29
Francis
Die Tatsache, dass Rory schnurstracks zu Bradshaw gerannt war, brachte Francis’ Blut zum Kochen. Der DCI
hätte zwar sowieso davon erfahren, aber das bedeutete noch lange nicht, dass der kleine Mistkerl alles ausquatschen sollte, bevor die Pressekonferenz überhaupt begonnen hatte. Es war keine Überraschung, dass er keine schnellen Ergebnisse vorweisen konnte – wie sollte er arbeiten ohne die Unterstützung seines Teams? Die leisen Gespräche in der Einsatzzentrale verstummten, als er eintrat; sämtliche Augen richteten sich auf ihn. Rory folgte ihm, Bradshaw auf den Fersen.
»In mein Büro. Sofort. Sie beide.« Bradshaws Stimme war weit lauter als nötig, und er wartete nicht auf eine Antwort.
Francis sah Rory an, der die Achseln zuckte.
»Hätte ich geschwiegen, würde ich jetzt ebenfalls zur Sau gemacht werden.«
Das war nicht gerade eine Entschuldigung. Fakt war außerdem, dass Rory seiner Karriere mit dem Anruf bei Bradshaw alles andere als geschadet hatte.
»Dann wäre es also in Ordnung für Sie gewesen, wenn wir die potenziellen Opfer völlig unbedarft durch die Gegend hätten wandern lassen?«, fragte Francis. »Es wundert mich, dass Sie nachts noch schlafen können.«
Sie folgten Bradshaw in sicherem Abstand die Treppe hinauf. Francis nahm zwei Stufen auf einmal und spürte, dass sein Herz doppelt so schnell wie sonst in seiner Brust hämmerte. Was immer auch passieren würde – vermutlich hatte er es verdient. Aber zumindest könnte er sich noch selber in die Augen schauen in dem Bewusstsein, das Richtige getan zu haben.
Er betrat das Büro seines Vorgesetzten. Die Spannung im Raum war greifbar. Bradshaw hatte sich mit einem schweren Seufzer auf seinen Schreibtischstuhl fallen lassen. Weder Francis noch Rory wagten es, sich zu setzen, während sie auf die Tirade warteten, die gleich kommen würde. Bradshaw sah von einem zum anderen, doch am Ende sah er Francis direkt in die Augen.
»Was in Gottes Namen haben Sie sich dabei gedacht?«
Francis wappnete sich. »Ich habe mir gedacht, dass wir auf diese Weise jemandem das Leben retten können, Sir.«
»Wir hatten darüber gesprochen. Ich hatte es untersagt.«
Da er keine Frage stellte, schwieg Francis.
Bradshaw wandte seine Aufmerksamkeit Rory zu. »Es war richtig, dass Sie mich angerufen haben.«
»Ich dachte, Sie würden Bescheid wissen wollen«, erwiderte Rory, doch er hielt den Blick gesenkt.
»Es stand Ihnen nicht zu, die Öffentlichkeit zu informieren.« Bradshaw konzentrierte sich wieder auf Francis. »Wahrscheinlich haben Sie mit dieser Aktion eine Art Massenpanik losgetreten.«
»Marni Mullins hatte die Leute bereits beim Leichenschmaus nach dem Gedenkgottesdienst für Evan Armstrong gewarnt«, entgegnete Francis ruhig. »Die Gerüchteküche brodelte, die Leute bekamen es mit der Angst zu tun.«
Rory verdrehte die Augen, was Francis vor Wut beinahe in die Luft gehen ließ.
»Ich stehe zu dem, was ich getan habe«, fuhr er fort. »Hoffentlich konnte ich damit ein Menschenleben retten.«
Bradshaw wirkte völlig unbeeindruckt. »Und Ihnen ist nicht in den Sinn gekommen, dass Gerüchte allein genügen, um die Leute davon abzuhalten, unnötige Risiken einzugehen?«
»Bei allem Respekt, Sir – ich bin der Ansicht, dass wir den Informationsfluss kontrollieren sollten.«
Bradshaw schnaubte. »Sie haben den Killer gewarnt – sollte es sich denn tatsächlich um einen einzigen Täter handeln –, er weiß jetzt, dass wir wissen, was er tut. Er wird in Deckung gehen, und wir haben nun noch weniger Chancen als zuvor, ihn zu schnappen!«
»Dem stimme ich nicht zu, Sir.«
»Ihr Reichtum an Erfahrung sagt etwas anderes?«
»Meine Ausbildung sagt mir, dass Serienmörder nach Aufmerksamkeit suchen. Wenn – und dieses ›Wenn‹ ist doppelt unterstrichen – die Morde auf irgendeine Art und Weise miteinander verknüpft sind, wird die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dem Ego des Tattoo-Diebs schmeicheln. Anstatt in Deckung zu gehen, wird er sich noch weiter vorwagen. Ich habe vor, das Stadtzentrum mit Polizisten in Zivil zu überfluten und sämtliche Überwachungskameras zu überprüfen. Hoffentlich können wir ihn schnappen, bevor er erneut zuschlägt.«
»Sie meinen, Sie wollen ihn auf frischer Tat ertappen?« Bradshaw schüttelte den Kopf. »Das ist eine hochriskante Strategie.«
»Nicht auf frischer Tat«, widersprach Francis. »Jetzt, da alle gewarnt sind, wird er nicht so schnell eine Gelegenheit finden. Die Leute sind wachsam und halten die Augen offen. Er wird zunehmend verzweifelter werden, was dazu führt, dass er größere Risiken eingeht und sich dadurch verrät.«
»Das hoffe ich. Denken Sie an die Kriminalitätsstatistiken. Ich stehe unter dem enormen Druck, sämtliche Verbrechen aufzuklären, vor allem Gewaltverbrechen.«
»Und genau das werden wir tun, indem wir den Killer aus der Deckung locken und verhaften.«
Bradshaw umschloss seinen Nasenrücken mit Zeigefinger und Daumen und schürzte die Lippen. »Ich habe keine Ahnung, wie das funktionieren soll«, lamentierte er weiter. »Werfen Sie einen Köder aus, dann haben Sie vielleicht eine Chance, aber einem Serienkiller die Möglichkeit zum Töten zu nehmen, wird Ihnen nicht weiterhelfen. Mir bleibt nichts anderes übrig, Sullivan, als Sie von dem Fall abzuziehen. Mackay, Sie übernehmen die Leitung, bis ich einen neuen DI
gefunden habe.«
»Aber Sir, DI
Sullivan hat die Pressekonferenz mit den besten Absichten einberufen.«
Der Einspruch kam ein bisschen zu spät, das wusste Rory ganz genau.
»Das ist mir scheißegal – von jetzt an leiten Sie die Ermittlungen, und Sie befolgen meine
Befehle. Nehmen Sie diesen japanischen Tätowierer in Gewahrsam und besorgen Sie uns forensisches Beweismaterial, das vor Gericht Bestand hat.«
»Es besteht kein Grund, ihn zu verdächtigen«, wandte Francis ein.
»Halten Sie die Klappe, Sullivan. Und jetzt raus mit Ihnen, beide!«
»Das können Sie nicht machen, Sir.« Francis biss so stark die Zähne aufeinander, dass man seine Worte kaum verstehen konnte.
»Ich kann tun, was immer ich will, Sullivan. Mackay übernimmt den Fall und damit basta.«
Das Gespräch war vorbei.
Draußen auf dem Gang ließ Francis seinem Ärger freien Lauf. »Verdammt, verdammt, verdammt!«
Er war von dem Fall abgezogen. Bradshaw und Mackay waren auf dem falschen Dampfer, und das bedeutete, dass der Killer ungehindert tun und lassen konnte, was er wollte. Francis ballte die Faust und schlug sie gegen die Wand. Schmerz explodierte in seinem Arm.
»Scheiße!«