36
Marni
Die Ditchling Road nahm im Stadtzentrum von Brighton seinen Anfang und erstreckte sich über acht Meilen nach Norden bis zu dem Dorf Ditchling. Hinter der Stadtgrenze führte sie steil bergauf in die hügelige Landschaft der South Downs, wo die viktorianischen Villen von Feldern und Bauernhäusern abgelöst wurden.
Auf dem Rückweg von Guildford nach Brighton meldete sich Angie bei Francis.
»Nein, sagen Sie Rory bitte nichts. Das hier ist ausschließlich für mich.«
Marni spitzte die Ohren, um zu hören, was Angie am anderen Ende der Leitung sagte, aber sie konnte nichts verstehen.
»Sie haben etwas gefunden? Gut. Ja. Danke, Angie, ich schulde Ihnen etwas … Ja, gern, dann einen Drink.«
»Haben Sie eine Adresse?«, fragte Marni.
»Ja. Es wäre allerdings besser, wenn Sie mich zum Präsidium bringen. Ich darf nicht mit einem Zivilisten im Schlepptau bei einem Verdächtigen auftauchen.«
»Wir könnten auf dem Weg nach Brighton über die Ditchling Road fahren.«
»Marni, das wäre gar nicht professionell. Wenn ich Sie mitnehme, gefährde ich womöglich die Ermittlungen. Und wenn wir tatsächlich dem Mörder begegnen … Nein, auf keinen Fall. Das ist keine Option. Ich werde Sie nicht in Gefahr bringen.«
»Ich kann doch im Auto bleiben. Sie können es sich nicht leisten, Zeit zu verschwenden. Was, wenn Diamond Sam Kirby oder Corby in Wirklichkeit kennt und ihn anruft, um ihn zu warnen? Dann geht er Ihnen durch die Lappen.«
»Kirby«, sagte Francis. »Angie hat die Adresse eines gewissen Sam Kirby ausfindig machen können.«
Er schwieg einen Augenblick lang, dann drehte er sich zu ihr. Sie warf ihm einen Seitenblick zu.
»Okay, wir machen einen Abstecher zu seiner Adresse und sondieren die Lage. Sollte es danach aussehen, dass jemand zu Hause ist, werde ich Rory anrufen, damit er Verstärkung mitbringt und den Kerl verhaftet. Was immer auch geschieht – Sie bleiben im Wagen.«
»Ich bleibe im Wagen.«
Aber sicher doch. Sie würde ganz bestimmt im Wagen bleiben.
Marni schlug eine andere Route ein als auf dem Hinweg, sodass ihr Weg nun über das Dorf Ditchling auf die Ditchling Road führte, die sich durch das sanft gewellte Acker- und Heideland der South Downs nach Brighton schlängelte.
»Welche Hausnummer?«, fragte Marni, als sie Ditchling hinter sich gelassen hatten.
Francis lachte. »Hier draußen gibt es keine Hausnummern. Es handelt sich um eine Farm – genauer gesagt, um die Stone Acre Farm.«
Die Häuser wurden immer spärlicher, als sie den Ditchling Beacon hinaufrollten, den dritthöchsten Punkt in den Downs. Die Straße führte in engen Kurven den bewaldeten Hügel hinauf, bis sie auf der Spitze angelangt waren. Vor ihnen lag die lange Fahrt hügelabwärts bis Brighton. Von hier oben konnte Marni eine Reihe von Bauernhäusern erkennen, die auf beiden Seiten ein Stück von der Straße zurückversetzt lagen.
Sie kamen an mehreren Häusern vorbei, die keinen Namen zu haben schienen, aber sie sahen auch nicht danach aus, als handele es sich um landwirtschaftliche Betriebe. Es folgte ein Haus, das ganz offensichtlich ein Hof war, und hier entdeckten sie auch ein Schild: High Croft Farm.
»Halten Sie bitte hier an«, sagte Francis. »Ich möchte fragen, wo wir die Stone Acre Farm finden.«
Ein alter Mann schlurfte über den Hof, gefolgt von seinem Hund, und fragte, was sie wollten.
»Sie suchen nach Stone Acre? Das ist die nächste Farm, ein Stück die Straße hinunter. Hat früher mal Tom Abbot gehört.«
»Kennen Sie einen Sam Kirby?«, erkundigte sich Francis.
»Nein, von dem hab ich noch nie was gehört. Aber Toms Kinder haben den Hof nach Toms Tod verpachtet. Soweit ich weiß, hat es in den letzten Jahren mehrere Pächter gegeben. Ich hab die Felder übernommen. Fahren Sie etwa zweihundert Meter weiter und biegen Sie dann nach rechts ab, anschließend folgen Sie der Zufahrt etwa eine Viertelmeile. Sie können den Hof nicht verpassen.«
Sie folgten seinen Anweisungen und stießen gleich am Anfang der Zufahrt auf ein Holzschild mit der Aufschrift Stone Acre Farm. Die Farbe splitterte ab, und der Pfosten stand schief, ein Beweis dafür, dass die Farm nicht länger bewirtschaftet wurde. Das durchhängende Tor stand offen, Gräser wuchsen aus den Rissen des betonierten Hofes. Der Garten des Bauernhauses war völlig zugewuchert, die Nebengebäude sahen aus, als müssten sie dringend repariert werden. Nirgendwo war ein Wagen zu sehen, die Fenster waren geschlossen, nichts deutete darauf hin, dass hier jemand wohnte.
Als Francis aus dem Auto stieg, blieb Marni sitzen und klappte das Fenster hoch. Auf dem Hof war alles still – der Verkehrslärm von der Ditchling Road wurde gedämpft durch die Hügelflanke und die dicht stehenden Bäume, es ging kaum ein Lüftchen. Ihre Haut kribbelte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie kannte dieses Gefühl gut genug, um es nicht einfach beiseitezuschieben, und sie war froh, dass sie in der Ente auf Francis warten konnte. Ein einzelner Regentropfen traf auf die Windschutzscheibe, dann öffnete der Himmel seine Schleusen.
Marni stellte den Scheibenwischer an und beobachtete Francis, der über den Beton zum überdachten Eingang des alten Bauernhauses ging. Er zog an einer schmiedeeisernen Glocke, und Marni hörte einen leisen Klang. Der ganze Ort erinnerte sie an Cold Comfort Farm, einen ihrer Lieblingsfilme.
Es war niemand im Haus, zumindest reagierte niemand auf Francis’ Läuten. Ohne sich um den Regen zu scheren, kehrte Francis zum Wagen zurück, blieb vor dem aufgeklappten Fahrerfenster stehen und zog sein Handy aus der Tasche.
»Rory? Ich bin auf der Stone Acre Farm, etwa eine Meile vom Ditchling Beacon entfernt Richtung Brighton.« Er lauschte einen Moment lang. »Nein, nicht der Rede wert. Allerdings denke ich, Sie sollten das Team herschicken. Ich rufe Sie an, sobald ich mehr weiß.«
Er steckte das Handy wieder ein und überquerte mit großen Schritten den Hof in Richtung der drei baufällig wirkenden Nebengebäude. Mit zunehmender Furcht blickte Marni ihm nach.
Er verschwand im ersten der drei Gebäude, einem verrosteten Wellblechschuppen neben einer sehr viel größeren Scheune. Als er außer Sicht war, wurde Marni noch nervöser. Hektisch sah sie sich im Wagen nach etwas um, was sie als Waffe benutzen konnte, sollte das tatsächlich nötig sein. Auf der Rückbank lag nichts, doch dann fiel ihr der Schraubenschlüssel im Kofferraum ein.
Als sie aus der Ente stieg, um ihn zu holen, kehrte Francis zurück und warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Hier ist es ziemlich unheimlich«, sagte sie und öffnete den Kofferraum.
»Bleiben Sie im Wagen«, forderte er sie eindringlich auf. »Ich bin gleich wieder da.«
Marni nahm den Schraubenschlüssel und setzte sich wieder auf den Fahrersitz. Mit dem schweren Metallteil auf dem Schoß fühlte sie sich schon besser.
Francis marschierte auf die große Scheune zu, auf der Suche nach dem Eingang, dann blieb er stehen und schnupperte.
»Irgendwas stinkt hier ganz gewaltig!«, rief er Marni zu.
Marni streckte den Kopf aus dem Fenster und atmete tief ein. Der Regen hatte die Bauernhofgerüche fortgespült, trotzdem hing ein stechender Geruch in der Luft.
»Wir sind auf einem Bauernhof«, sagte sie.
Er machte ein paar Schritte auf den Wagen zu. »Einem Bauernhof ohne Vieh.«
»Vielleicht ein totes Tier?«
»Möglich. Aber das riecht eher nach etwas anderem. Nach irgendwelchen Chemikalien.«
Er verschwand an der Seite der Scheune, doch gleich darauf kehrte er wieder zurück und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Das Scheunentor ist verschlossen. Mit einem glänzenden, nagelneuen Vorhängeschloss.«
»Sie brauchen einen Durchsuchungsbeschluss, oder?«
Der Ton seiner Stimme legte nahe, dass er nicht vorhatte zu warten, doch dann gewann die gesetzestreue Seite in ihm die Oberhand, und er verbrachte geschlagene zehn Minuten damit, Bradshaw am Telefon zu erklären, was er hier machte und dass er dringend einen richterlichen Beschluss benötigte.
Rory traf ein, begleitet von mehreren Constables, die er anwies, den Hof abzusperren. Francis stieg aus der Ente und redete mit ihm. Marni hörte durchs offene Fenster zu.
»Was zur Hölle macht sie denn hier?«, wollte Rory wissen, nachdem er sie am Steuer des Citroëns entdeckt hatte.
»Sie hat mir geholfen, Kirbys Namen und Adresse herauszufinden«, sagte Francis. »Ich wollte keine Zeit verschwenden, indem ich mich erst nach Brighton zurückbringen lasse. Miss Mullins wird im Wagen sitzen bleiben.«
»Jesus, Maria und Josef!«, rief Rory. »Regel Nummer eins bei der Polizeiarbeit: keine Zivilisten am Tatort. Wenn Sie zulassen, dass sie den Tatort kontaminiert, verlieren wir womöglich noch den Fall.«
Francis zeigte sich unbeeindruckt. »Sie ist jetzt eine Zeugin, die uns mit ihrem Fachwissen unterstützt. Sozusagen eine Sachverständige. Außerdem wissen wir doch gar nicht, ob es sich überhaupt um einen Tatort handelt, geschweige denn, ob das hier etwas mit unserem Tattoo-Dieb zu tun hat.«
Eine Sachverständige? Ach du liebe Güte!
Nicht zum ersten Mal bedauerte Marni, dass sie Evan Armstrongs Leiche entdeckt und ihren Fund der Polizei gemeldet hatte.
Es dauerte eine weitere Stunde, bis Hitchins den Durchsuchungsbeschluss brachte. Die Stimmung zwischen den beiden Polizisten war hochgradig angespannt. Francis saß auf dem Beifahrersitz der Ente und starrte durch die Windschutzscheibe auf das regengepeitschte Absperrband, Rory hockte zusammengekauert auf der Rückbank und vergiftete die Luft mit seinem Unmut darüber, dass er gezwungen war, seine E-Zigarette draußen im Regen zu rauchen.
Er hatte Hitchins die Anweisung erteilt, Bolzenschneider mitzubringen. Als er endlich eingetroffen war, schnappten sich Francis und Rory jeweils einen, dann verschwanden alle drei hinter der Ecke der Scheune und ließen Marni allein im Wagen zurück. Diesmal allerdings würde sie nicht sitzen bleiben. Sie öffnete die Fahrertür, wobei sie darauf achtete, dass die Angeln nicht quietschten, stieg aus und huschte zur Scheune, den Schraubenzieher fest in der Hand. Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Sie sah, wie Rory kurzen Prozess mit dem Vorhängeschloss machte und die Tür aufstieß. Francis betrat die Scheune, gefolgt von seinen beiden Kollegen.
Marni schlug seine Anweisung in den Wind und eilte ihnen nach. Als sie zu ihnen aufschloss, hörte sie Rory schockiert nach Luft schnappen. Francis erschien an der Tür, in seinen Augen stand Furcht.
»Steigen Sie wieder ins Auto, Marni«, sagte er. Seine Stimme zitterte.
Als sie weiter auf ihn zuging, erschien Rory an seiner Seite, der Marni mit ausgestreckten Armen den Weg verstellte.
»Das hier ist ein Tatort«, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
Sie wollte unbedingt sehen, was sie gefunden hatten, und versuchte, an ihm vorbeizuschauen. Ein durchdringender Fäulnisgeruch stieg ihr in die Nase.
Es war der Geruch des Todes.
Und von etwas sehr viel Schlimmerem.