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Marni
Rosen. Eines der am häufigsten gestochenen Motive, das man auf jedem erdenklichen Körperteil fand. Marni hatte schon lange aufgehört zu zählen, wie viele Rosen sie tätowiert hatte, und abgesehen von den Künstlern, die sich auf Tribal- oder schwarze Tattoos spezialisiert hatten, würde jeder Tätowierer seinen Beitrag geleistet haben. Tätowierungen auf den Handrücken waren allerdings weniger geläufig. Sie persönlich kannte niemanden, der sich Rosen auf die Handrücken hatte stechen lassen, weshalb sie erleichtert aufatmete.
Ob wohl die Chance bestand, den Mann im Internet ausfindig zu machen? Es wäre auf alle Fälle einen Versuch wert. Dan Carter hatte Glück gehabt, aber das nächste Opfer, das der Killer anvisierte, würde wahrscheinlich nicht davonkommen. Da er Dans Petra-Danielli-Tattoo nicht bekommen hatte, würde er sich vermutlich ein anderes Motiv von ihr suchen oder sich dem nächsten Künstler auf der Liste zuwenden. Sie schauderte und stellte fest, dass sie eine Gänsehaut auf den Armen bekam.
Nachdem DS Mackay sie mit seinem Anruf um vier Uhr morgens aus dem Bett geholt hatte, um sie zum County Hospital zu bestellen, hatte sie sich wieder hingelegt, allerdings ohne noch mal einschlafen zu können. Stattdessen hatte sie sich bis nach sieben im Bett gewälzt und gegen die wachsende Furcht angekämpft, die sie für gewöhnlich in den frühen Morgenstunden befiel. Einrichtungen wie Krankenhäuser, Polizeistationen und Ähnliches machten sie stets nervös, und als sie endlich eindämmerte, fand sie sich in einer finsteren Gefängniszelle wieder, in der die Wände immer näher kamen und die Decke wie ein drückendes Gewicht auf ihr lastete. Mit einem Ruck fuhr sie hoch und setzte sich auf, dann schloss sie erneut die Augen, und prompt passierte das Gleiche. Als sie schließlich doch einschlief, bot ihr der Schlaf keine Erholung, sodass sie gegen Mittag unruhig und ausgelaugt aufwachte. Zum Glück war Sonntag, was bedeutete, dass sie nicht arbeiten musste, doch die Vorstellung zweier mit Rosen tätowierter Hände, die ein Messer schwangen, trieb sie ins Studio. Dieser Mann verletzte Menschen, die sie kannte. Tötete sie. Sie musste etwas tun, um ihn aufzuhalten.
Sullivan und Mackay schienen nicht weiterzukommen. Es gab kaum forensische Spuren, und sie hatten niemand Speziellen in Verdacht. Diese neue Information allerdings konnte den Durchbruch bedeuten. Sie hatte nicht jeden Einheimischen mit Rosen auf den Händen auf dem Schirm, aber vielleicht stammte der Mörder ja auch gar nicht aus Brighton. Er hatte Evan Armstrong während der Tattoo-Messe umgebracht und Jem Walsh kurz danach. Nachdenklich gab sie Pepper einen Hundekeks, der sich damit unter ihren Schreibtisch zurückzog, und klappte ihren Laptop auf. Als er hochgefahren war, tippte sie »Brighton Tattoo Convention 2017« ein und klickte auf »Bilder«. Ob der Killer die Messe besucht hatte? Anzunehmen. Und wenn er tatsächlich da gewesen war, standen die Chancen, dass er dabei fotografiert worden war, verhältnismäßig gut – es waren buchstäblich Tausende von Bildern online, und wenn jemand wie sie sich die Zeit nahm, diese Aufnahmen durchzugehen, könnte sie den Bastard vielleicht ausfindig machen.
Sie schickte eine kurze E-Mail an Thierry, Charlie und Noa und bat sie, sich die Fotos von der Messe ebenfalls anzusehen, aber es war Sonntagmittag. Entweder lagen sie noch im Bett und schliefen ihren Kater aus, oder sie saßen im Pub und sorgten dafür, dass sie einen Kater bekamen. Egal. Marni scrollte durch das vorhandene Material und fasste sämtliche Hände ins Auge, ob darauf irgendwelche Rosen zu entdecken waren. Die Tätowierer trugen bei der Arbeit allesamt schwarze Latexhandschuhe, aber oft konnte sie die Hände ihrer Kunden sehen, und Marni entdeckte auch Bilder, auf denen die Tätowierer nicht arbeiteten und ihre Handschuhe ausgezogen hatten. Sie fragte sich, ob der Mörder tatsächlich ein Tattoo-Künstler war oder einfach ein Sammler.
»Mein Gott, Pepper, sieh mal, was ich hier entdeckt habe!«
Der Hund hob mit einem leisen Grunzlaut den Kopf, als er seinen Namen hörte, aber Marni war abgelenkt von dem Foto eines Tätowierers, den sie im vergangenen Jahr ein paarmal gedatet hatte. Es war nicht mehr daraus geworden, aber er war ein netter Kerl, und sie zählte ihn noch immer zu ihren Freunden.
»Hier bin ich, ich arbeite an Steve«, sagte sie zu ihrer Bulldogge, als sie ein Foto von sich entdeckte.
Pepper interessierte sich nicht dafür, aber Marni verweilte für einen Moment bei dem Bild. Vor ihrem Stand hatte sich eine Reihe von Zuschauern versammelt, die mitverfolgten, wie sie eine Farbschicht auf den Rücken des Tigers auftrug. Könnte einer von ihnen der Mann sein, nach dem sie suchte? War der Mörder vor ihrem Stand stehen geblieben und hatte sie bei der Arbeit beobachtet? Ein unbehagliches Gefühl beschlich sie, und ein Schauder lief ihr das Rückgrat hinab. Sie überprüfte die Hände, die auf dem Bild zu sehen waren, doch sie konnte keine Rosen entdecken. Trotzdem wurde sie das unbehagliche Gefühl nicht los. Sie streifte einen Schuh ab und legte ihren Fuß trostsuchend auf Peppers Schulter.
Der Nachmittag dehnte sich, und ihre Augen wurden zunehmend müder vom stundenlangen Starren auf den Bildschirm. Ein paarmal legte sie eine Pause ein, um sich einen Kaffee zu machen, dann nahm sie sich zehn Minuten Zeit, um mit Pepper Gassi zu gehen und eine Zigarette zu rauchen. Sie hatte viele tätowierte Hände entdeckt, aber keine mit Rosen. Vielleicht war das Ganze ein Schuss in den Ofen. Vielleicht war der Tattoo-Dieb gar nicht auf der Messe gewesen. Und wenn doch, dann müsste sie darauf hoffen, dass sie ihn auf einem der Fotos unter den mehr als siebentausend Messebesuchern entdeckte. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie müsste darauf hoffen, dass seine Hände von den Kameras eingefangen worden waren.
Sie hatte noch nie so viele tätowierte Hände gesehen. Die meisten Motive waren Teil der Sleeve-Tattoos, die sich über den gesamten Arm erstreckten, oder Kalligrafien auf den Knöcheln – LIEBE , HASS ; GUT , BÖSE ; EINSAMER WOLF oder WAS WÄRE WENN .
Es war den ganzen Tag über bewölkt gewesen, und die Dämmerung brach früh an. Marni knipste die Gelenklampe auf ihrem Schreibtisch an, nach wie vor entschlossen, jedes Foto von der Messe, das man ins Netz gestellt hatte, in Augenschein zu nehmen. Pepper seufzte im Schlaf – in Marnis Ohren ein süßes, beruhigendes Geräusch. Jetzt, da sie müde war, kam sie langsamer voran, und manchmal musste sie sich dasselbe Bild zweimal vornehmen, weil ihre Konzentration nachließ. Vielleicht würde sie noch eine Stunde durchhalten, den Rest könnte sie sich auch morgen früh anschauen …
Plötzlich schoss Pepper unter dem Schreibtisch hervor und gab ein tiefes Knurren von sich, dann rannte er bellend in den vorderen Bereich des Studios. Vor der Tür blieb er stehen. Als Marni zu ihm aufschloss, bebte er am ganzen Leib. Sie spürte, wie sie Panik bekam, und schnappte nach Luft.
»He, Pepper, was ist denn? Hast du etwas gehört?«
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die Straße war menschenleer. Es hatte angefangen zu regnen, Wassertropfen sprenkelten die Scheibe und bildeten kleine Rinnsale. Sie schaute nach rechts und nach links, um eine Erklärung für das Verhalten ihres Hundes zu finden. Da! Eine Bewegung in einem Eingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite, drei Häuser entfernt. Eine dunkle Gestalt, die mit den Schatten verschmolz. Sie starrte so lange auf die Stelle, bis schwarze Punkte vor ihren Augen tanzten, aber sie konnte nichts weiter entdecken. Es handelte sich um den Eingang zu einem Laden, und der Laden war geschlossen. Im Gebäude brannte kein Licht, weitere Bewegungen konnte sie nicht ausmachen.
Hatte sie wirklich etwas gesehen, oder hatte sie sich das Ganze nur eingebildet? Sie war momentan zu nervös – die ganze Sache ging ihr wirklich an die Nieren.
Sie wandte sich wieder Pepper zu. »Da ist nichts, Süßer«, sagte sie und strich ihm übers Fell. »Wahrscheinlich hast du bloß eine Möwe bemerkt, die auf Abfälle aus war.«
Marni drehte sich um und kehrte an ihren Schreibtisch zurück, aber Pepper blieb stehen, wo er war, und bewachte bebend vor Anspannung den Eingang vom Celestical Tattoo. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen und nahm sich erneut die Fotos vor, während Pepper vorne weiterknurrte. Die Bulldogge war nicht die hellste Leuchte, und sie hätte dem Ganzen normalerweise keine große Beachtung geschenkt, aber im Augenblick war sie einfach verunsichert. Ihre Hände zitterten, als sie über die Tastatur glitten. Seit sie die Leiche entdeckt hatte, war sie immer tiefer in den Fall hineingezogen worden. Was gar nicht gut war. Marni warf einen Blick auf die Uhr. Fast halb acht. Noch eine halbe Stunde, dann würde sie sich auf den Heimweg machen.
Es vergingen weitere zwanzig Minuten, als sie bei einem Foto innehielt: Es zeigte einen Unterarm, der gerade tätowiert wurde. Die Hand des Künstlers war im Weg, weshalb sie nicht sehen konnte, woran genau er arbeitete. Aber das war egal, das war nicht das, was ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte. Sie hatte aus einem ganz bestimmten Grund aufgehört weiterzuscrollen: Die Hand des Kunden war stark tätowiert, mit dunkelroter Tinte. Marni kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. War das eine Rose? Sie klickte das Bild an, um es zu vergrößern.
Das Tattoo könnte mit dem übereinstimmen, das Dan Carter beschrieben hatte. Doch so lange sie es auch betrachtete – sie konnte das Motiv beim besten Willen nicht erkennen, wusste nur, dass es sich auf keinen Fall um eine Rose handelte.
Aber um was dann?