35
Marni
Es dauerte nicht lange, bis ihr aufging, dass der Grund, warum Francis Sullivan sie eingeladen hatte, ihn nach Guildford zu begleiten, ihr Auto war. Am nächsten Morgen kam er zu Fuß zu ihrem Haus und erklärte, dass sein Wagen ein Dienstwagen sei und dass er gegen die Vorschriften verstoßen würde, wenn er ihn bei diesem ungenehmigten Ausflug einsetzte.
»Und was, wenn ich meinen Wagen Alex geliehen hätte?«, fragte sie und nahm die Schlüssel vom Küchentresen.
Francis schien weder ihren linksgesteuerten Citroën Deux Chevaux noch ihren abgehackten Fahrstil zu schätzen. Doch wie dem auch sei – er war ein schlechter Beifahrer. Sie hatten kaum die Great College Street verlassen, als Marni feststellte, dass er sich an der Kante des Beifahrersitzes festklammerte, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Der Motor dröhnte, eine Federung war so gut wie nicht vorhanden, aber Marni hatte den Wagen von Frankreich mitgebracht, als sie und Thierry nach England gezogen waren. Die Erinnerungen daran, wie sie die baumbestandenen Landstraßen entlanggefahren waren, einen Picknickkorb auf der Rückbank, Thierry laut zu der Musik aus dem Radio singend, waren für sie die einzigen glücklichen Erinnerungen an Frankreich, und sie war fest entschlossen, die Ente so lange zu behalten wie möglich.
»Dieser Wagen ist doch reif für den Schrottplatz«, sagte Francis. »Ist es denn noch sicher, damit zu fahren?«
»Absolut«, erwiderte Marni, dann wechselte sie grinsend das Thema. »Gestern Abend war super, oder?«
Sein Kopf wirbelte zu ihr herum.
»Wir haben den Tattoo-Künstler ausfindig machen können, erinnern Sie sich?« Glaubte er ernsthaft, sie würde auf den Beinahe-Kuss anspielen?
Francis starrte aus dem Fenster, aber sie konnte sehen, dass seine Wangen brannten.
In Guildford angekommen, schüttete es, und als sie zehn Minuten später das Tattoo-Studio entdeckten, war Marni wenig begeistert, dass davor absolutes Halteverbot war.
»Wir finden bestimmt ein Parkhaus«, sagte Francis, der sah, dass sie den Wagen trotzdem dort abstellen wollte.
»Sie sind von der Polizei. Sie dürfen im Rahmen Ihrer Ermittlungen doch mit Sicherheit in einer Halteverbotszone parken. Immerhin handelt es sich um Mord!«
Francis sah sie von der Seite an. »Nein. Bei der Polizei zu sein bedeutet nicht, dass man nach Lust und Laune gegen das Gesetz verstoßen kann.«
»Indem man im Halteverbot parkt?«
»Bei einem Notfall kann man das durchgehen lassen, aber das hier ist kein Notfall, Marni.«
»Da draußen läuft ein Killer durch die Gegend – und das soll kein Notfall sein?«
Francis ignorierte ihren Einwand und deutete auf die Einfahrt eines mehrgeschossigen Parkhauses. Marni fuhr hinein und setzte missmutig in eine freie Lücke. Nun würden sie zehn Minuten durch den Regen latschen müssen, nur weil er so ein Spießer war. Die Polizisten, denen sie im Leben bislang begegnet war, hätten ohne mit der Wimper zu zucken im Halteverbot geparkt.
Ihre Laune sackte noch mehr in den Keller, als sie feststellten, dass das Tattoo-Studio noch nicht geöffnet hatte. Enttäuscht standen sie im Regen und spähten durch die Fenster ins Ladeninnere. Es war ein ansprechendes Studio, das Equipment war blitzsauber und lag ordentlich aufgereiht parat. Marni würde niemals einen Fuß in ein unaufgeräumtes Tattoo-Studio setzen. Ein unordentlicher Tätowierer schlampte wahrscheinlich auch bei der Hygiene, und das war ein absolutes No-Go.
Francis klopfte an die Glastür, dann drückte er mehrmals auf die Klingel.
»Rufen Sie doch mal an«, schlug Marni vor. Auf der Glastür klebte eine Telefonnummer.
Als Francis wählte, öffnete sich eine Tür links neben dem Laden. Ein Mann streckte seinen Kopf heraus. Er war offenbar gerade aufgewacht. Auf der Hand, mit der er die Tür hielt, war ein polynesisches Band-Tattoo zu sehen.
»Mann, wir haben geschlossen. Kommt am Nachmittag wieder.« Er sprach mit australischem Akzent.
»Bist du James Diamond?«, fragte Marni.
»Wer sonst?«
»Ich bin Marni Mullins.« Sie trat auf ihn zu.
Er öffnete die Tür ein Stück weiter, um ihnen zu zeigen, dass er nur T-Shirt und Boxershorts anhatte. Seine Arme und Beine waren mit schwarzer Tinte bedeckt.
»Ich kenne deine Arbeit«, sagte Diamond. »Ist echt super. Hi.«
»Das hier ist DI Sullivan«, stellte Marni Francis vor.
Francis trat einen Schritt vor.
»Ich untersuche die Morde, die vor Kurzem in Brighton geschehen sind«, sagte er.
Diamonds Augen weiteten sich. »Sie meinen die Morde des Tattoo-Diebs?«
»Ja. Können wir reinkommen und mit Ihnen reden? Es wird nicht lange dauern.«
»Hören Sie, ich habe damit nichts zu tun.«
»Du bist kein Verdächtiger«, warf Marni rasch ein. »Wir wollen nur etwas über ein Foto wissen, das auf der Tattoo-Messe aufgenommen wurde. Wir versuchen, jemanden zu identifizieren.«
Diamond atmete hörbar aus vor Erleichterung. »Klar. Ich ziehe mir schnell etwas an, dann können wir im Studio reden.«
Zwei Minuten später erschien er in Jeans und einem frischen T-Shirt an der Ladentür und öffnete ihnen. Sie folgten ihm hinein, und Marni sah sich um. Es war nicht schwer, Diamonds Spezialisierung zu erkennen – es war, als würde man eine Tiki Lounge aus den Fünfzigern betreten, stilecht mit Rattanmöbeln und Dekor von den Pazifischen Inseln an den Wänden. Polynesische Masken starrten auf sie herab, an einer Wand entdeckte sie eine Galerie mit Tribal-Motiven.
Sie zeigte ihm das Foto von ihm und dem Mann mit den menschlichen Herzen auf den Handrücken, und er betrachtete es mehrere Minuten lang nachdenklich.
Marni beobachtete Francis, der sich mit größerem Interesse im Studio umsah, als sie es ihm zugetraut hätte. Sie fragte sich, ob er anfing, die Faszination der Tätowierkunst zu verstehen. Noch ein bisschen mehr Zeit, dann könnte sie ihn vielleicht überzeugen, sich selbst ein Tattoo stechen zu lassen. Es wäre spannend zu sehen, was für ein Motiv er auswählen würde, sollte es jemals dazu kommen.
»Ja, ich erinnere mich. Der Kerl war tatsächlich etwas seltsam.«
»Inwiefern?«, hakte Francis nach.
»Nervös und so gar nicht gesprächig.«
»Was für ein Tattoo hast du ihm gestochen?«, fragte Marni.
»Ein Symbol, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er hat es mitgebracht, von Hand gezeichnet auf einem Blatt Papier. Ich habe keine Ahnung, was es bedeuten sollte.«
»Hast du eine Kartei angelegt oder irgendwas aufgeschrieben?«
James schüttelte den Kopf. »Nicht für die Laufkundschaft auf einer Messe. Dort sticht man einfach das Tattoo und nimmt das Bargeld.«
»Dann haben Sie also keinen Namen für uns?«, wollte Francis wissen.
Diamond überlegte kurz, dann sagte er: »Sam. Sam Kirby oder Corby, glaube ich. Er hat erwähnt, dass er außerhalb der Stadt wohnt, auf einer Farm an der Ditchling Road …« Er zuckte die Achseln und verstummte.
Francis platzte beinahe vor Aufregung, als sie zum Parkhaus zurückkehrten.
»Endlich. Endlich haben wir eine ordentliche Spur.«
»Glauben Sie wirklich, das könnte unser Mann sein?«
»Das weiß bloß Gott allein.« Er warf einen entschuldigenden Blick gen Himmel. »Wahrscheinlich hat er Diamond nicht seinen richtigen Namen genannt, und die Ditchling Road ist ewig lang. Vielleicht ist er längst umgezogen oder weitergezogen. Vielleicht ist er noch nicht mal der Kerl, nach dem wir suchen – und vielleicht hat er ein absolut wasserdichtes Alibi, sollten wir ihn denn tatsächlich finden. Aber zumindest kommt Bewegung in den Fall, und wir haben etwas zu tun.«
Er zog sein Handy aus der Tasche.
»Angie, können Sie bitte einen Namen für mich überprüfen? Sam Kirby oder Corby, Wohnsitz angeblich in der Ditchling Road …«
Marni lief ein Schauder über den Rücken. Das Spiel hatte begonnen, und sie wollte verdammt sein, wenn sie es zuließ, dass dieser Killer zu einem weiteren Schlag gegen ihre Community ausholte.