24
Francis
Ishikawa Iwao verbeugte sich vor Francis, als er, gefolgt von Rory, den Vernehmungsraum betrat. Er strahlte Selbstbewusstsein aus, stellte Francis fest und verbeugte sich ebenfalls. Diesmal trug der Tätowierer keinen Kimono, sondern eine ungebührlich enge, aber teuer aussehende Jeans und ein hellblaues Oxford-Hemd, das seine beeindruckenden Muskeln betonte. Es war nicht zu übersehen, dass Ishikawa Iwao auf seinen Körper achtete, und Francis trat unweigerlich das Bild von dem Japaner beim Kampfsporttraining vor Augen.
Ethnisches Profiling. Hör sofort auf damit, Sullivan!
»Danke, dass Sie zu uns gekommen sind, Mr. Ishikawa«, sagte Francis. »Das hier ist mein Kollege, Sergeant Mackay.«
»Sie müssen sich nicht bedanken. Mir blieb schließlich keine andere Wahl«, sagte Iwao. Er ignorierte Rory und starrte Francis weiterhin finster an. »Was müssen Sie denn mit mir besprechen?«
»Bitte setzen Sie sich.« Francis bot ihm einen Stuhl an.
Rory und er nahmen auf der anderen Seite des Vernehmungstisches Platz. Iwao schien zu zögern, doch als Francis ihm ein weiteres Mal zunickte, zog er sich einen Stuhl heran. Er setzte sich kerzengerade hin, die Knie geschlossen, die Füße parallel gestellt, die Hände auf den Oberschenkeln, und sah die beiden Polizisten erwartungsvoll an.
»Ich werde dieses Gespräch aufnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben«, teilte Francis ihm mit und schaltete das Aufnahmegerät an.
»Dann erwarte ich, dass Sie der Kanzlei meines Anwalts eine Kopie dieser Aufnahme zukommen lassen«, sagte Iwao. »Ich würde außerdem zunächst gern wissen, warum Sie das für nötig halten und welche Rolle ich bei dem Ganzen spiele. Verdächtigen Sie mich, ein Verbrechen begangen zu haben?«
»Ihr Anwalt kann sich selbstverständlich wegen einer Kopie an uns wenden«, sagte Rory und schrieb etwas in sein Notizbuch.
»Ihre Rolle ist die eines Zeugen, der uns hilft, unsere Fragen zu beantworten«, erläuterte Francis. »Wir informieren Sie umgehend, wenn sich dies ändern sollte.«
Iwao runzelte die Stirn. »Dann gibt es keinen Grund für Sie, dieses Gespräch aufzuzeichnen.«
»Na schön«, räumte Francis ein. »Wenn Sie es so wollen.«
Iwao schien seine Rechte zu kennen.
Während sie auf Iwao warteten, hatten sich Francis und Rory eine Strategie zurechtgelegt. Anstatt sich vorsichtig mit Fragen über die Tattoo-Ausstellung und die daran beteiligten Tätowierer vorzutasten, wollten sie das Pferd sozusagen von hinten aufzäumen und mit den Morden und seinen Alibis für die entsprechenden Zeitfenster beginnen.
»Können Sie mir sagen, wo genau Sie am Sonntag, dem 28. Mai, zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens waren?«
Iwao schien verwirrt.
»Können Sie das Datum bitte noch einmal wiederholen?«
»Sonntag, achtundzwanzigster Mai. Der letzte Sonntag.«
»Selbstverständlich«, sagte Iwao, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens? Da war ich vermutlich im Bett.«
»Sie sind sich nicht sicher?«
»Ich war im Bett, oder ich habe in meinem Atelier gezeichnet. Ich zeichne an den meisten Abenden, und für gewöhnlich mache ich zwischen Mitternacht und zwei Uhr Schluss. Ich habe meine Wohnung Samstagnacht beziehungsweise Sonntagmorgen nicht verlassen.« Er zuckte die Achseln. »Ich war also entweder in meinem Atelier oder im Schlafzimmer.«
»Kann das irgendwer bestätigen?«
»Ich lebe allein.«
Rory und Francis tauschten schnelle Blicke. Als Alibi taugte diese Auskunft gar nichts, trotzdem klang es so, als würde Ishikawa Iwao die Wahrheit sagen.
»Was ist mit Dienstagnacht, zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens?«
»Dasselbe.«
»Sie waren wieder allein zu Hause?«
Iwao nickte. »Ja. Die ganze Nacht.« Seine braunen Augen hielten Francis’ prüfendem Blick stand. »Ich bin mir sicher, dass Sie anhand meines Smartphones ein Bewegungsprofil erstellen können, falls das nötig sein sollte.«
»Die Leute stecken nicht immer ihre Handys ein, wenn sie das Haus verlassen«, entgegnete Francis, der sich ebenfalls nicht aus dem Konzept bringen ließ.
»Ich schon«, sagte Iwao.
Francis machte sich im Geiste eine Notiz, einen richterlichen Beschluss für Iwaos Mobilfunkdaten zu besorgen.
Rory hüstelte, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Erzählen Sie uns von Ihrer Katze. Der mit den Tattoos. Ist Ihnen denn nie der Gedanke gekommen, dass es grausam ist, ein Tier zu tätowieren, und außerdem gegen das Gesetz verstößt?«
»Ich habe zwei tätowierte Katzen«, sagte Iwao und verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Sie waren bereits tätowiert, als ich sie aus Japan mitgebracht habe.«
»Und Sie halten das für vertretbar?«
»Ich habe die beiden aus dem Tierheim. Ich würde so etwas nie mit einem Tier machen – mir ist klar, dass Tiere anders als Menschen ihre Einwilligung nicht geben können. Ich würde niemals jemanden tätowieren, der das nicht aus freien Stücken wünscht.«
Francis spürte sein Handy, das in der Tasche vibrierte, zog es hervor und warf unter dem Tisch einen Blick darauf. Ein Anruf von Marni Mullins. Er steckte es wieder ein.
»Können Sie beweisen, dass die Katzen schon tätowiert waren, als sie zu Ihnen kamen?« Rory gebärdete sich wie ein Terrier, der eine Ratte gerochen hatte.
»Ja, ich bin mir sicher, dass sich Fotos in den Dateien finden, die mir das Tierheim vor der Adoption geschickt hat.«
»Trotzdem müssen wir Ihre Katzen der RSPCA
melden.« Rory ließ nicht locker.
Iwao starrte ihn ausdruckslos an.
Francis spürte, dass die Befragung ein fruchtloses Unterfangen bleiben würde, wenn er nicht bald etwas unternahm, also schob er Marnis Ausstellungskatalog über den Tisch zu Iwao.
Der Tätowierer warf einen Blick darauf, erkannte, was vor ihm lag, machte sich aber nicht die Mühe, den Katalog zur Hand zu nehmen.
»Sie glauben, das Ganze hat etwas mit meiner Ausstellung zu tun?«, erkundigte er sich stattdessen.
Francis’ Handy vibrierte erneut. Wieder Marni Mullins. Sie würde sich gedulden müssen.
»Warum haben Sie die Ausstellung nicht erwähnt, als ich Sie mit Miss Mullins aufgesucht habe?«, wollte Francis wissen.
Iwaos Augenbrauen schossen in die Höhe. »Warum hätte ich das tun sollen? Sie haben mich nach einem speziellen Tattoo gefragt. Die Ausstellung schien mir nicht relevant zu sein, außerdem habe ich Ihnen den Katalog gezeigt.«
»Wir glauben, es könnte eine Verbindung bestehen.«
»Zwischen der Ausstellung und was genau?«
»Einer Reihe von Morden.«
Francis konnte in Iawos Ausdruck die Gedanken förmlich sehen, die sich in dessen Kopf in Gang setzten. Die Fragen nach seinen Alibis, die Fragen nach seinen Katzen, eine mögliche Verbindung zwischen den Opfern. Der Tätowierer starrte den DI
ungläubig an.
»Sie glauben, dass ich
etwas damit zu tun habe?«
»Sie waren derjenige, der mir erzählt hat, dass man die Tätowierungen der Yakuza nach deren Tod entfernt und präpariert.«
Iwao schob seinen Stuhl ein Stück zurück und verschränkte Arme und Beine. Eine typische Verteidigungshaltung. »Ich will meinen Anwalt sprechen. Bis dahin sage ich gar nichts mehr.«
Francis’ Handy vibrierte beharrlich.
Er trat hinaus auf den Gang und wählte Marnis Nummer.
»Sie verdammter Scheißkerl«, fauchte sie, sobald die Verbindung zustande gekommen war. »Ich habe Ihnen vertraut, Sie meinem Freund vorgestellt, und Sie verhaften ihn?«
»Marni …«
»Erst Thierry und jetzt Iwao? Was zum Teufel stimmt nicht mit Ihnen? Können Sie keine eigenen Verdächtigen finden?«
»Es war nicht meine Idee, ihn zu vernehmen.«
»Das interessiert mich einen Scheiß! Ich habe Iwaos Anwalt angerufen, er sollte jede Minute eintreffen. Der Mann würde keiner Fliege etwas zuleide tun – er ist praktizierender Buddhist. Ich schlage vor, Sie lassen ihn laufen und konzentrieren sich zur Abwechslung mal auf die Suche nach dem richtigen Mörder! Außerdem sollten Sie Menschen mit Tätowierungen von den entsprechenden Künstlern warnen, dass da draußen ein Mörder sein Unwesen treibt, anstatt unschuldige Leute zu verhören!«
Sie legte auf. Er hatte seinen einzigen Kontakt zur Tattoo-Szene verloren, dabei stand für ihn immer mehr fest, dass die Morde etwas mit den Tätowierungen der Opfer zu tun hatten.
Rory trat zu ihm.
»Iwaos Anwalt ist am Empfang«, sagte er. »Keine Ahnung, wie der so schnell hier auftauchen konnte.«
»Buschfunk – genauer gesagt: Marni Mullins.«
Eine Stunde später standen sie wieder in Bradshaws Büro, nachdem sie Iwao und seinen Anwalt zum Ausgang begleitet hatten.
Bradshaw war außer sich. »Da haben wir einen Verdächtigen, und Sie lassen ihn laufen.«
»Es gab keinen Grund, ihn festzuhalten«, sagte Francis.
»Hatte er ein Alibi für die Tatzeiten?«
»Nein, aber …«
»Also ist er nach wie vor verdächtig?«
»Im Grunde genommen ja, Sir. Allerdings glaube ich nicht, dass er es getan hat.«
Bradshaw verdrehte die Augen. »Der Herr bewahre uns vor Cops, die ihrem Bauchgefühl folgen.«
»Wir können ihn mit keinem der Morde in Verbindung bringen, auch nicht mit dem an Giselle Connelly.«
Ja, der Kerl war seltsam, aber machte ihn das gleich zum Mörder?
»Das ist richtig, Sir«, pflichtete Rory ihm bei. »Außerdem hat er einen gerissenen Anwalt. Mit dem sollte man sich besser nicht anlegen.«
»Und jetzt?«, fragte Bradshaw. »Jetzt fangen wir wieder bei null an, stimmt’s?«
»Sir, ich möchte eine Pressekonferenz einberufen«, meldete sich Francis zu Wort. »Wir müssen die Bevölkerung warnen, dass ein Mörder auf freiem Fuß ist, der es auf Menschen mit Tätowierungen bestimmter Tattoo-Künstler abgesehen hat.«
»Das werden Sie ganz sicher nicht tun.«
»Sir?«
»Wollen Sie den Mörder wissen lassen, dass wir ihm auf der Spur sind, noch dazu mit einer derart unausgegorenen Theorie? Selbst wenn tatsächlich etwas dran sein sollte, würde eine Pressekonferenz doch nur dafür sorgen, dass er in Deckung geht und wir alles verlieren, was wir bislang haben.«
Was haben wir denn bislang?
»Er hat zwei Menschen innerhalb von einer Woche getötet.«
»Und es ist durchaus möglich, dass er bereits den nächsten Mord plant«, fügte Rory hinzu. »Ich denke, der DI
hat recht: Es wäre gut, die Öffentlichkeit zu warnen.«
»Ich habe Sie nicht nach Ihrer verdammten Meinung gefragt, Mackay. Diese ganze Serienmörder-Theorie ist doch absolut vage. Ich bin nicht davon überzeugt.«
»Sie ist genauso wahrscheinlich wie die, dass wir es mit drei verschiedenen Morden zu tun haben, Sir.«
»Nun, vergessen Sie die verfluchten Theorien und ziehen Sie los, um Beweise zu finden. Sie müssen auf etwas stoßen – irgendetwas –, bevor ein weiterer Mord geschieht.«
»Herrgott«, murmelte Rory, als sie Bradshaws Büro verließen. »Sie wissen, wen er verantwortlich machen wird, wenn noch jemand stirbt?«
Das Zucken an Francis Kieferpartie sagte alles.