Ich bin bei der Gedenkfeier. Alle, die den bedauernswerten Evan Armstrong kannten, sind hier. Und wenn ich mich so umsehe, vermutlich auch einige andere. Die Polizei ist in großer Zahl vertreten. Wer sonst trägt Schuhe mit Luftpolstersohle zum Anzug? Offenbar halten sie nach mir Ausschau, aber sie wissen nicht, wonach – oder nach wem – sie suchen sollen. Sie tun mir ein bisschen leid.
Da sie mich nicht beobachten können, beobachte ich sie. Eine interessante Dynamik, die hier im Spiel ist. Der Ältere, den ich für den leitenden Ermittler gehalten hatte, hat gar nicht das Sagen. Er nimmt Anweisungen von dem sehr viel Jüngeren entgegen. Oh ja, der Rotschopf sieht aus, als käme er frisch von der Schulbank, aber ihm trieft die Gewieftheit aus den Poren wie einem Schwein der Schweiß. Den sollte man nicht unterschätzen.
Trotzdem hat er noch immer keinen blassen Schimmer, wer die Taten begangen hat.
Die Familie scheint am Boden zerstört zu sein, und ich bin stolz, weil das allein mein Verdienst ist. Die ganze Zusammenkunft hier ist das Ergebnis meiner Arbeit. Ich bin der Grund für all die Tränen, die über das Gesicht der bedauernswerten Frau fließen, für die zitternden Hände ihres Ehemanns, wenn er nach ihr greift, um sie zu stützen. Meine scharfe Klinge hat ihre Herzen genauso gründlich gezeichnet wie Evans Fleisch. Dieser Schmerz ist die Wertschätzung meiner Arbeit. Ich wünschte mir, Ron wäre hier, um zu sehen, was ich geschaffen habe. Und auf eine seltsame Art und Weise wünsche ich mir, mein Vater wäre ebenfalls anwesend. Er wäre mit Sicherheit schockiert, aber letztendlich würde er begreifen, dass ich doch Talent habe. Der Gedanke an ihn hinterlässt einen bitteren Geschmack, deshalb richte ich meine Aufmerksamkeit lieber wieder auf die Menschen, die hier sind.
Großartig, dass sich die Tattoo-Szene hier begegnet – alle zur selben Zeit am selben Ort. Sie tun so, als seien ihre kleinlichen Eifersüchteleien und Animositäten für den Moment vergessen. Als seien sie traurig, weil jemand, den die meisten von ihnen kaum kannten, tot ist. All die kleinen Groupies, die in ihre schwarzen Taschentücher schluchzen, als würden sie wahrhaftig trauern. Dabei dient ihnen das hier bloß dazu, sich hinterher im Pub volllaufen zu lassen.
Bei Marni Mullins ist das anders. Auf ihren Wangen sind keine Tränen, als sie sich an mir vorbeidrängt, um die Kirche zu verlassen. Sie ist schön, doch ihr Körper bebt vor unterdrückter Wut. Ich frage mich, auf wen sie so sauer ist und warum. Aber das werde ich sicher bald herausfinden.
Es gibt vieles, was man bei einem Gedenkgottesdienst herausfinden kann. Manche Leute sind quasi nackt, emotional gehäutet. Andere funktionieren, erfüllen die Erwartungen der anderen. Jegliche Art von Interaktion verstärkt sich, und wenn dann beim Leichenschmaus noch Alkohol dazukommt …
Ich beobachte und lerne.
Marni Mullins spricht mit dem jungen Polizisten. Seine Wangen verfärben sich. Das dürfte kaum ein freundliches Gespräch sein. Sie ist immer noch wütend, als sie weggeht, aber er macht einen reuevollen Eindruck. Was hat er zu bereuen, wenn es um Marni Mullins geht? Seine Blicke folgen ihr wie die eines kleinen Hündchens.
Bleib ruhig, mein schlagendes Herz! Der Sammler ist hier.