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Francis
Es war mehr als nur ein bisschen außergewöhnlich für Bradshaw, sich an einem Sonntagabend im Präsidium blicken zu lassen. Es bewies, wie besorgt er wegen der Entwicklung des Falles war. Er erhoffte sich, dass der Ruhm einer schnellen Verhaftung auf ihn zurückfiel, und war sich zweifelsohne bewusst, dass seine Karriere am meisten darunter leiden würde, bliebe der Fall ungeklärt. Rory hatte Francis zögernd anvertraut, dass der Boss ihn unablässig unter Druck setzte, Leute anzuschleifen und Beweise gegen sie zusammenzutragen.
»Anstatt unbedingt Beweismaterial finden zu wollen, sollte man lieber erst Schlüsse ziehen und anschließend Verhaftungen vornehmen«, sagte Francis. »Hat er denn alles vergessen, was er bei der Ausbildung gelernt hat?«
»Das Problem ist, dass das Beweismaterial, das wir haben, uns bislang nicht weiterbringt«, erwiderte Rory seufzend. »Ein paar Informationen über die verwendeten Messertypen, aber keinerlei Spuren.«
Sie saßen in der Einsatzzentrale, tranken in wackeliger Waffenruhe eine Tasse Tee miteinander und brüteten über den Ereignissen der vergangenen vierundzwanzig Stunden, als Bradshaw hereinkam. Er schien überrascht, dass sich der neue leitende Ermittler mit dem DI verbrüderte, den er gerade von dem Fall abgezogen hatte.
»Was haben Sie hier zu suchen, Sullivan? Sie arbeiten nicht mehr an diesem Fall.«
Rory stand auf, damit er seinem Vorgesetzten Auge in Auge begegnen konnte.
»Ich habe ihn hergebeten. Er ist momentan mit keiner anderen Sache befasst, und ich bin der Ansicht, dass mir seine Fachkenntnisse helfen können zu analysieren, was gestern Nacht passiert ist. Es gibt keinen Grund, einen Officer außen vor zu lassen, der gern bereit ist, seinen Beitrag zu leisten.«
Zum Glück schienen seine Worte Bradshaw daran zu erinnern, warum er sich an einem Sonntagabend ins Präsidium bemüht hatte. »Ich möchte ein Update, Mackay. Kommen Sie in fünf Minuten in mein Büro.«
Als er weg war, nahm Rory wieder Platz und leerte seine Tasse.
»Ich will, dass Sie wieder an dem Fall arbeiten, Sullivan.«
Francis zuckte die Achseln. »Dann werden Sie wohl Bradshaw überzeugen müssen.«
Rory blickte ihn mit schmalen Augen an. »Nein. Wir werden ihn gemeinsam davon überzeugen.«
Francis klopfte an die Tür von Bradshaws Büro und trat ein. Sein Herz hämmerte, Adrenalin peitschte seine Nerven. Rory folgte ihm hinein.
Bradshaw, der einen Bericht las, blickte nicht auf.
»Setzen Sie sich, Rory«, sagte er.
Francis hustete, was genügte, Bradshaw zu verstehen zu geben, dass Rory nicht allein gekommen war.
»Was machen Sie denn hier? Ich hatte Rory gebeten, mich in dem Fall auf den neuesten Stand zu bringen. Von Ihnen war nicht die Rede.«
»Sie sollten mich die Ermittlungen weiterleiten lassen.«
Rorys Kopf fuhr zornig herum. »Was zum Teufel …? Das hatte ich nicht gemeint.«
»Ich bin der diensthöhere Officer. Ich sollte den Fall leiten.« Francis sah Rory an. »Wenn Sie wollen, dass ich weitermache mit dem Fall, müssen Sie für mich arbeiten. Haben Sie das verstanden?«
Bradshaw versuchte dazwischenzufahren, aber Francis machte keinen Rückzieher. Stattdessen fuhr er fort: »Gestern Nacht hatten wir Glück, großes Glück, um genau zu sein. Ein Liebespaar hat auf dem Heimweg nach der Sperrstunde den Tattoo-Dieb bei der Arbeit gestört. Er konnte entkommen, aber nun haben wir zwei Zeugen, außerdem hat sein Opfer überlebt. Wir brauchen dringend ihre Zeugenaussage.«
»Rory kann diese Informationen auch ohne Ihre Hilfe zusammentragen.«
»Bei dem Opfer handelt es sich um einen Mann namens Dan Carter. Er hat eine Ganzkörpertätowierung von einer Tattoo-Künstlerin aus Italien, Petra Danielli. Sie hat bei der Ausstellung in der Saatchi Gallery mitgewirkt. Alles deutet darauf hin, dass der Mörder Tätowierungen von einer exklusiven Gruppe von Künstlern sammelt – was meine ursprüngliche Theorie bestärkt. Die Theorie, an die übrigens weder Sie noch Rory geglaubt haben. Ich denke, es ist Zeit zuzugeben, dass ich recht hatte.«
Bradshaw sah mit zusammengekniffenen Augen von einem zum anderen. »Also schön, was haben Sie sonst noch, Sullivan?«
»Der Täter hat die Ränder der Tätowierung umrissen, offenbar mit einer kurzen Klinge. Dann hat er das Messer gewechselt und begonnen, Carters Schulter zu häuten. Die verwendeten Klingen ähneln denen, die bei Evan Armstrong verwendet wurden, auch wenn wir nicht nachweisen können, ob es sich tatsächlich um dieselben handelt. Das Muster der Schnitte legt nahe, dass er vorhatte, das ganze Tattoo in zwei Stücken zu entfernen – die Vorder- und die Rückseite –, was er sicher auch getan hätte, wäre er nicht unterbrochen worden.«
»Eine Ganzkörpertätowierung?«
»Ein Tattoo im japanischen Stil, das sich über den gesamten Oberkörper, Arme und Beine erstreckt.«
»Ach du lieber Himmel.«
»Mr. Carter konnte uns nur sagen, dass er von hinten angegriffen und bewusstlos gemacht wurde. Aber er erinnert sich an eine einzige Sache: Der Mörder trug weiße, durchscheinende Latexhandschuhe, durch die Carter sehen konnte, dass der Mann Tätowierungen auf beiden Handrücken hatte – dunkelrot, aller Wahrscheinlichkeit nach Rosen.«
»Dann kann er ihn also womöglich identifizieren.«
»Auf meinen Rat hin hat Mackay Hollins und Hitchins darangesetzt, sich auf die Suche nach Personen mit ähnlichen Tätowierungen zu begeben. Morgen werden sie sämtlichen lokalen Tattoo-Läden einen Besuch abstatten und sich erkundigen, ob irgendwer jemanden kennt, der Motive sticht, die Carters Beschreibung entsprechen. Ich bin zuversichtlich, Sir, dass wir bald einige Spuren verfolgen können.«
»Dass Rory bald einige Spuren verfolgen können wird, Sullivan«, stellte Bradshaw klar. »Was ist mit dem Paar? Wie konnte es den Mörder unterbrechen?«
»Die beiden hatten sich in eine schmale Gasse in den Lanes zurückgezogen, um ungestört zu sein. Sie bekamen nicht viel mit von dem, was um sie herum passierte, aber der Mörder sah in ihnen offenbar eine Bedrohung und stürmte an ihnen vorbei, um sich aus dem Staub zu machen. Etwa gleichzeitig hörten sie ein Stöhnen aus einem der Hinterhöfe, und der Mann ging los, um nachzusehen. Genau genommen haben die beiden Carter das Leben gerettet.«
»Was ist mit dem Täter? Was haben sie gesehen?«
»Nicht viel. Er trug eine große Tasche oder einen Rucksack bei sich, mit dem er das Mädchen beinahe umgerissen hätte, und er hatte seine Basketballkappe tief in die Stirn gezogen, damit man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Er war größer als der Mann, vermutlich über eins achtzig. Er hat kein Wort gesagt, und es war zu dunkel, um seine Haarfarbe zu erkennen.« Francis zuckte die Achseln. »Es ist die Information von Carter, die uns wirklich weiterbringen dürfte.«
Bradshaw legte die Hände auf der Schreibtischplatte übereinander. »Dann denken Sie also, ich sollte Sie wieder einsetzen. Hm. Rory leistet ordentliche Arbeit ohne Sie, und nichts, was Sie gerade gesagt haben, kann daran etwas ändern.« Sein Blick schweifte zu seinem Sergeant. »Rory, sind Sie bereit zurückzutreten?«, fragte Bradshaw ohne Umschweife.
»Nein, Sir«, antwortete der. »Schlussendlich verfüge ich über die größere Erfahrung.«
»Schwierige Entscheidung«, sagte Bradshaw.
Offenbar überlegte er noch, welche Wahl seiner Karriere dienlicher wäre, und das zählte für ihn mehr, als die Mordfälle zu lösen. Wofür Francis ihn verachtete.
Bradshaw stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus, den Rücken den beiden Officers zugewandt.
»Rory wird die Ermittlungen weiterhin leiten, und Sie nehmen sich vorerst frei, Sullivan. Ich werde Sie später wieder einsetzen.« Er konnte ihnen nicht mal in die Augen sehen.
»Vielen Dank, Sir«, sagte Rory. »Sie haben die richtige Wahl getroffen.«
Schleimiges Arschloch.
Für Francis gab es nichts weiter zu sagen.
»Da wir jetzt wissen, auf wessen Arbeit der Killer es abgesehen hat, sollten wir ihn aus der Reserve locken können«, schlug Rory vor.
»Sie wollen ihn in die Falle locken«, stellte Francis klar, »indem Sie ein potenzielles Opfer als Köder benutzen.«
»Halten Sie den Mund, Sullivan«, brüllte Bradshaw.
»Aber eine solche Vorgehensweise ist ethisch nicht zu vertreten.«
Bradshaw funkelte ihn an. Francis fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Unter diesen Umständen würde er nie mehr an dem Fall arbeiten können.
»Dann sind Sie also der Ansicht, wir sollten uns bei unseren Ermittlungen einzig und allein auf Carters verschwommene Erinnerung stützen und nach einem Mörder mit einer dunkelroten Rose auf dem Handrücken suchen, die noch dazu von einem Latexhandschuh bedeckt war?« Bradshaws Stimme klang höhnisch.
»Das ist lächerlich«, befand Rory.
Francis Handy vibrierte in der Hosentasche und zeigte einen Anruf an.
»Das ist im Augenblick die beste Spur, die wir haben«, sagte er.
»Mackay, tun Sie, was Sie für richtig halten, und erstatten Sie mir Bericht.«
»Ja, Sir.«
Das Handy vibrierte erneut.
»Ich bin mir sicher, dass wir von der Spurensicherung jede Menge Hinweise bekommen, sobald Rose mit dem Tatort fertig ist. Konzentrieren Sie sich darauf.«
»Ja, Sir«, sagte Rory wieder.
»So, Mackay, Sie und Ihr Team haben genau vierundzwanzig Stunden, um mir etwas Konkretes an die Hand zu liefern. Vermasseln Sie’s nicht, Sergeant. Bei mir gibt es keine zweite Chance.«
»Keine Sorge, ich werde es nicht vermasseln, Sir.«
»Sullivan, ich möchte Ihr Gesicht erst wieder hier sehen, wenn ich Ihnen einen anderen Fall zugeteilt habe.«
Kaum hatten sie Bradshaws Büro verlassen, strebte Rory ohne ein Wort zu sagen zur Treppe. Francis blieb zurück, zu wütend, um mit ihm zu reden, und zog sein Handy aus der Tasche. Als er es in der Hand hielt, vibrierte es erneut – jemand versuchte verzweifelt, ihn zu erreichen.
Er sah, dass mehrere Textnachrichten eingegangen waren. Alle von Marni Mullins. Er öffnete die neueste, und ein Foto füllte den kleinen Bildschirm. Eine Hand. Eine tätowierte Hand.
Aber keine Rose.
Das Tattoo war dunkelrot mit scharfen schwarzen Umrissen.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Francis begriff, was er da vor sich sah. Es war ein menschliches Herz, anatomisch korrekt dargestellt. Tropfend vor dunkelrotem Blut, als hätte es gerade noch geschlagen.
War das die Hand des Killers?