31
Rory
Von nun an leitete er die Ermittlungen. Sullivan war von dem Fall abgezogen, und es hatte einen weiteren Übergriff gegeben.
Diesmal jedoch war die Situation anders: Das Opfer lebte – gerade noch –, und Rory wartete vor der Zimmertür in der Klinik auf die Gelegenheit, ihm ein paar Fragen zu stellen. Bislang beharrten die Ärzte darauf, dass der Mann noch nicht vernehmungsfähig sei, aber das hatte Rory schon oft gehört. Also hatte er beschlossen zu warten, doch jetzt, als er in dem schwach beleuchteten Krankenhausflur auf und ab ging, wurde er doch ein wenig unsicher.
Das war die Spur, auf die sie gewartet hatten. Ein Überlebender, ein frischer, unberührter Tatort, da der Killer bei der Arbeit gestört worden war, ein betrunkenes Liebespaar in einem der Vernehmungsräume in der John Street, das hoffentlich nicht zu berauscht war, um sich zu erinnern, worein es da geplatzt war. Er hatte das gesamte Team aus den Betten telefoniert, damit es das Größtmögliche aus diesem Glückstreffer herausholte. Und so ungern er es sich auch eingestand: Francis’ Theorie war gar nicht so verkehrt.
Eins allerdings stand fest: Iwao hatte nichts mit der Sache zu tun. Rory hatte zwei Polizisten abgestellt, die sein Haus die ganze Nacht über observierten, und sie hatten gemeldet, dass er das Gebäude nicht verlassen habe.
Er schrieb Francis eine Textnachricht, die dieser empfing, als er aus der Kirche kam. Wohnte der Kerl etwa dort?
Fünfzehn Minuten später betrat Francis einen Nebenraum im County Hospital. Rory wartete bereits auf ihn. Er steckte ein paar Münzen in einen Getränkeautomaten und reichte seinem ehemaligen Chef einen Pappbecher mit Kaffee.
»Ich sollte gar nicht hier sein, Rory. Wenn Bradshaw das herausfindet …« Francis’ Ton war grimmig, die Anspielung unmissverständlich.
»Das wird er nicht. Aber zwei Köpfe denken nun mal besser als einer.«
Rorys Handeln hatte dazu geführt, dass Francis von dem Fall abgezogen worden war. Nun fragte er sich, wie hilfsbereit er im umgekehrten Fall sein würde. Beinahe erwartete er, dass Francis ihm sagen würde, er solle sich zum Teufel scheren, doch stattdessen ließ sich Francis erschöpft auf einen unbequem aussehenden roten Plastikstuhl fallen und hörte sich an, was Rory zu sagen hatte.
»Ich kann Ihnen meine Meinung zu dem Ganzen mitteilen, das ist alles. Die Entscheidungen müssen Sie treffen. Sie haben jetzt das Sagen. Was hat der Arzt gesagt?«
»Es ist ernst«, teilte Rory ihm mit. »Der Mann – anscheinend handelt es sich um einen gewissen Dan Carter –, hat ein Schädel-Hirn-Trauma, außerdem hat der Scheißkerl eine Reihe von tiefen Schnitten gesetzt, was für einen beträchtlichen Blutverlust gesorgt hat. Dan Carter hat ein Ganzkörper-Tattoo – es hätte also wirklich hässlich werden können, wäre nicht unser turtelndes Paar dazwischengekommen.«
»Fehlt etwas von der Tätowierung?«
»Der Arzt sagt, die Schnitte waren um die Tätowierung herumgezogen …«
»Genau wie bei Armstrong.«
»… und der Mörder hatte bereits damit begonnen, die Haut von der Schulter zu schälen. Sie mussten einen Teil des Tattoos entfernen und Haut aus Carters Oberschenkel verpflanzen.«
Francis zuckte genauso zusammen wie zuvor Rory, als ihm der Chirurg die grausigen Details erläutert hatte.
»Wann können wir mit ihm sprechen?«
»Laut den Ärzten am liebsten gar nicht, zumindest nicht in nächster Zeit.«
Draußen auf dem Korridor wurden Schritte laut, eine Krankenschwester öffnete die Tür.
»Sie sind hier drin«, sagte sie.
»Vielen Dank«, erwiderte eine Frauenstimme.
Marni Mullins betrat den Raum, das Haar zerzaust, das dunkle Augen-Make-up sichtbar verschmiert.
»Was hat sie denn hier zu suchen?«, fragte Francis.
»Sehr charmant«, entgegnete Marni. »Glauben Sie, ich lasse mich gerne um vier Uhr morgens aus dem Bett zerren, um Ihnen zu helfen? Krankenhäuser zählen nicht unbedingt zu meinen Lieblingsorten.«
Sie schien ziemlich aus der Fassung zu sein.
»Ich habe sie angerufen«, antwortete Rory. »Ich möchte, dass sich Marni die Tätowierung des Opfers ansieht. Der Mörder scheint Gas zu geben, und wir müssen unbedingt herausfinden, auf wen er es als Nächstes abgesehen haben könnte.«
»Nun, dann danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Francis, was Rory seine fehlenden Manieren vor Augen führte.
Der DI
war aufgestanden, als Marni den Raum betreten hatte, und nun trat er auf sie zu und legte ihr kurz die Hand auf den Oberarm. Rory spürte einen leichten Stimmungswechsel, konnte ihn aber nicht recht zuordnen, deshalb ging er darüber hinweg und brachte Marni auf den neuesten Stand der Dinge.
»Wie viele Tätowierer waren noch gleich an der Ausstellung beteiligt?«, fragte Francis und setzte sich wieder.
»Zehn«, erwiderte Marni.
Rory zog einen Notizblock aus der Tasche.
»Geben Sie mir die Namen«, bat er.
Marni setzte sich Francis gegenüber und zählte die Namen an den Fingern auf. »Ishikawa Iwao, Bartosz Klem, Rick Glover, Gigi Leon, Brewster Bones, Jason Leicester, Polina Jankowski, Jonah Mason, Vince Priest und Petra Danielli. Eine Italienerin, die in Mailand tätig ist.«
»Und wessen Arbeit hat der Mörder bislang geklaut?«, wollte Rory wissen.
»Evan Armstrong hatte ein Tattoo von Jonah Mason«, antwortete Francis. »Und Bartosz Klem hat das Motiv auf Giselle Connellys Arm gestochen.«
»Jem Walshs Tattoo stammt von Rick Glover«, fügte Marni hinzu.
»Was im Prinzip bedeutet, dass Dan Carters Tätowierung von einem der anderen stammen muss, sollte unsere Theorie ins Schwarze treffen«, sagte Rory und tippte mit seinem Bleistift auf die Liste, die er gerade notiert hatte.
»Und wenn nicht?«, fragte Marni.
Rory zuckte die Achseln. »Dann bröckelt Ihre Theorie.
»›Unsere Theorie‹, ›Ihre Theorie‹ – nennt man das nicht Opportunismus?«, blaffte Marni.
»Wir haben jetzt zwei Zeugen und einen Überlebenden«, stellte Francis fest, als Rory nicht auf Marnis bissige Bemerkung einging. »Sie werden uns Informationen liefern können, und mit etwas Glück wird uns das helfen, den Bastard zu schnappen.«
Die Tür öffnete sich, und ein großer Mann in Hemdsärmeln, ein Stethoskop um den Hals, kam herein. Er schaute zwischen Rory, Francis und Marni hin und her und sah beinahe genauso müde aus, wie Rory sich fühlte.
»Wer von Ihnen ist zuständig?«, fragte er.
Francis nickte in Rorys Richtung.
»Nun, Mr. Carter ist wach, wenn auch nicht ganz klar. Ich gebe Ihnen fünf Minuten, dann muss er sich ausruhen.«
»Kommt er wieder auf die Beine?«, fragte Marni.
»Um das zu beantworten, werden wir nachher einen Gehirnscan machen – er hat eine schwere Kopfverletzung erlitten, vermutlich bei einem Sturz«, sagte der Chirurg. »Bei den Schnitten handelt es sich um tiefe Fleischwunden. Sie werden verheilen, aber er wird Narben davontragen, vor allem von der Hauttransplantation.«
»Körperliche und seelische Narben«, murmelte Rory.
»Nun, Letzteres ist nicht mein Fachgebiet«, erklärte der Chirurg achselzuckend. »Wenn Sie mir bitte folgen …«
Dan Carter lag in einem Einzelzimmer ein kleines Stück den Gang entlang. Alles darin wirkte trist grau im Licht der Morgendämmerung, sogar die weißen Bettlaken und Verbände. Von dem Tattoo war nichts zu sehen – außer Gesicht, Hals und Händen war alles bedeckt. Ein Arm war mit einer Schlinge auf Dan Carters Brust festgebunden. Sein Gesicht wirkte ebenfalls grau und glänzte vor Schweiß.
Als der Chirurg gegangen war, trat Marni vor.
»Hi, Dan.«
»Hi, Marni.« Er sprach langsam, noch unter dem Einfluss der Betäubungsmittel stehend. »Was machst du denn hier?«
»Ich helfe den beiden«, sagte sie und nickte in Richtung Rory und Francis.
Sie kannte ihn? In der Tattoo-Szene schien tatsächlich jeder jeden zu kennen …
»Polizei?«, fragte Dan.
Marni nickte. »Kannst du mir ein Stück von deinem Tattoo zeigen, Dan?«
»Sicher«, antwortete er und deutete mit einem Nicken auf den Arm, der nicht in der Schlinge lag.
Marni schob vorsichtig sein Krankenhausnachthemd zur Seite und enthüllte ein farbenprächtiges japanisches Sleeve-Tattoo, das sie eine Weile aufmerksam betrachtete.
»Das ist wundervoll. Petra Danielli?«
»Ja. Ich habe hundertsiebzig Stunden bei ihr verbracht. Aber jetzt …« Er unterbrach sich und schnitt eine Grimasse.
Francis trat neben Marni ans Bett. »Dan, können Sie uns erzählen, was genau passiert ist?«
Dan Carter runzelte die Stirn und ließ den Ärmel seines Krankenhausnachthemds zurück zum Handgelenk rutschen.
»Ich werde es versuchen. Ich war mit ein paar Kumpels im Victory Inn in der Duke Street, Ecke Middle Street.
»Wir brauchen die Namen«, sagte Rory.
»Pete. Pete war da, glaub ich. Nein, nein, Pete nicht …« Seine Augenlider sackten herab.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Francis. »Das fällt Ihnen schon wieder ein. »Können Sie sich erinnern, wann Sie von dort aufgebrochen sind?«
»Nein. Ich weiß nur, dass wir alle draußen standen. Die Bar hatte bereits geschlossen. Ich habe eine Zigarette geraucht.«
»Sind Sie allein oder mit jemand anderem aufgebrochen?«
»Allein, glaube ich.«
»Sind Sie unterwegs irgendwelchen anderen Personen begegnet?«
Dan zuckte hilflos die Achseln.
»Was ist passiert?«, drängte Francis.
Der Mann im Klinikbett schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, es ist alles weg. Ich weiß nur noch, dass ich vor dem Victory Inn gestanden habe, dann nichts mehr.«
»Der Arzt nimmt an, Sie seien betäubt worden, wahrscheinlich mit Äther, und dann sind Sie mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen. Was ist passiert, als sie wieder zu sich gekommen sind? Woran erinnern Sie sich?«, fragte Rory, der am Fußende des Betts Position bezogen hatte.
»Eine Frau hat geschrien, und ein Mann hat sich über mich gebeugt und mich angestarrt. Er hat mir gesagt, dass er Hilfe holen würde. Mein Hemd war verschwunden, und ich hatte Schmerzen. Es war schrecklich kalt, und ich habe geblutet. Ich konnte das warme Blut spüren, das meinen Arm hinablief.«
»Erinnern Sie sich an Ihren Angreifer? Jedes noch so kleine Detail könnte wichtig sein.«
»Er war weg. Der Mann hat der Frau ein paarmal gesagt, dass sie die Klappe halten soll. Sie haben einen Rettungswagen gerufen, und dann bin ich wieder ohnmächtig geworden.«
»Und das ist alles, an was Sie sich erinnern?«
Dan Carter schloss die Augen. Die Tür öffnete sich, und eine Krankenschwester betrat das Zimmer.
»Das genügt jetzt. Mr. Carter braucht Ruhe.«
»Danke, Dan«, sagte Rory. »Wir werden morgen wiederkommen und noch einmal mit Ihnen reden. Vielleicht ist Ihnen bis dahin mehr eingefallen.«
Dan schlug die Augen wieder auf. »Da ist noch eine Sache. Ich weiß allerdings nicht, ob ich mich daran erinnere oder ob ich mir das Ganze nur einbilde.«
»Erzählen Sie es uns«, forderte Francis ihn auf. Rory hörte die Anspannung in seiner Stimme.
»Es ist bloß ein einziges Bild: weiße Latexhandschuhe, die sich vor meinem Gesicht bewegen. Etwas schimmerte hindurch, als habe er Tattoos auf den Handrücken. Dunkelrote, große Tattoos. So ähnlich wie Rosen …« Er hob erneut die Achseln, heftiger diesmal, wobei er vergaß, dass seine Schulter verletzt war, bis er vor Schmerz zusammenzuckte.
»Raus mit Ihnen«, befahl die Krankenschwester. »Kommen Sie morgen wieder.«