25
Marni
»Du steckst das weg wie ein Profi!«
Marni benutzte ihre Lieblingsflunkerei, als sie merkte, wie viel Mühe es Steve kostete, nicht unter den Einstichen ihrer Tätowiernadeln zusammenzuzucken. Sie stellte fest, dass sie leicht aggressiv war, und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Sie war stinkwütend über das, was passiert war. Aber das war nicht Steves Schuld. Es war ihre dritte Sitzung, und sie arbeitete an einer Staude von Chrysanthemen, die den Hintergrund für das Sleeve-Tattoo eines Tigers im japanischen Stil bildete. Es würde noch mindestens einer weiteren Sitzung bedürfen, bis sie damit fertig wäre.
»Na schön, machen wir Schluss für heute. Ich habe diese Stelle fertig, du kannst dann in ein, zwei Wochen wiederkommen, damit wir den Rest stechen können.«
Steve setzte sich auf der Massagebank auf, schwang die Beine über die Kante und ließ die Schultern kreisen, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen.
»Danke, Süße«, sagte er und betrachtete mit einem erfreuten Lächeln Marnis Werk.
Marni packte ihr Tattoo-Eisen ein, legte die benutzten Nadeln in den Entsorgungsbehälter für scharfe und spitze Instrumente und zog den Einwegplastikbezug ab, der die Massagebank vor Blutspritzern schützte. Als sie Steves Arm mit Frischhaltefolie umwickelte, fragte sie sich, wie alt ihr Kunde wohl sein mochte – er war fast kahl, aber seine Gesichtszüge wirkten noch immer jugendlich, und seine Augen blitzten hinter den dicken Brillengläsern. Er kam ihr ziemlich alt vor für sein erstes Tattoo, aber heutzutage ließen sich Menschen aller Altersgruppen tätowieren.
»Bar?«, fragte er.
»Bitte«, sagte Marni. »Das waren drei Stunden, fast genau auf die Minute.«
Während Steve das Geld abzählte, zog Marni die Latexhandschuhe aus und wusch sich die Hände. Es war ein langer Tag gewesen, und ihre Wut über Iwaos Vorladung ins Präsidium hatte sie nervös werden lassen. Was zum Teufel spielte Francis Sullivan für ein Spiel? Er konnte doch nicht im Ernst davon ausgehen, dass Iwao etwas mit den Morden zu tun hatte. Dass Iwao jemanden ermordete, war noch unwahrscheinlicher, als dass Thierry die Hände im Spiel hatte. Sehr viel unwahrscheinlicher, um ehrlich zu sein. Sie machte sich Sorgen wegen Thierry …
Es klingelte an der Ladentür. Ihr Magen verknotete sich. Verdammt, sie hatte gedacht, sie hätte abgeschlossen, als sie anfing, Steve zu tätowieren. Vorsichtig spähte sie aus der Tür des Hinterzimmers und sah Francis Sullivan auf die Ladentheke zugehen. Sein Anblick trug nicht dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern. Wollte er jetzt etwa sie verhaften?
»Was wollen Sie?«, fragte sie, ohne ihn zu begrüßen.
Hinter ihr schob Steve vorsichtig seinen frisch tätowierten Arm in den Jackenärmel. Francis blieb vor der Tür zum Hinterzimmer stehen und warf einen Blick hinein.
»Ich kann warten, bis Sie fertig sind«, sagte er.
»Steve, das ist Detective Inspector Frank Sullivan. Frank, das ist Steve, einer meiner Lieblingskunden.« Sie würde alles tun, um ihm eins reinzudrücken, und stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, dass er das Gesicht verzog, als sie ihn Frank nannte.
»Hi, Frank«, sagte Steve und streckte die Hand aus.
Francis Sullivan nahm sie, als wäre sie etwas, was die Katze angeschleppt hatte.
»Sie sind dieser Polizist, nicht wahr? Der, der den Mord an dem tätowierten Kerl untersucht.«
Francis nickte kaum merklich.
»Ich kann nicht glauben, dass Marni die Leiche gefunden hat«, fuhr Steve fort. »Haben Sie schon jemanden in Verdacht?«
»Nur die Falschen«, antwortete Marni an Francis’ Stelle bissig, während sie weiter aufräumte. Wann zum Teufel würde die Polizei endlich den Richtigen finden?
»In der Zeitung stand, die Morde hätten etwas mit den Tätowierungen der Opfer zu tun. Stimmt das?«
Francis warf Marni einen gequälten Blick zu.
Sie ignorierte ihn.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Francis zu Steve, »würde ich jetzt gern mit Miss Mullins reden.«
»Verstehe. Tut mir leid.« Steve wandte sich zum Gehen.
»Denk an die Nachbehandlung, Steve«, ermahnte ihn Marni, als er die Ladentür öffnete.
Sobald er weg war, ließ Marni die Utensilien sinken, die sie gerade wegräumte, und wandte sich an Francis.
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Frank. Was Sie getan haben, war ungeheuerlich.«
»Ich möchte mit Ihnen über etwas anderes reden.«
»Warum sollte ich noch mit Ihnen reden?« Sie drehte ihm den Rücken zu und fing an, die Deckel auf die Plastiktintenflaschen zu schrauben.
»Marni, in Brighton wurden letzte Woche zwei Menschen umgebracht. Es gibt Grund zu der Annahme, dass ihre Ermordung etwas mit ihren Tattoos zu tun hat.«
»Ach, dann glauben Sie jetzt also an meine Theorie?«, fragte Marni und funkelte ihn über die Schulter hinweg an. »Und das gibt Ihnen das Recht, meine Leute mit Füßen zu treten? Sie laden sie ohne jeden Grund vor, und wenn sie Pech haben, verhaften Sie sie auch noch.«
Francis seufzte. »Ich habe bislang niemanden verhaftet. Aber wir brauchen Informationen, deshalb muss ich die Menschen befragen, von denen ich annehme, dass sie mir helfen können. Und zu diesen Menschen gehören auch Sie.«
»Sie wollen Unterstützung – von mir, von uns –, und dann gehen Sie so mit uns um? Mit einem derart rücksichtslosen Verhalten verprellen Sie uns nur. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Thierry, Iwao oder ich etwas mit den Morden zu tun haben?«
»Ich darf keine Möglichkeit außer Acht lassen.«
Marni knallte eine Flasche mit Desinfektionsmittel auf ihre Arbeitsplatte. War sie wütend auf ihn, oder hatte sie selbst einen Verdacht? Vielleicht war es auch Angst, die sie so reagieren ließ.
»Sie sollten die Leute warnen – die Erwähnung einer tätowierten Leiche genügt da nicht. Wenn dort draußen tatsächlich ein Killer unterwegs ist, der es auf Personen mit Tattoos abgesehen hat, sollten sie das zumindest wissen. Ich habe diesbezüglich nichts in den Zeitungen gelesen, und im Fernsehen kam auch nichts. Warum nicht?«
»Mein Boss …«
»Ihr Boss ? Ich dachte, Sie seien der leitende Ermittler.«
Er zuckte zusammen. »Ich arbeite nicht in einem Vakuum, Marni. Bei einem Fall wie diesem gilt es, gewisse Erwartungen zu erfüllen.«
»Polizeiarbeit nach Schema F. Verstehe. Das kenne ich schon.« Es war in Frankreich passiert, und es passierte hier genauso. Immer schön den Weg des geringsten Widerstands gehen.
Sie hörte endlich auf, die Sachen wegzuräumen, drehte sich um und sah ihm direkt ins Gesicht.
Er wirkte zornig.
»Sie kapieren es nicht. Sie wissen doch gar nicht, unter welchem Druck ich stehe, schnelle Ergebnisse zu bringen. Und die Presse klebt mir auch noch an den Fersen.«
»Es gehört zu Ihrem Job, mit Druck klarzukommen. Ja, bringen Sie Ergebnisse und sorgen Sie verdammt noch mal dafür, dass keine weiteren Menschen umgebracht werden – zum Beispiel dadurch, dass Sie sie warnen.«
»Das kann ich nicht machen. Ich darf keine Panik auslösen.«
»Wenn Sie es nicht tun, werde ich mit Tom Fitz reden. Er wird einen entsprechenden Artikel bringen. Bislang hat er nicht mehr als die Basisfakten in der Hand, und ich weiß, dass er darauf brennt, seinen Lesern Futter zu geben.«
Francis seufzte. »Halten Sie sich von ihm fern, Marni. Bitte. Lassen Sie die Polizei entscheiden, welche Informationen an die Öffentlichkeit gehen. Es brodelt ohnehin schon in der Gerüchteküche.«
»Dann sollten Sie schleunigst etwas unternehmen«, stellte sie klar, aber er reagierte nicht. Stattdessen setzte er sich auf einen klapprigen Holzstuhl in einer Ecke des Studios und rieb sich mit beiden Händen die Augen. Die Müdigkeit und der Stress machten ihm zu schaffen, aber Marnis Mitleid hielt sich in Grenzen. Sie hatte gesehen, was passieren konnte, wenn die Polizei auf schnelle, einfache Erfolge aus war. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, wenn Fakten falsch interpretiert wurden und im schlimmsten Fall zu einem Justizirrtum führten.
»Wie wär’s mit einem Kaffee?«, fragte er.
In einem kleinen Coffeeshop zwei Türen weiter setzten sie sich an einen Ecktisch und bestellten – einen schwarzen Americano für ihn, einen Triple Macchiato für sie.
»Also, was wollen Sie mich fragen?« Marni gab sich keine Mühe, die Feindseligkeit in ihrer Stimme zu verbergen.
»Verraten Sie mir, woher Sie wissen, dass Iwao es nicht war.«
Marni schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht, Frank. Sie müssen beweisen, wer es getan hat. Es ist nicht meine Aufgabe, Entlastungsmaterial für die zusammenzutragen, die es nicht waren. In der Hinsicht kann ich Ihnen ohnehin nicht helfen – ich kenne Iwao, daher weiß ich, dass er nichts mit der Sache zu tun hat. Er ist gar nicht fähig zu so etwas.«
»Thierry dagegen schon, oder?«
»Sie können mich mal.«
Sie stand auf.
»Marni!« Die Verärgerung in seiner Stimme führte dazu, dass sie sich zögernd wieder setzte. »Ich behaupte nicht, dass er es getan hat, trotzdem muss ich mehr über ihn wissen. Laut unserer Akten wurde er wegen Drogendealerei und schwerer Körperverletzung verurteilt. Erzählen Sie mir etwas darüber.«
»Die Dealerei ist selbsterklärend. Das war nie eine große Nummer, immer nur ein bisschen nebenbei, meistens im Studio. Das Geld war knapp, als Alex zur Welt kam. Ich konnte mehrere Monate lang nicht arbeiten.«
Francis nickte. Das verstand er.
»Er wurde ein paarmal erwischt. Das ist alles.«
Sie würde ihm nicht auf die Nase binden, dass das Dealen einer der Gründe gewesen war, warum sie sich von Thierry getrennt hatte. Einer von vielen Gründen. Zum Beispiel die anderen Frauen. Und die Wutausbrüche in betrunkenem Zustand, die sie etwas zu oft an Paul erinnerten. Der Teil ihres Lebens ging Francis Sullivan nichts an.
»Und was ist mit der schweren Körperverletzung?«
»Er hat im Heart & Hand einen Typen zusammengeschlagen, aber das ist schon lange her.«
»Warum?«
Marni nippte an ihrem kalten Kaffee, um Zeit zu gewinnen, dann antwortete sie: »Es stand etwas in den Zeitungen, und dieser Kerl ist deshalb auf uns losgegangen.«
»Was stand in den Zeitungen? Etwas über Thierrys Verurteilung wegen der Dealerei?«
»Nein. Etwas über mich. Der Kerl hat ein paar ziemlich unangebrachte Bemerkungen abgelassen – deshalb hat Thierry ihn zusammengeschlagen.«
»Und das war alles?«
»Das war alles.« Marni wünschte sich verzweifelt, sie könnten das Thema wechseln. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, dass Francis Sullivan in ihrer Vergangenheit herumschnüffelte. Oder in der von Thierry.
Francis trank seinen Kaffee aus und schwieg für ein paar Minuten, dann sagte er: »Marni, kann ich Sie etwas fragen?«
»Klar.« Nein.
»Es geht auch nicht um Thierry.«
»Schießen Sie los.« Hören Sie bloß auf.
»Sie waren mal im Gefängnis, stimmt’s?«
Das war genau die Sache, über die Marni ganz bestimmt nicht hatte reden wollen. »Ja.«
»Ich kann in unserer Datenbank nichts darüber finden.«
Er konnte förmlich sehen, wie sie die Stacheln aufstellte.
»Das war damals, als ich in Frankreich gelebt habe.«
»Das erklärt, warum bei uns nichts gespeichert ist. Was haben Sie angestellt?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein, aber …«
»Ich habe einen Mann niedergestochen.«
Erinnerungen zogen vor ihrem inneren Auge auf. Das matte Schimmern der Klinge. Das Blut, so viel und dann noch viel mehr. Sirenen, die in der frühmorgendlichen Stille heulten. Polizisten, die so schnell Französisch sprachen, dass sie nichts verstand. Sie rang nach Atem, dann fand sie ihre Stimme wieder.
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe? Ich habe einen Mann niedergestochen.«
Die Farbe war aus Francis’ Gesicht gewichen. Er sah aus wie jemand, der sich wünschte, er könnte seine Frage zurücknehmen.