26
Francis
Francis wusste, dass er beten sollte, aber ihm drehte sich immer noch der Kopf. Marni Mullins hatte einen Mann niedergestochen.
Sie hatte nicht viel mehr dazu gesagt, und das, was sie gesagt hatte, ergab keinen Sinn. Er vermutete, sie habe aus Notwehr gehandelt, aber sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass das nicht der Fall war – und schließlich war sie dafür auch ins Gefängnis gewandert. Er wünschte sich händeringend weitere Informationen, aber die würde er wohl kaum bekommen. Wen hatte sie niedergestochen? Warum? Unter welchen Umständen?
Er versuchte erneut, sich aufs Gebet zu konzentrieren, aber das gelang ihm nur für einen kurzen Augenblick.
Schließlich gab er auf, rappelte sich hoch und setzte sich neben Rory auf die harte Holzbank. Sie hatten in der hintersten Reihe der St Peter’s Church Platz genommen. Obwohl er nicht dieser Gemeinde angehörte, kannte Francis die Kirche gut und hatte hier schon mehrfach an Gottesdiensten teilgenommen. Rory rutschte unbehaglich auf der Bank neben ihm hin und her. Es lag auf der Hand, dass er kein Kirchgänger war. Nichtsdestotrotz gehörten Begräbnisse und Gedenkgottesdienste zu ihrem Job. Die Mordkommission musste der Familie des Opfers Respekt zollen – und die Gelegenheit nutzen, um herauszufinden, wer sonst noch bei der Zeremonie anwesend war.
Die St Peter’s Church war ein gewaltiges neugotisches Bauwerk mit hoch aufragenden Säulen und einem atemberaubenden Buntglasfenster am oberen Ende des Hauptschiffs, entworfen von dem bekannten Architekten und Baumeister Charles Barry. Francis liebte es, und wenn er sich nicht aus Loyalität Pater William gegenüber verpflichtet gefühlt hätte, in St Catherine zu bleiben, wäre er in diese Gemeinde gewechselt. Da es sich um einen Gedenkgottesdienst handelte, gab es keinen Sarg – stattdessen stand ein vergrößertes Foto von Evan Armstrong auf einer Staffelei auf den Altarstufen mit ausgefallenen Blumenarrangements zu beiden Seiten. Die Gottesdienstbesucher schlurften schweigend daran vorbei, und trotz des Sonnenlichts, das durch die Fenster einfiel, war die Stimmung düster.
»Was schätzen Sie – wie hoch ist der Prozentsatz der Mörder, die zur Bestattung ihrer Opfer gehen?«, flüsterte Rory hinter vorgehaltener Hand.
In Anbetracht dessen, dass die meisten Täter ihre Opfer gut kannten oder ihnen sogar nahestanden, vermutlich sehr hoch. Francis drückte einen Finger auf die Lippen und konzentrierte sich darauf, Evan Armstrongs Familie und Freunde zu beobachten. Dave und Sharon Armstrong saßen in der ersten Reihe, zusammen mit einer jungen Frau, bei der es sich vermutlich um Evans Schwester handelte. Keiner von ihnen war schwarz gekleidet. Dave trug einen marineblauen Anzug, der dunkel genug für diesen Anlass war, Sharon dagegen hatte einen Mantel in einem strahlenden Magenta gewählt. Im Kontrast dazu wirkte ihr Gesicht farblos und verkniffen; ihre Falten schienen tiefer geworden zu sein, seit Francis ihr vor einer Woche zum ersten Mal begegnet war. Sie stützte sich schwer auf Daves Arm, als sie den kurzen Gang zwischen den Bankreihen entlanggingen, und er half ihr, sich wieder zu setzen, als ihre Beine nachzugeben drohten. Die Tochter, die lautlos in ein zerknülltes Taschentuch weinte, war ganz in Braun und Grün gekleidet, schmutzige braune Stiefel lugten unter ihrem rostfarbenen, knöchellangen Rock hervor. Sie sah aus, als hätte man sie bei der Gartenarbeit gestört. Francis war der festen Ansicht, dass man bei einem Anlass wie diesem schwarz tragen sollte – schwarze Kleidungsstücke fanden sich heutzutage in jedermanns Garderobe –, und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Armstrongs nicht sonderlich religiös waren.
Es bestand ganz offensichtlich eine Kluft zwischen Evans Verwandtschaft und seinen Freunden. Erstere schienen aus demselben Holz geschnitzt zu sein wie Sharon und Dave – ganz normale Leute, deren Leben durch den tragischen Verlust eines Familienmitglieds einen grausamen Einschnitt erfahren hatte. Die meisten von ihnen gingen nach vorn, um Sharon zu umarmen und Dave die Hand zu schütteln, dann suchten sie sich einen Platz und setzten sich in respektvollem Schweigen.
Evans Freunde dagegen drängten sich vor den Türen zur Kirche zusammen, als wollten sie nicht hineingehen und sich mit der Tatsache konfrontiert sehen, dass einer der ihren nicht mehr am Leben war. Viele von ihnen, bemerkte Francis, als er sich umdrehte, um sie zu mustern, sahen aus wie die Leute, denen er auf der Tattoo-Messe begegnet war – schwarze Klamotten, rasierte Köpfe oder bunt gefärbtes Haar, übertrieben viele Piercings und trotz des ernsten Anlasses demonstrativ zur Schau gestellte Tattoos. Sie waren recht laut, vor allem die Mädchen – vermutlich weil sie miteinander konkurrierten, überlegte Francis –, die Männer sprachen mit tiefen, eindringlichen Stimmen.
Als die Orgel zu spielen begann, betraten sie nach und nach die Kirche und setzten sich. Francis sah, dass Marni und Thierry Mullins gemeinsam eintrafen, begleitet von zwei stark tätowierten Männern, die Französisch mit Thierry sprachen. Rory stieß ihm einen Ellbogen in die Rippen, um ihm zu zeigen, dass auch er sie gesehen hatte. Als alle Platz genommen hatten, drehte sich Marni zu Francis um und bedachte ihn mit einem finsteren Blick. Er nickte ihr kaum merklich zu, aber sie hatte ihm bereits wieder den Rücken zugewandt. Iwao kam in einem dezenten schwarzen Anzug in die Kirche und setzte sich an den Rand von Marnis Bankreihe. Hatte er Evan gekannt?
Der Tätowierer sah Francis giftig an und flüsterte Marni etwas zu.
Ein paar Nachzügler füllten die verbliebenen hinteren Bankreihen, und Francis und Rory mussten rücken, um einer großen, kräftig gebauten Frau Platz zu machen, die von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war, einschließlich Handschuhen und Hut mit einem schwarzen Netzschleier. Auch als sie saß, war sie noch fast einen Kopf größer als Francis. Er nahm an, dass es sich um eine unverheiratete Tante handelte, die sich entweder verfahren oder aber keinen Parkplatz gefunden hatte. Sie formte mit den Lippen ein »Dankeschön«, dann trat auch schon der Pfarrer vor den Altar und fing an zu reden. Während des Gottesdienstes traten noch mehrere Zuspätkommende ein, die hinten in der Kirche stehen blieben.
Francis lauschte den Worten des Pfarrers, der den Hinterbliebenen Trost zu spenden versuchte, und fragte sich, wie bald er wohl einem weiteren Gedenkgottesdienst oder Begräbnis würde beiwohnen müssen. Es wäre etwas anderes, denn bei der zu bestattenden Person würde es sich um seine Mutter handeln – Lydia hatte die Zeremonie bereits vor Jahren mit ihm besprochen. Sie sollte in der kleinen Kirche auf dem Land stattfinden, wo sie seit ihrer Hochzeit jeden Sonntag zum Gottesdienst gegangen war und wo auch Francis als Kind zum Glauben gefunden hatte. Würde es das Abschiednehmen leichter für ihn und seine Schwester machen? Auch wenn seine Eltern dort geheiratet hatten, bezweifelte er, dass sich sein Vater die Mühe machen würde, sich bei ihrer Beerdigung blicken zu lassen. Francis war so abgelenkt von seinen eigenen Gedanken, dass er kaum bemerkte, dass der Gottesdienst für Evan schon vorbei war. Er wurde erst vom Pfarrer aus seinen Gedanken gerissen, der nun durchs Mittelschiff schritt.
Draußen blieben die beiden Fraktionen auf Abstand, auch wenn ein paar von Evans Freunden zu Evans Familie überliefen, um ihnen ihr Beileid zu bekunden. Francis und Rory standen etwas abseits, um das Geschehen zu überblicken. Francis hatte Hollins am Straßenrand gleich gegenüber der Kirche parken lassen, damit dieser das Prozedere mit einem starken Zoom filmte. Er nahm Rorys Bemerkung darüber, dass der Mörder mit großer Wahrscheinlichkeit am Gottesdienst teilnahm, sehr ernst, und er würde den Film so lange auswerten, bis er herausgefunden hatte, wer jeder einzelne Besucher war und in welcher Beziehung er zu Evan Armstrong gestanden hatte. Tom Fitz teilte offenbar seinen Ehrgeiz, denn er ging zwischen den Trauergästen umher und knipste ein Foto nach dem anderen.
»Immer noch auf der Suche nach Ihrem Killer?« Plötzlich tauchte Ishikawa Iwao an Francis’ Seite auf. »Woran wollen Sie ihn erkennen, wenn Sie ihn sehen?«
Er war schon wieder verschwunden, bevor Francis ihm eine Antwort geben konnte.
Immer wieder wanderten Francis’ Augen zu Marni Mullins. Im Augenblick sprach sie mit einem Mann mit einem leuchtenden, frisch gestochenen Tiger-Tattoo am rechten Arm – dem Mann, dem er in ihrem Studio begegnet war. Wie hieß er noch gleich? Der Name wollte ihm nicht einfallen, denn plötzlich war alles, woran er denken konnte, die Worte, die sie im Coffeeshop gesagt hatte. Haben Sie gehört, was ich gesagt habe? Ich habe einen Mann niedergestochen.
Als könnte sie hören, was Francis dachte, unterbrach sie ihr Gespräch und sah ihm direkt in die Augen. Ihr Blick war nicht freundlich. Er wandte sich ab und überquerte die Straße, um ein Wort mit Hollins zu wechseln, der immer noch durchs offene Fahrerfenster filmte, nicht gerade unauffällig.
»Sorgen Sie dafür, dass Sie alle draufhaben, Kyle.«
»Klar, Chef«, antwortete er, ohne den Blick vom Sucher zu wenden.
»Vor allem die Tätowierten.«
»Genau auf die konzentriere ich mich.«
Francis spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte, und fuhr herum.
Marni Mullins sprühte vor Zorn.
»Sie filmen uns? Sie sollten nicht einmal hier sein! Sie kannten Evan Armstrong doch gar nicht!«
»Kannten Sie ihn?«
Sie sah ihn sprachlos an, ihre Lippen bewegten sich einen Augenblick lang stumm, bevor sie die passende Antwort fand.
»Er war einer von Thierrys Kunden und außerdem eine Zeit lang mit Charlie und Noa befreundet. Wir haben ein Recht, hier zu sein. Sie nicht.«
»Ich hatte den Eindruck, Thierry sei gar nicht gut auf ihn zu sprechen, wegen einer unbezahlten Rechnung, wenn ich mich recht erinnere«, entgegnete Francis. »Wie dem auch sei: Wir haben sehr wohl ein Recht, hier zu sein. Wir versuchen, Armstrongs Mörder zu finden.«
»Hier, bei einem Gedenkgottesdienst? Das ist doch ziemlich pietätlos.«
»Das hier sind die Menschen, die Evan kannte.«
»Abgesehen von Ihnen und Ihren Leuten.« Marni schnaubte.
»Ich dachte, wir ständen auf derselben Seite, Marni.«
»Auf welcher Seite stehen Sie denn, Francis?«
»Auf der Seite des Gesetzes und damit auf der richtigen.«
Die Worte schienen etwas zu unterstellen, was er gar nicht so gemeint hatte. Marnis Augen wurden schmal, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stapfte zu Thierry, der gerade mit Evan Armstrongs Schwester sprach.
Francis sah ihr nach und wünschte sich, er wäre nicht zum Wagen gegangen, wodurch er ihre Aufmerksamkeit auf sich und seine Aktion gezogen hatte. Ihr Ärger machte ihn betroffen, und er war schockiert darüber, wie aggressiv sie reagierte. Doch als sie nun eindringlich auf Thierry einredete, konnte er eine gewisse Verletzlichkeit an ihr bemerken, die ihm so bislang nicht aufgefallen war. In ihrer Vergangenheit gab es einen schwarzen Fleck, das stand fest. Aber was war mit der Gegenwart? Hielt sie den Schlüssel zu seinem Fall in der Hand?