37
Francis
Nie war Francis so erleichtert gewesen, von einem Tatort wegzutreten. Der überwältigende Gestank, der ihnen entgegenschlug, als sie die Tür öffneten, sagte ihm genug – er fasste Rory am Arm und zog ihn zurück. Drei Minuten später waren sie bereit, die Scheune erneut zu betreten, bekleidet mit weißen Anzügen, Überschuhen und Gesichtsmasken.
Francis atmete probehalber ein, als sie die offene Tür erreichten. Er hatte die Innenseite seiner Maske mit Wick VapoRub eingestrichen. Die ätherischen Dämpfe stachen ihm in die Augen, und bei jedem Atemzug atmete er den scharfen Duft von Menthol ein. Rory, der seine Maske ebenfalls eingeschmiert hatte, fing an zu husten. Tränen liefen ihm über die Wangen, die obere Hälfte der Maske wurde feucht.
»Okay, bringen wir’s hinter uns«, sagte Francis.
Auf der Schwelle stockte er, da er sich hin- und hergerissen fühlte zwischen Furcht und dem Wunsch, endlich zu erfahren, was sie vorfinden würden. Rory hinter ihm drängelte und zwang ihn, den ersten Schritt zu tun.
Gleich rechts neben der Tür befand sich ein Lichtschalter, auf den Francis mit seiner behandschuhten Hand drückte. Neonröhren hingen von den Deckenbalken und tauchten den Raum in ein grellweißes Licht. Es war sofort klar, dass das Gebäude von innen komplett renoviert worden war, während man an der Fassade nichts getan hatte.
Francis sah sich um. Der Raum wirkte riesig. Das Erste, was seine Aufmerksamkeit erregte, war eine Reihe von weißen Fünfzig-Liter-Bottichen aus Plastik an der linken Scheunenwand. Anschließend stellte er fest, dass die Wände mit vergrößerten Fotos von Tätowierungen bedeckt waren. Was zum Teufel war das denn?
Er wagte es kaum, über den glatten Betonfußboden zu den Bottichen hinüberzugehen. Als er näher kam, konnte er sehen, dass jeder einzelne randvoll mit Flüssigkeit war. Das war also die Quelle des fauligen Gestanks. Trotz seiner Maske konnte er kaum atmen, als ihm klar wurde, was sie enthalten würden.
»Allmächtiger«, sagte Rory, der ihm gefolgt war. »Ich weiß, was das ist. Im letzten Jahr war ich mit Liz und den Kindern in Marrakesch und habe die Gerbereien besucht. Da hat es genauso gestunken.«
»Du meinst, jemand gerbt Leder?«, fragte Francis und kämpfte gegen den Impuls an, schnurstracks zur Tür zu stürmen und diesen höllischen Ort so schnell er konnte hinter sich zu lassen.
Stattdessen rückte er langsam vor und zwang sich, in den ersten Bottich zu schauen. Unter der Oberfläche der dunklen Flüssigkeit konnte er bleiche Formen treiben sehen wie sterbende Fische in verschmutztem Wasser. Eine davon drehte sich langsam, sodass auf der anderen Seite die dunklen Umrisse einer Tätowierung sichtbar wurden. Galle stieg in Francis’ Kehle auf, und er musste rasch den Blick abwenden.
»Er präpariert Menschenhaut«, sagte er, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Nun wusste er, warum es der Mörder auf Tätowierungen abgesehen hatte und was er damit machte.
Rory trat neben ihn. »Ach du Scheiße.«
Mit zusammengebissenen Zähnen warf Francis einen Blick in die übrigen Bottiche. In jedem war eine andere Flüssigkeit, aber nicht alle enthielten Hautstücke. Es war schwer zu sagen, welcher der Bottiche am übelsten stank, vielleicht war es aber auch die Kombination der aufsteigenden Dämpfe. Die Spurensicherung würde alle Flüssigkeiten zu einer chemischen Analyse ins Labor schicken, wobei die genaue Zusammensetzung kaum eine Rolle spielen würde. Das Verbrechen war offensichtlich.
Francis wandte sich ab. Ihm war übel. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Arbeitstisch, auf dem sich allerhand unbeschriftete Flaschen und Ampullen mit Chemikalien befanden, außerdem mehrere Holzbretter mit dunklen Flecken, ein Messerblock und ein Behälter mit einer Auswahl an chirurgischen Instrumenten. Ein Pappkarton mit Latexhandschuhen. Eine Reihe von Büchern über Taxidermie und, an einem Ende des Arbeitstisches, ein ausgestopftes Eichhörnchen. Am anderen Ende sah Francis ein großes Waschbecken aus Stein. Er mochte sich nicht vorstellen, was dort durch den Abfluss gelaufen war.
»Sullivan?«
»Ja?«
Rory stand neben dem Waschbecken und deutete auf eine flache Schüssel auf dem Arbeitstisch.
»Das müssen Sie sich ansehen.«
Francis trat zu ihm.
Ein Polizist bekommt Dinge zu sehen, die er nie wieder vergisst, und Francis hatte schon eine ganze Reihe davon zu Gesicht bekommen. So etwas allerdings noch nicht. In der Glasschüssel lag ein rundes, zerknittertes Stück Haut, das aussah wie ein entleerter Luftballon, durch eine Schicht Frischhaltefolie vor dem Austrocknen geschützt. Das Spinnennetz-Tattoo war unverkennbar, auch wenn die Haut weiß und aufgeschwemmt wirkte. Rory berührte die Schüssel mit der Spitze seines Kugelschreibers, und das Tattoo wackelte wie Wackelpudding.
»Wir haben ihn, oder, Sullivan?«
Francis schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Er ist nicht hier.«
Rory zog sein Handy hervor. »Hitchins, wenn die Spurensicherung eintrifft, möchte ich, dass Sie das Bauernhaus auseinandernehmen und jeden Zentimeter des Grundstücks durchkämmen. Wir müssen uns die Entwässerungsgräben vornehmen, nach Jauchegruben und Stellen mit frisch umgegrabener Erde Ausschau halten. Und vor allem müssen wir herausfinden, wer der Kerl ist, verdammt noch mal …« Er musste seine Maske abnehmen, um telefonieren zu können, weshalb er sich die Hand vor den Mund hielt, um nach Luft schnappen zu können. »Ja, Überstunden sind genehmigt. Schaffen Sie jeden Mann, den die John Street entbehren kann, hierher, und zwar sofort.«
Anscheinend hatte sich Rory für seine Aufgabe als leitender Ermittler erwärmt.
Als er aufgelegt hatte, wandten sich beide den Tattoo-Fotos an den Wänden zu. Es waren Aufnahmen von den Tätowierungen darunter, die er Evan Armstrong, Giselle Connelly und Jem Walsh entnommen hatte, außerdem mehrere Bilder von Dan Carters Ganzkörper-Tattoo. Francis’ Blick blieb an einem großen Poster von der Ausstellung in der Saatchi Gallery hängen, dann schweifte er weiter zu anderen Motiven, die er nicht kannte.
»Zukünftige Opfer oder Leichen, die wir bislang nicht entdeckt haben«, überlegte Rory.
»Wir brauchen Marni. Sie sollte einen Blick darauf werfen.«
»Auf keinen Fall. Nicht dass sie noch den Tatort kontaminiert.«
»Nicht wenn sie in ihrer Eigenschaft als Sachverständige vor Ort ist.«
»Nein.«
»Kommen Sie, Rory. Sie hatte recht, was die Verbindung zwischen den Opfern betrifft, und sie könnte uns wichtige Informationen zu diesen Tattoos liefern und dadurch womöglich Menschenleben retten. Ich werde sie holen.«
Rory runzelte die Stirn, doch er tat nichts, um Francis davon abzuhalten.
Fünf Minuten später stand Marni neben ihm und betrachtete die an die Wand gehefteten Fotos. Ihre obere Gesichtshälfte über dem Mundschutz war blass geworden, aber sie blieb ruhig, obwohl ihr klar war, dass sie sich in der Werkstatt des Mörders befanden. Rory war hinausgegangen, um einen weiteren Anruf zu tätigen. Francis konnte nur raten, mit wem er sprach.
»Die sehen alle so aus, als stammten sie von den Künstlern, die auf der Ausstellung vertreten waren«, sagte sie nach einem kurzen Moment. »Wir hatten recht mit unserer Theorie.«
»Ihrer
Theorie«, stellte Francis richtig.
Marni zuckte die Achseln.
»Was ist mit denen, die wir noch nicht gesehen haben?«, wollte er wissen. »Ich gehe davon aus, dass es sich um zukünftige Zielpersonen handelt. Wenn es uns gelingt, sie zu identifizieren, können wir sie schützen.«
Marni ging an den Wänden entlang und fasste jedes einzelne Bild genau ins Auge.
»Erkennen Sie eins davon?«, fragte Francis.
»Ich habe eine Vermutung, von welchen Künstlern die Motive stammen, aber die Leute auf diesen Fotos …« Sie zuckte hilflos die Achseln.
Rory kam zurück und stellte sich zu ihnen.
»Nun? Was können Sie uns erzählen?« Sein Ton klang aggressiv.
Ohne auf seine Frage einzugehen, wandte sich Marni wieder den Bildern zu.
»Hier sind mehr Tätowierungen zu sehen als Künstler bei der Ausstellung mitgemacht haben«, sagte Francis. »Er scheint eine gewisse Auswahl haben zu wollen.«
»Manche davon lassen sich relativ leicht zuordnen, bei anderen ist es schwieriger«, sagte Marni. Sie betrachtete ein Sleeve-Tattoo an einem Frauenbein. Die Trägerin war leider nicht zu erkennen. »Das hier stammt definitiv von Iwao. Er hat sich auf die japanische Mythologie spezialisiert.«
»Und das da?« Francis deutete auf den Rücken eines Mannes. Die Tätowierung war schwarz-grau und zeigte den Fall Luzifers.
Marni betrachtete es, dann wandte sie den Blick ab.
»Es tut mir leid«, sagte sie, »ich kriege keine Luft durch die Maske.«
Ihre Beine fingen an zu zittern.
»Das ist ja schön«, hörten sie Rory sagen, der wieder auf seinem Posten war.
Marni und Francis drehten sich zu ihm um. Er deutete auf das Rücken-Tattoo einer Frau, ebenfalls im japanischen Stil. Zwei Karpfen in leuchtendem Orange schwammen in einem Becken, vor dem eine Geisha kniete, von deren Gesicht Tränen ins Wasser tropften. Der Zweig eines Ahornbaums, der seine unverkennbaren Blätter abwarf, zierte die obere linke Ecke.
»Noch ein Iwao?«, fragte Francis.
»Frank, ich glaube, ich werde ohnmächtig.«
Er konnte sie gerade noch auffangen.