28
Rory
Rory hätte es nicht für möglich gehalten, dass der Chef heute Morgen bei der Arbeit noch schlechter aussehen würde als gestern Morgen, doch er wurde eines Besseren belehrt. Francis war früh dran, aber sein Anzug war zerknittert, seine Haare ungewaschen. Als Rory eintraf, saß der Chef bereits mit einem XXL
-Kaffee, schwarz, an seinem Schreibtisch und brütete über den Unterlagen vor ihm.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Rory und trat näher an Francis heran, um zu sehen, woran dieser arbeitete.
Der Chef schaute auf, als habe er ihn erst jetzt bemerkt. »Wissen wir, wo Bradshaw heute ist?«
»Nicht da. Er hat irgendeine wichtige Strategie-Besprechung mit ein paar Detective Sergeants.«
»Wissen Sie, wo?«
»Hollingbury Park.«
Bradshaws Stammgolfplatz.
»Gut.« Francis vertiefte sich wieder in seine Unterlagen.
Rory wartete auf eine weitere Erklärung, aber der Chef beachtete ihn nicht. Na gut. Er hatte selbst genug um die Ohren. Fünf Minuten später, gerade bevor er richtig losgelegt hatte, rief ihn der Chef ins Büro.
»Rory, ich war fast die ganze Nacht über wach und habe mit meinem Gewissen gerungen. Ich möchte meinen Job ordentlich erledigen, aber das ist nicht die einzige Überlegung.«
Rory wand sich auf seinem Stuhl. Wohin würde das hier führen?
»Die Leute geraten nach Marnis kleiner Ansprache in Panik, Gerüchte verbreiten sich in Windeseile. Wenn der Mörder erneut zuschlägt, ohne dass wir etwas unternommen haben, klebt das Blut im wahrsten Sinne des Wortes an unseren Händen. Wir müssen das Heft in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass sich die Situation beruhigt.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich werde eine Pressekonferenz einberufen.«
»Aber das hat Bradshaw ausdrücklich untersagt! Damit verstoßen Sie gegen seine Anweisung, und er wird Ihnen definitiv einen Strick daraus drehen.«
Francis zuckte die Achseln. »Das ist mir klar – aber ich werde nicht zulassen, dass noch ein Mensch stirbt, nur weil ich mich nicht vorgetraut habe. Unsere Theorie ist ohnehin in aller Munde. Dafür hat Marni gesorgt. Und sie hat recht – wir sollten sie schleunigst offiziell machen, die Leute haben ein Recht darauf, davon zu erfahren, damit sie sich schützen können.«
Herrgott. Das würde ein Erdbeben auslösen, und zwar ein ganz gewaltiges.
»Ich verstehe, wenn Sie damit nichts zu tun haben wollen, Rory. Sie haben Familie, Sie dürfen Ihren Job nicht riskieren.«
»Aber Sie setzen Ihren aufs Spiel.«
»Das lässt sich nicht vermeiden.«
Natürlich hatte Sullivan recht. Sie hatten die Pflicht zu handeln, wenn sie damit womöglich Leben retten konnten. Doch was Francis vorhatte, verstieß direkt gegen die Anweisung eines Vorgesetzten. Das könnte nicht nur zur Folge haben, dass er den Fall abgeben musste, im schlimmsten Fall würde der Chief Inspector ihn aus der Abteilung werfen.
Nachdenklich verließ Rory Francis’ Büro und ging ins Treppenhaus, wo er außer Sicht- und Hörweite war, dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Bradshaws Nummer.
Pressekonferenzen wurden stets im größten Raum im Erdgeschoss der Polizeistation in der John Street abgehalten, aber selbst der war nicht groß genug für die beispiellose Anzahl von Journalisten, die sich dort drängten und mit einer Vielzahl von technischen Geräten und Bleistiftstummeln versuchten, die offizielle Version der Ereignisse festzuhalten. Zwei Morde in Brighton im Zeitraum von nur einer Woche waren große Neuigkeiten – quasi eine Verdopplung der Mordrate vom letzten Jahr. Als die grausigen Details durchsickerten, hatten sich zahlreiche Schreiberlinge von der landesweiten Presse zu den lokalen Journalisten hinzugesellt.
Rory warf einen Blick durch die hintere Tür des großen Konferenzraums, dann kehrte er ins Treppenhaus zurück, um ein weiteres Mal auf sein Handy zu blicken. Der DCI
hatte seine Nachricht bislang nicht beantwortet, und im Präsidium war niemand mit der Befugnis, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Leicht nervös betrat Rory den Konferenzraum.
Francis hatte sich Mühe gegeben, nicht ganz so zerknittert zu wirken. Er hatte seine Anzugjacke ausgezogen und die Hemdsärmel aufgekrempelt – nicht dass sein Hemd viel besser aussah –, außerdem hatte er die Haare mit Wasser zurückgestrichen. Jetzt klopfte er auf das Mikrofon auf dem Tisch vor ihm und stellte fest, dass es bereits angeschaltet war. Erwartungsvolle Stille senkte sich über die aufgeregten Journalisten.
»Guten Morgen«, wünschte Francis, um die Lautstärke des Mikros zu testen.
Gedämpftes Gemurmel.
»Ich bin Detective Inspector Francis Sullivan, meine Einheit befasst sich aktuell mit den Ermittlungen in zwei Mordfällen. Evan Armstrong, ein Dreiunddreißigjähriger aus Hove, wurde am Sonntag, dem 28. Mai, tot in den Pavilion Gardens aufgefunden. Jem Walsh wurde zwei Tage später unter dem Palace Pier entdeckt. Er wurde enthauptet.«
»Untersuchen Sie, ob es eine Verbindung zwischen den beiden Morden gibt?«, wollte eine junge Frau in der ersten Reihe wissen.
»Sobald ich mit meiner Stellungnahme fertig bin, werde ich Ihre Fragen beantworten«, sagte Francis.
»Ich habe gehört, er hat Tätowierungen von den Leichen entfernt«, ließ sich Tom Fitz vernehmen. Hätte er nicht Marnis Rede beim Leichenschmaus gehört, wäre er früher oder später ohnehin auf das Thema zu sprechen gekommen. Nachrichten wie diese waren Hauptgesprächsthema in den Bars und Pubs der Stadt.
»Mir ist klar, dass seit dem gestrigen Gedenkgottesdienst für Evan Armstrong allerhand Gerüchte kursieren«, fuhr Francis fort, »und genau das ist auch der Grund, warum ich Sie zu dieser Konferenz gebeten habe.«
Die hintere Tür öffnete sich. Francis unterbrach seine Stellungnahme. Bradshaw betrat den Raum, schloss die Tür und stellte sich neben Rory. Er hatte einen hellgelben Pullover und eine blaue Baumwollhose an und trug noch immer seine Golfschuhe. Er wirkte zornig, doch er sagte nichts.
Sein plötzliches Erscheinen ließ Francis vorübergehend den Faden verlieren. Ungeduldiges Flüstern wurde unter den Zuhörern laut, dann nahm er sich zusammen und fuhr fort.
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Morde dazu dienen, die tätowierten Körperbereiche der Opfer zu entfernen. Bislang wissen wir nicht, welches Motiv dahintersteckt, aber wir befassen uns intensiv mit den Personen, die der Täter als Opfer gewählt hat, und damit, welche Tätowierungen für ihn von Interesse waren.«
»Marni Mullins hat eine Ausstellung erwähnt, Die Alchemie von Blut und Tinte
«, meldete sich Tom Fitz zu Wort. »Besteht eine Verbindung zwischen der Ausstellung und den Morden?«
»Das ist reine Spekulation, alles andere wäre unverantwortlich. Wir haben keinen konkreten Hinweis auf einen Zusammenhang. Dennoch ist dies einer der Gründe für diese Pressekonferenz. Wir möchten sämtliche Personen mit einer Tätowierung bitten, vorsichtig zu sein, ganz gleich, von welchem Künstler sie stammt. Nach Einbruch der Dunkelheit sollten sich Tattoo-Träger nicht allein in der Stadt aufhalten und ihre Tattoos in der Öffentlichkeit nach Möglichkeit bedecken. Es ist wichtig, die Augen offenzuhalten und aufeinander acht zu geben.«
Als er geendet hatte, brach Tumult im Raum aus. Alle schienen gleichzeitig eine Frage stellen zu wollen, Hände wurden in die Luft gereckt, die Journalisten weiter hinten standen von ihren Plätzen auf und drängten nach vorn. Bradshaw fing an, sich an der Seite des Raumes entlang einen Weg zum Podium zu bahnen.
»Ich werde jetzt Ihre Fragen beantworten«, sagte Francis.
»Gibt es schon irgendwelche Verdächtige?«, fragte einer der Auswärtigen.
»Darf ich wissen, wer Sie sind und für wen Sie arbeiten?«
»Simon Epson vom Telegraph
.«
Francis konnte sich gut vorstellen, in welche Richtung sein Artikel gehen würde.
»Gibt es schon irgendwelche Verdächtigen?«, wiederholte der Journalist.
»Es tut mir leid, die Frage kann ich zum momentanen Zeitpunkt der Ermittlungen nicht beantworten«, erwiderte Francis.
»Mit anderen Worten: Sie haben keine Ahnung, wer dieser Tattoo-Dieb ist?«
»Kein Kommentar.«
»Lizzie Appleton vom Mirror.
Angeblich haben Sie den Organisator der Ausstellung, Ishikawa Iwao, verhaftet. Aus welchem Grund?«
»Es wurde niemand verhaftet, Miss Appleton. Ishikawa Iwao gehört zu einer Reihe von Personen, die uns bei unseren bisherigen Ermittlungen unterstützt haben.«
Rory war der Meinung, dass Ishikawa Iwao nach wie vor eine Person von besonderem polizeilichem Interesse war, und zwar definitiv.
»So wie Marni Mullins?«, fragte Appleton.
»Wie ich schon sagte: Wir wurden von mehreren Personen unterstützt, allerdings kann ich nicht weiter ins Detail gehen.«
»Meine Damen und Herren, ich denke, es ist Zeit, zum Abschluss zu kommen.« Bradshaw stieß Francis förmlich zur Seite und trat ans Mikrofon. »Danke, dass Sie gekommen sind. Bitte berichten Sie verantwortungsvoll über die Ereignisse und vermeiden Sie, die Stadt in Panik zu versetzen. Wir möchte, dass die Leute sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen treffen, nicht, dass sie in Angst leben.«
Als den Journalisten klar wurde, dass sie keine weiteren Details für ihre Artikel in Erfahrung bringen würden, entstand ein Ansturm auf die Tür. Rory sah, wie Francis, der jetzt weiß wie ein Bettlaken war, eilig zum Ausgang strebte, bevor Bradshaw ihn am Kragen fassen konnte. An der Tür drehte er sich kurz um und starrte Rory an. Seine Augen durchbohrten ihn wie Dolche. Rory wartete eine Sekunde, dann verließ auch er den Konferenzraum. Der Chef wusste eindeutig, dass er es gewesen war, der Bradshaw informiert hatte.
Rory stieg die Stufen hinauf und fühlte sich schlecht, weil er den DCI
angerufen hatte. Moralisch betrachtet, war es das einzig Richtige gewesen, die Pressekonferenz abzuhalten. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass Francis dadurch anderen Tattoo-Trägern das Leben gerettet hatte. Außerdem war es ganz schön mutig gewesen, sich gegen eine konkrete Anweisung von oben zu stellen. Rory seufzte. Er würde nicht so weit gehen zu behaupten, Bradshaw zu warnen sei falsch gewesen, doch er fühlte sich schlecht damit.
Plötzlich hörte er hinter sich Schritte, die eilig näher kamen. Er wusste, dass es Sullivan war, der die Treppe hinaufstieg.
»Sie Bastard!«