27
Marni
Der Leichenschmaus wurde im Heart & Hand gehalten; anscheinend war das Evans Lieblingskneipe gewesen. Der Gastraum war kaum groß genug für die vielen Leute, die nach dem Gedenkgottesdienst mitkamen, und schon bald versammelten sich die Trinker an der Straßenecke. Die Ironie, dass das Pub Thierry als Alibi für das Zeitfenster von Evans Ermordung diente, entging Marni nicht. Francis hatte ihr von dem Mädchen mit dem Meerjungfrauen-Tattoo erzählt, und sie bezweifelte nicht, dass die kleine Schlampe auch heute hier war. Sie zog scharf die Luft ein und biss sich auf die Unterlippe. Das war wirklich nicht fair. Thierry und sie waren seit Jahren getrennt, warum also sollte es ihr etwas ausmachen, wenn er mit anderen Frauen ins Bett ging? Das Problem war nur, es machte ihr etwas aus.
Abseits der ernsten Kirchenatmosphäre kam beim Leichenschmaus eher Partystimmung auf. Nachdem sie sich etwas zu trinken besorgt hatten, brachten sich Evans Tattoo-Freunde auf den neuesten Stand und tratschten. Neue Tätowierungen wurden präsentiert und entweder begeistert kommentiert oder verspottet, Geschichten von den neuesten Tattoo-Messen ausgetauscht. Die Mädchen, die vorhin so bitterlich geschluchzt hatten, lachten jetzt laut, was Marni leidtat für Evans Familie, die zusammengedrängt in einer Ecke des Pubs saß.
Sie sah sich an der überfüllten Bar um und runzelte die Stirn, weil sie sich fragte, ob Thierry wohl mit dem Meerjungfrauen-Mädchen oder mit seiner neuen Auszubildenden hier war. Sie musste nicht lange auf eine Antwort warten – sie entdeckte ihn am Ende der Bar, wo er eng umschlungen mit der Kleinen aus dem Studio zusammenstand und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie spürte, wie ihr die Galle hochkam, und wandte sich ab.
»Sie ist über achtzehn«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. »Gerade geworden.«
Noa tauchte an ihrer Seite auf und deutete auf seinen Drink, um sie zu fragen, ob sie auch noch einen haben wolle.
Warum nicht? Sie war nicht mit dem Auto gekommen, und sie hatte heute Nachmittag keine Termine, also konnte sie genauso gut noch etwas trinken. Ohne die mildernde Wirkung des Alkohols würde sie die nächsten ein, zwei Stunden vielleicht nicht durchstehen.
»Gern. Danke.«
Während sie darauf wartete, dass Noa zurückkam, trat Iwao zu ihr.
»Kanntest du ihn?«, fragte sie.
»Evan? Nein. Aber ich habe mit Jonah Mason über das gesprochen, was passiert ist, und er hat mich gebeten, ihn zu vertreten.«
»Ist er in Kalifornien?«
»Ja. Ich habe Evans Eltern sein Beileid überbracht. Jonah fühlt sich schrecklich, weil sein Tattoo womöglich der Grund für Evans Tod ist. Er überlegt, eine Belohnung für sachdienliche Hinweise zur Ergreifung des Killers auszusetzen.«
»Im Ernst? Aber es ist doch nicht seine Schuld, dass irgendein Psycho beschlossen hat, die Tätowierung von Evans Körper zu schneiden. Der Kerl hätte sich genauso gut für eine andere entscheiden können – es war ja genügend Auswahl da.«
Iwao schürzte die Lippen. »Nicht, wenn deine Theorie bezüglich der Ausstellung stimmt, Marni. Die würde nämlich nahelegen, dass der Killer ganz genau weiß, welche Tattoos er haben möchte. Und genauso speziell ist er in der Auswahl seiner Opfer.«
Über Iwaos Schulter hinweg konnte sie Francis Sullivan sehen, der sich ihnen näherte.
»Verdammt! Ich fasse es nicht, dass die Polizei immer noch da ist. Das ist so pietätlos!«
Iwao folgte ihrem Blick und schnitt eine Grimasse.
»Er macht bloß seinen Job, Marni. Trotzdem musst du mich jetzt entschuldigen …«
Er verschwand eilig in der Menge, gleichzeitig trat Noa mit ihrem Wein zu ihr, nahm ihr das leere Glas ab und stellte es auf die Bar.
»Bitte sehr, Süße. Und jetzt erzähl mir, wie es dir inzwischen ergangen ist.«
Sie küsste ihn auf die Wange.
»Gib mir eine Minute, Noa. Ich will nur schnell diesen verfluchten Polizisten abwimmeln.«
Francis Sullivan trieb sich in ihrem peripheren Gesichtsfeld herum, was sie schrecklich ärgerte. Mit seinem dunklen Anzug wirkte er völlig fehl am Platz inmitten der Tätowierten. Er hätte ruhig Jackett und Krawatte ablegen können. Was für ein Spießer!
»Sie haben Nerven«, sagte sie, als sie zu ihm trat.
»Wir wollen doch alle, dass dieser Killer geschnappt wird, oder etwa nicht, Marni?«
Er hielt nicht mal einen Drink in der Hand, um wenigstens so zu tun, als würde er dazugehören.
»Manche Dinge sind heilig.«
Francis sah sich in der überfüllten Kneipe um, wo die Leute Bratwurstbrötchen in sich hineinschlangen und mit Bier nachspülten, und verkniff sich einen Kommentar.
Marni nahm einen großen Schluck Wein. Langsam bedauerte sie, dass sie ihm geholfen hatte. Er schien so versessen darauf, jemandem mit einem Tattoo die Verbrechen in die Schuhe zu schieben, dass er offenbar vergaß, richtiges Beweismaterial zusammenzutragen. Aber genau das wurde von der Polizei erwartet, oder nicht? Beweismaterial zu finden, das schlussendlich zum Mörder führen würde, nicht umgekehrt.
»Wie viele der Tattoo-Künstler von Iwaos Ausstellung sind hier?«
Marni ließ sich Zeit.
»Iwao ist hier«, antwortete sie schließlich. »Er vertritt Jonah Mason, der in Kalifornien ist. Ich habe Rick Glover gesehen, aber keinen von den anderen.«
»Er hat die Spinnentätowierung von Jem Walsh gemacht, richtig?«
»Ja.«
»Können Sie mich ihm vorstellen?«
Marni fühlte, wie sich ihre Wangen erneut vor Zorn röteten.
»Damit Sie ihn morgen verhaften können? Das scheint ja Ihre übliche Vorgehensweise zu sein.«
Francis seufzte. »Marni, wir sehen uns jeden, der mit dem Fall – den Fällen – zu tun haben könnte, genauer an, um ihn anschließend von unserer Liste streichen zu können.«
»Mit anderen Worten: Sie möchten, dass ich Sie Glover vorstelle, damit Sie sein Alibi für die Nacht von Jems Tod überprüfen können. Auf keinen Fall, Frank.«
»Hören Sie zu, meine Liebe: Sie sollten wenigstens für fünf Minuten von Ihrem hohen Ross absteigen. Da draußen ist ein Killer, der es auf Ihresgleichen abgesehen hat.«
»Sie haben recht«, erwiderte sie ruhig. »Ich möchte nicht, dass noch jemand stirbt. Doch dadurch, dass Sie Ihre Informationen nicht an die Öffentlichkeit weitergeben, bringen Sie uns alle in Gefahr. Bitte sprechen Sie zumindest eine offizielle Warnung aus.«
»Das könnte Auswirkungen auf das Verhalten des Killers haben.«
»Es könnte Leben retten.«
Mit ihm zu reden war, als rede sie mit einer Wand.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie schließlich. »Ich muss noch mit anderen Leuten sprechen.«
Als Marni an der Bar entlangschlenderte, rauschte das Blut in ihren Ohren, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Nein, das alles war ganz und gar nicht richtig, und sie würde nicht untätig danebenstehen und warten, bis der Nächste starb.
»Noa, holst du mir bitte einen Stuhl?« Sie deutete auf den Stuhl, auf dem im Augenblick Thierrys Auszubildende saß.
»Klar. Entschuldige«, sagte Noa, fasste die Lehne und kippte das Mädchen ohne große Umschweife auf Thierrys Schoß. Ihr Rock war so kurz, dass Marni ihr Höschen sehen konnte. Das Mädchen zog ein finsteres Gesicht, aber Thierry lachte bloß und legte ihr den Arm um die Taille, was Marnis Zorn nur noch mehr befeuerte.
»Wo soll ich ihn hinstellen?«, fragte Noa.
»Gleich hier an die Bar, das passt so.«
Marni kletterte auf die Sitzfläche und sah sich in dem lärmigen Pub um, dann hielt sie Ausschau nach etwas, womit sie die Aufmerksamkeit der Gäste wecken konnte. Schließlich entdeckte sie eine Gabel auf dem Tresen und klopfte damit gegen ihr Glas.
»Seid mal einen Augenblick still!«, rief Noa mit seiner dröhnenden Bassstimme. »Marni hat etwas zu sagen.«
Alle Köpfe wandten sich ihr zu. Marni sah, wie Sharon und Dave Armstrong sie verwirrt ansahen.
»Hallo«, sagte Marni, als das Stimmengewirr im Pub leiser wurde. »Ich nehme an, die meisten von euch wissen, wer ich bin, aber für die, die das nicht tun: Ich bin Marni Mullins vom Celestical Tattoo. Ich muss zugeben, dass ich Evan nicht wirklich kannte, trotzdem bin ich heute hier, denn ich kenne viele Leute, die ihn kannten. Außerdem habe ich euch allen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen – und ich möchte, dass ihr das an all eure Freunde weitergebt, die jetzt nicht hier sind.«
Sie bückte sich, um ihr Weinglas auf den Tresen zu stellen, die Gabel legte sie daneben. Ein Meer von Gesichtern sah sie erwartungsvoll an. Im Hintergrund stand Francis Sullivan mit zutiefst enttäuschtem Gesicht. Der Sergeant neben ihm wirkte empört.
»Marni, bitte tun Sie das nicht«, sagte Francis laut, doch seine Worte gingen im aufgeregten Gemurmel unter.
Marni ließ sich nicht beirren. »Hört gut zu«, sagte sie. »Die Polizei glaubt, dass der Mann, der Evan umgebracht hat, für zwei weitere Morde verantwortlich ist. Den Leichen fehlen Tätowierungen, und diese Tätowierungen haben aller Wahrscheinlichkeit nach eins gemeinsam: Sie wurden von Tattoo-Künstlern gestochen, die bei der Ausstellung Alchemie von Blut und Tinte vertreten waren.« Marni entdeckte Rick Glover, der sie schockiert anstarrte. »Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit hat es ein Serienkiller auf Menschen mit Tätowierungen von Ishikawa Iwao, Jonah Mason, Bartosz Klem, Brewster Bones, Polina Jankowski, Rick Glover, Gigi Leon, Jason Leicester, Vince Priest und Petra Danielli abgesehen. Ich möchte euch warnen, weil die Polizei das nicht tut. Wenn ihr ein Tattoo von diesen Künstlern habt, gebt besonders gut auf euch Acht, wenn ihr abends unterwegs seid. Geht nicht allein aus. Ich habe Angst, und ihr solltet ebenfalls Angst haben.«
Sie sah in die Runde und hielt den Atem an, während die Zuhörer die Liste mit den von ihr genannten Namen einsacken ließen. Die meisten schüttelten den Kopf, aber ein, zwei von ihnen sprachen mit gedämpften Stimmen miteinander, was nur bedeuten konnte, dass sie ein Tattoo von einem der entsprechenden Künstler hatten. Sie sah, wie einer ihrer Kunden, Dan Carter, ein fast volles Bierglas in einem Zug leerte; in seinen Augen spiegelte sich Furcht. Sullivan und Mackay waren nirgendwo mehr zu sehen. Zweifelsohne waren sie auf dem Weg zurück ins Präsidium, wo sie sich überlegen würden, was zu tun war, jetzt, da das sorgfältig gehütete Geheimnis gelüftet war.
»Evan Armstrong und Jem Walsh wurden beide erst vor Kurzem hier in Brighton ermordet«, fuhr sie fort.
»Jem Walsh?«, fragte ein Mädchen, das neben Marnis Stuhl stand. »Jem ist tot
Die Menge schnappte nach Luft. »Das kann nicht sein«, hörte Marni jemand anderen sagen. Anscheinend hatten die meisten der Anwesenden trotz der Berichterstattung in den Lokalmedien nichts davon gehört. Die Tür knallte zu, als jemand eilig aus dem Pub stürmte.
»Es tut mir so leid«, sagte Marni.
Die Knie des Mädchens gaben nach; der Mann, der neben ihr stand, schaffte es gerade noch, sie aufzufangen. »Was geht hier vor?«, rief jemand von hinten. »Was will die Polizei unternehmen?«
Die Gäste fingen an, Marni mit Fragen zu bombardieren; es brach ein Höllenlärm los. Thierry half Marni vom Stuhl. Sie hatte ihren Job erledigt.
»Warum zum Teufel hast du das getan?«, fragte er. »Jetzt hast du Sullivan am Hals.«
»Das ist verdammt noch mal seine eigene Schuld. Ich hoffe nur, ich konnte jemandem mit meiner Aktion das Leben retten. Und wenn Frank das nicht passt, dann kann er mich mal.«
»Das hättest du nicht tun sollen. Er wird das an uns auslassen und überall herumschnüffeln, auch dort, wo es ganz und gar nicht erwünscht ist.« Er hatte ihre Hand nicht losgelassen, nachdem er ihr vom Stuhl geholfen hatte. »Ich wünschte mir, du wärst da nie hineingeraten, Marni. Das Ganze macht mir Sorgen.«
Sie zog ihre Hand weg und sah, wie er die Stirn in Falten legte.
Was hatte Thierry für ein Problem mit den Ermittlungen – und mit ihr? So viele widersprüchliche Botschaften. Immer, wenn das Thema zur Sprache kam, wurde er wütend, doch dann wiederum schien er sich Sorgen um sie zu machen. Was war da los?
Wollte sie es wirklich wissen?