34
Marni
Als Marni im Präsidium eintraf, wurde sie von Angie Burton zur Einsatzzentrale begleitet. Die Polizistin sagte auf dem Weg dorthin kaum ein Wort und machte auf Marni einen ziemlich arroganten Eindruck. Egal. Sie war daran gewöhnt, dass man auf sie herabschaute – ein bestimmter Teil der Bevölkerung hatte für Menschen mit Tattoos nun mal nichts übrig.
Rory Mackay führte sie an einen leeren Schreibtisch, wo sie ihren Laptop auspackte.
»Francis meinte, Sie hätten Fotos entdeckt, die womöglich die Hände des Angreifers zeigen«, sagte er.
Marni sah sich um. »Ist er nicht hier?«
»Er hat Ihnen nichts gesagt?«
»Was soll er mir gesagt haben?«
»Er hat gegen die Anweisungen seines Vorgesetzten verstoßen und eine Pressekonferenz abgehalten, deswegen ist er nun von dem Fall abgezogen.«
»Unfassbar. Er hat genau das Richtige getan. Deswegen durfte man ihn doch nicht von dem Fall abziehen!«
»Mag sein, aber jetzt belagert uns die Presse. Die Journalisten sprechen von den Morden des ›Tattoo-Diebs‹. Die hohen Tiere toben. Zeigen Sie mir die Fotos«, wechselte er abrupt das Thema.
Marni scrollte durch ihre Ordner und öffnete die Galerie.
Rory starrte auf das vergrößerte Bild eines tätowierten menschlichen Herzens auf dem Bildschirm. Marni beobachtete ihn. Sie hatte die ganze letzte Stunde damit verbracht, das Bild zu betrachten – sie musste es nicht noch einmal anschauen.
»Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«, fragte Rory und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Sicher. Menschliche Herzen sind nichts Ungewöhnliches, meist tätowiert man sie auf die Brust, aber man findet sie auch an allen möglichen anderen Stellen. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, solche Herzen schon einmal auf Handrücken gesehen zu haben.«
»Und Sie glauben, das ist es, was Dan Carter durch die Handschuhe des Angreifers gesehen haben könnte?«
Marni zuckte die Achseln. »Möglich. Aber das heißt nicht, dass sich nicht auch Hunderte andere Personen mit Rosen oder Herzen oder sonst was auf dem Handrücken finden lassen.«
»Kommt Ihnen die Arbeit bekannt vor?«
»Ganz und gar nicht, aber ich habe das Foto Thierry und seinen Kollegen Charlie und Noa geschickt – vielleicht fällt ihnen dazu etwas ein. Vielleicht bekommen wir einen Hinweis von dem, der den Kerl tätowiert hat. Das Foto wurde bei der Messe aufgenommen, wodurch die Zahl der in Frage kommenden Tätowierer eingeschränkt wird.«
»Wie viele waren da?«
»Ungefähr dreihundertfünfzig.«
»Großartig.«
»Aber knapp die Hälfte davon waren Frauen.«
Rory betrachtete das Bild erneut. Sie hatte recht – die Hände des Tätowierers waren groß und kräftig und steckten in schwarzen Handschuhen. Auch seine muskulösen Unterarme waren zu erkennen. Sein Gesicht war nicht auf dem Foto zu sehen, wohl aber sein T-Shirt – ein Iron-Maiden-Tour-Shirt, dessen schwarze Farbe verwaschen war.
»Angie, Tony, kommt doch mal her und seht euch das an.«
Die beiden Detectives traten an den Schreibtisch, an dem Marni saß, und blickten über ihre Schulter hinweg auf den Monitor. Hitchins stieß einen lang gezogenen Pfiff aus.
»Ekelhaft«, sagte er.
»Angie, holen Sie doch bitte einen USB
-Stick, und dann versuchen Sie herauszufinden, wer dieser Tätowierer ist.«
»Klar, Chef«, sagte Angie und kehrte an ihren eigenen Schreibtisch zurück. Einen Augenblick später war sie wieder da. Ohne Marni um Erlaubnis zu fragen, steckte sie den Stick an der Seite ihres Laptops ein.
»Laden Sie die Fotos bitte runter«, sagte sie.
Marni war nicht begeistert über ihren Ton.
»Das sieht so aus, als würden wir die berühmte Nadel im Heuhaufen suchen«, ließ sich Hitchins vernehmen.
»Dann finden Sie sie.« Rory wandte sich Marni zu. »Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben, Miss Mullins. Wir bleiben in Verbindung, falls wir noch etwas benötigen.«
Angie zog den USB
-Stick aus dem Laptop, und Marni wurde klar, dass sie entlassen war. Auch gut. Sie brauchten Francis nicht länger, genauso wenig wie sie. Es erschien ihr mehr als unfair, dass man ihm den Fall entzogen hatte, weil er sich an die Presse gewandt hatte, um die Menschen zu warnen, aber entsprach das nicht genau dem, was sie von der Polizei erwartete? Nun, wenn ihre Hilfe nicht länger erwünscht war, würde sie sich bestimmt nicht aufdrängen. Allerdings wäre es besser, wenn sie diesen Irren schnappten, bevor er erneut zuschlug.
Alex schaute Fußball, als sie nach Hause kam. Es war schon nach elf, aber an seinen Klamotten – schwarze Bondage-Hose und zerrissenes Bob-Marley-Shirt – konnte sie erkennen, dass er vorhatte, noch auszugehen.
»Was steht an?«, fragte sie und ließ sich mit einem Glas Wein und einer Tüte Chips neben ihn aufs Sofa fallen.
»Livs Freund gibt eine Party, bevor er auf Reisen geht.«
»Klingt gut.«
»Kann ich Bier mitnehmen?«
»Haben wir denn welches?«
Alex zuckte die Achseln, aber dies herauszufinden, interessierte ihn anscheinend nicht genug, um aufzustehen und nachzusehen.
Marni nippte an ihrem Wein und ignorierte das Fußballspiel. Sie hatte heute genug Zeit vor dem Bildschirm verbracht. Sobald Alex weg wäre, würde sie ein ausgedehntes, heißes Bad nehmen. Sie lehnte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen.
»Mum!«
Marni setzte sich mit einem Ruck auf und schüttete Wein auf ihren Schoß und das neben ihr liegende Kissen.
»Klingel!«
»Ja, dann mach doch auf.«
Alex warf ihr einen finsteren Blick zu, aber er stemmte sich vom Sofa hoch. Marni tupfte den Wein mit ihrem Ärmel ab und hoffte inständig, dass nicht Thierry vor der Tür stand.
»Es ist für dich – dieser Cop!«, rief Alex aus dem Flur. »Ich bin dann mal weg. Bis morgen!«
»Du bleibst über Nacht weg?«
»Wahrscheinlich.« Alex steckte den Kopf zur Tür herein. »Außerdem schläfst du doch eh, wenn ich nach Hause komme.«
Sie stand auf und schaffte es, ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken, bevor er sich zum Gehen wandte. Durch die offene Tür sah sie, dass Francis Sullivan im Flur stand – und aus irgendeinem Grund ließ sie dieser unerwartete Anblick für einen Moment verlegen werden. Als die Haustür hinter Alex ins Schloss gefallen war, bedeutete sie ihm, ins Wohnzimmer zu kommen.
»Hi«, sagte sie. »Kommen Sie herein.«
Pepper bellte aufgeregt, als Francis den Raum betrat, und rappelte sich von seiner Decke vor dem Kamin hoch, um am Hosenbein des späten Gastes zu schnuppern. Francis ignorierte ihn.
»Es tut mir leid, dass ich um diese Uhrzeit noch vorbeischaue, aber Rory hat mir gerade diese Fotos geschickt, und ich dachte, Sie würden sie sich ansehen wollen.«
Also wusste wenigstens einer aus dem Team ihre Bemühungen zu schätzen. Dann fiel ihr ein, dass er ja gar nicht mehr an dem Fall arbeitete.
»Rory hat gesagt, man hat Sie von dem Fall abgezogen.«
Francis stellte seinen Laptop auf den Couchtisch.
»Offiziell ja. Im Geiste ist das für mich allerdings immer noch mein Fall.«
»Wein?«
Er zögerte einen Moment, bevor er antwortete. »Lieber nicht.«
Sie ignorierte seine Antwort, holte ein Glas, schenkte ihm ein und sich noch und setzte sich neben ihn aufs Sofa.
»Sehen Sie sich die hier mal an«, sagte er. »Das ist der Tätowierer, der an dem Mann gearbeitet hat, den wir für verdächtig halten.«
Marni betrachtete die Fotos, die er aufrief. Auf dem Monitor erschienen mehrere Aufnahmen von einem muskelbepackten Tattoo-Künstler mit einer Reihe verschiedener Kunden. Manche zeigten ihn in dem verwaschenen Iron-Maiden-T-Shirt, und seine muskulösen Unterarme mit den Tribal-Tattoos waren eindeutig dieselben wie auf dem Bild, das sie von ihm und dem Mann mit den menschlichen Herzen auf den Handrücken entdeckt hatte.
»O ja«, sagte Marni. »Das ist er. Hat ja nicht lange gedauert, bis ihr ihn aufgespürt habt.«
»Rory hat das gesamte Team darauf angesetzt. Das ist der Vorteil, wenn man gut besetzt ist. Er nennt sich James Diamond. Haben Sie schon mal von ihm gehört?«
Marni schüttelte den Kopf. Sie kannte weder den Namen noch den Mann auf dem Foto. »Und was passiert als Nächstes?«
»Wir werden uns mit ihm in Verbindung setzen und herausfinden, wen er auf der Messe tätowiert hat. Das sollte uns zum Killer führen.«
»Möglich. Wenn es tatsächlich das tätowierte Herz ist, das Dan durch den Handschuh gesehen hat.«
»Selbstverständlich. Und wenn nicht, dann sind wir eben wieder bei Punkt null.«
»Wo arbeitet dieser James Diamond?«, wollte Marni wissen.
»In einem Studio in Guildford. Haben Sie Lust auf einen kleinen Abstecher dorthin, am besten gleich morgen früh?«
»Ich dachte, das wäre nicht mehr Ihr Fall.«
»Das sind sicher keine Ermittlungen, denen Bradshaw zustimmen würde. Rory wird sich auf die Richtung konzentrieren, die der Boss ihm vorgibt. Er wird die nächsten ein, zwei Tage nicht dazu kommen, Diamond zu befragen.«
»Im Ernst?«
»Wir könnten ihm zuvorkommen. Ich bin nach wie vor entschlossen, diesen Fall zu lösen, und wenn Sie mich fragen, ist das hier womöglich eine wichtige Spur.«
Francis Sullivan muss etwas beweisen.
»Klar, ich komme mit Ihnen. Es liegt ja auch in meinem Interesse, den Mörder hinter Schloss und Riegel zu wissen, zumal ich die Hälfte seiner Opfer kenne.« Sie trank ihren Wein und dachte einen Moment lang nach. »Die Stunden, die ich mit dem Durchsehen der Fotos verbracht habe, haben sich anscheinend gelohnt.«
»Das ist die Grundlage ordentlicher Polizeiarbeit. Man muss jeden Stein umdrehen und jedes Detail genau überprüfen.«
»Langweilig.«
»Aber der Mühe wert, wenn man schlussendlich das eine winzige Detail entdeckt, mit dem sich das Puzzle zusammenfügen lässt. Das kann ein einzelnes Haar sein, das zum Mörder oder zum Opfer passt, es kann die Aufnahme einer Überwachungskamera sein, die das Alibi eines Verdächtigen platzen lässt – ganz gleich, was, es spornt einen mächtig an.«
»Verstehe. Das klingt ganz ähnlich, wie wenn ich ein ausgesprochen diffiziles Tattoo anfertige – zum Beispiel Hunderte von Chrysanthemenblättern, die im Grunde alle gleich aussehen. Doch ist es erst einmal fertig, ist es wundervoll zu sehen, wie der Kunde es zum ersten Mal im Spiegel betrachtet.«
»Vorausgesetzt, ihm gefällt das Ergebnis«, entgegnete er mit einem schiefen Lächeln.
Dieser Anflug von Humor überraschte sie. Sie kannte ihn noch nicht sehr lange, aber das war das erste Mal, dass er versucht hatte, einen Scherz zu machen.
»Warum sind Sie eigentlich immer so ernst?«, fragte sie ihn.
»Wie bitte?« Er wirkte aufrichtig erstaunt.
»Sie sind immer so ernst«, wiederholte sie. »Das war der erste Scherz, den Sie in meiner Gegenwart gemacht haben. Und so lustig war der nun auch nicht.«
»Nein, natürlich nicht.« Sein Lächeln wurde breiter.
Überrascht stellte Marni fest, dass sie ihn gern öfter so sehen würde.
Oh-oh! Das ist nicht gerade das, was du jetzt gebrauchen kannst.
Marni streckte sich und warf einen Blick auf die Uhr. Es war nach Mitternacht, und sie brauchte dringend eine Zigarette. Wegen Alex rauchte sie nicht im Haus.
»Ich gehe kurz raus auf eine Kippe. Haben Sie Lust, sich die Beine zu vertreten?«
»Klar.«
Draußen im Garten zündete sie sich eine an und inhalierte tief, wohl wissend, dass Francis sie beobachtete.
»Möchten Sie eine?« Sie hielt ihm die Schachtel entgegen und ließ sie vor Verblüffung fast fallen, als er tatsächlich die Hand danach ausstreckte.
»Ich hatte keine Zigarette mehr, seit ich auf der Schule war«, sagte er und zog vorsichtig eine heraus.
»Aber Sie haben tatsächlich eine geraucht?«
»Na ja, nur eine«, erwiderte er mit einem kläglichen Grinsen.
»Dann wollen Sie doch jetzt nicht wirklich eine?«
»Als Sie an der Zigarette gezogen haben, ist ein anderer Ausdruck auf Ihr Gesicht getreten«, sagte er. »Zufriedenheit. Erleichterung. Genuss. Ich will herausfinden, was das war. Nennen Sie es Recherche.«
Zufriedenheit und Genuss war ganz offensichtlich nicht das, was Francis Sullivan empfand, als er an der zweiten Zigarette seines Lebens zog. Während des unvermeidlichen Hustenanfalls warf er sie auf den Boden und krümmte sich vornüber. Für einen Augenblick dachte Marni, die schrecklich lachen musste, ihm wäre übel. Pepper, der sich zu ihnen in den Garten gesellt hatte, fing an zu bellen und rannte aufgeregt umher. Vermutlich hatte er eine Katze gesehen.
»Das tut gut, nicht wahr?«, fragte sie schmunzelnd, während sie den letzten Zug nahm und den kurzen Stummel in einem kleinen Sandkübel am Rand der Terrasse ausdrückte.
Francis gab einen abgehackten Laut von sich, als er versuchte, den Rauch aus seiner Lunge zu vertreiben.
»Geben Sie mir nie wieder eine. Nie!«, krächzte er heiser.
»Keine Sorge. Sie haben nämlich soeben eine wunderbare Zigarette verschwendet.«
Sie stand vor ihm, und ohne nachzudenken, strich sie ihm die Haare aus der Stirn. Ihre Augen begegneten sich, als sie ihre Hand an seiner Schläfe verweilen ließ.
Was tust du da?
Er schien sich zu ihr zu beugen, und Marni spürte, wie sich die Erregung in ihr ausbreitete wie ein Lauffeuer. Sie wollte ihn küssen, und genau das schien er auch zu wollen, doch ein plötzliches drohendes Knurren von Pepper holte sie beide schlagartig zurück auf den Boden der Tatsachen.
»Was ist los, Junge?«, fragte Marni.
»Ist Ihr Hund eifersüchtig?«
Marni schüttelte den Kopf. Zumindest war Francis bewusst, was gerade eben beinahe passiert wäre.
»Normalerweise nicht. Ich glaube nicht, dass er deswegen knurrt. Irgendetwas hat ihn erschreckt. Er hat sich heute Abend schon mal so seltsam benommen.«
Francis sah sich in dem kleinen Garten um.
»Was ist hinter dem Zaun?«
»Eine schmale Gasse, zu der man von der Straße her Zugang hat.«
»Hm.« Francis blickte sich mit gerunzelter Stirn um. »Ich kann nichts sehen. Vielleicht hat er einen Fuchs oder eine Katze entdeckt.«
Das hatte Marni auch schon gedacht, aber merkwürdig war es trotzdem. Er führte sich doch sonst nicht so auf. Wie dem auch sei – der Zauber war gebrochen, und sie kehrten zurück ins Haus. Marni bot Francis Kaffee an, doch der lehnte ab.
»Ich sollte jetzt lieber gehen. Morgen früh – «, er warf einen Blick auf die Uhr, »nein, wohl eher heute früh, komme ich bei Ihnen vorbei, und wir statten James Diamond einen Besuch ab.«
Marni brachte ihn zur Haustür und wurde erneut von dem Verlangen überwältigt, ihn zu küssen, doch sie konnte sich gerade noch beherrschen.
Was zum Teufel sollte das?
Als er weg war und sie im Bett lag, brauchte sie länger als gewöhnlich, um einzuschlafen. Nicht wegen ihrer üblichen nächtlichen Panikattacken, sondern weil sie nicht aufhören konnte, sich auszumalen, wie es wohl sein mochte, Francis Sullivan zu küssen und wohin das führen würde. Sie redete sich ein, dass das gar nichts zu bedeuten hatte, trotzdem bekam sie ein Bild nicht aus dem Kopf: Francis, wie er vor ihr auf der Terrasse stand, und sein widerspenstiges Haar, das ihm in die Stirn fiel. Es hatte sich völlig natürlich angefühlt, es beiseitezustreichen.