anweisung gesagt. Das Resultat war unschön. Bradshaw zog die Augenbrauen zusammen, seine Wangen röteten sich. Er stand auf, um zu zeigen, dass die Zusammenkunft beendet war. Rory tat es ihm in Windeseile nach.
»Sie schaffen diesen Ishikawa unverzüglich in mein Büro. Das ist ein Befehl, Sullivan. Sie haben es vielleicht bis zum Inspector geschafft, aber das sollte Ihnen nicht zu Kopf steigen.«
Francis erwiderte nichts. Stattdessen stand er ebenfalls auf und stürmte aus dem Büro. Mutig, aber töricht.
»Keine Sorge, ich kümmere mich darum, Sir«, sagte Rory und schloss leise die Tür hinter sich.