38
Rory
Wie kann er es wagen? Sullivan benahm sich, als hätte man ihm wieder die Verantwortung für den Fall übertragen, dabei war er es, Rory, der die Ermittlungen leitete. Er hätte den Kerl vom Gelände verbannen sollen, sobald die Verstärkung eingetroffen war. Ihn und Marni Mullins. Stattdessen hatte er Mullins gestattet, den Tatort zu betreten, und sie war ohnmächtig geworden. Anschließend hatte er Hollins zwei Stunden abstellen müssen, da er jemanden brauchte, der sie nach Hause fuhr. Was für ein Schlamassel. Er hätte verhindern müssen, dass Sullivan und Mullins an die Informationen gelangen konnten, die sie zu Diamond und der Stone Acre Farm geführt hatten. Ein grundlegender Fehler. Für Rory bestand kein Zweifel daran, dass Sam Kirby der Mann war, nach dem sie suchten, und dass sie soeben den Durchbruch erzielt hatten. In der Scheune fand sich mehr als genug Beweismaterial, um Kirby für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen. Irgendwie musste er dafür sorgen, dass er die Anerkennung für diese Entdeckung einstreichen konnte, zusammen mit Bradshaw.
Rose Lewis traf ein und parkte ihren Van am Eingang zum Hof, Francis und Rory gingen zu ihr. Der Hof an sich gehörte zum Tatort, und in einer Minute würde sich das Team der Spurensicherung darüber hermachen. Die beiden Detectives führten Rose in die Scheune und warteten schweigend, während sie versuchte, das Ausmaß dessen zu begreifen, was sie hier vorgefunden hatten. Einer der Kriminaltechniker umrundete langsam das Innere der Scheune und machte unzählige Aufnahmen von den Bottichen und dem Arbeitstisch.
»Er stellt Leder her, richtig?«, fragte Francis, als Rose endlich signalisierte, dass sie gesprächsbereit war.
»Dazu sind mehr Schritte nötig, als sich die Leute vorstellen können«, sagte Rose. »Die meisten davon sehen vor, dass die Haut in einer Vielzahl verschiedener Chemikalien eingeweicht wird, um Fett und Haare zu entfernen, den pH-Wert zu neutralisieren, die Haut von den vorherigen Chemikalien zu reinigen, den Proteinanteil zu stabilisieren …
»Und wie lange dauert so etwas?«, wollte Francis wissen.
»Das hängt von den Chemikalien und der Qualität der Haut ab – alles zwischen ein paar Stunden bis hin zu mehreren Tagen oder sogar Wochen ist möglich.«
»Und das Prozedere bei menschlicher Haut ist nicht anders als bei Tierhäuten?«
Rory schnitt eine Grimasse. Diese ganze Thematik verursachte ihm Übelkeit.
Rose schüttelte den Kopf. »Nein. Da gibt es so gut wie keinen Unterschied; menschliche Haut wird ganz ähnlich verarbeitet wie Schweinehaut.«
»Welche von den gestohlenen Tätowierungen sind hier?«, fragte Rory, der nur zu gerne das Thema gewechselt hätte.
»Definitiv die Schädelhaut von Jem Walsh, allerdings haben wir weder Giselle Connellys Arm noch Evan Armstrongs Tattoo gefunden«, sagte Francis. »Aber das muss nichts heißen, wir haben ja gerade erst mit der Suche begonnen.«
Ein Kriminaltechniker trat zu ihnen und gab Rose ein Zeichen.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und folgte ihm.
Francis drehte sich zu Rory um. »Was haben Sie als Nächstes vor?«, fragte er den Sergeant.
»Wir müssen Kirby finden und ihn festnehmen. Wir haben genug Beweise für einen Haftbefehl, und ich habe bereits eine Fahndung nach ihm herausgegeben und Flughäfen, Bahnhöfe und Häfen informiert, sollte er außer Landes flüchten wollen. Angie Burton ist dabei, ein Foto von ihm aufzutreiben, damit wir wissen, wie er aussieht.«
Nun könnte Sullivan lernen, wie ein erfahrener Cop die Dinge handhabte.
»Glauben Sie, er wird versuchen, noch einmal zuzuschlagen?«, fragte Rose, die nun wieder zu ihnen trat.
Francis betrachtete die Wände mit den Tattoo-Fotos. »Er scheint es definitiv auf Arbeiten der Künstler abgesehen zu haben, die in der Saatchi Gallery ausgestellt haben. Ich gehe davon aus, dass er abtaucht, sobald er feststellt, dass wir hier sind. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass Sie so schnell wie möglich die Personen auf diesen Fotos identifizieren, damit wir ihnen Polizeischutz anbieten können.« Er schaute zu Rory hinüber. »Vielleicht könnte Hollins mit den entsprechenden Tätowierern in Kontakt treten und herausfinden, wer auf den Fotos abgebildet ist.«
Er versucht schon wieder, den Fall an sich zu reißen.
»Ich habe bereits mit Hitchins darüber gesprochen«, flunkerte Rory und nahm sich fest vor, dies umgehend zu tun. »Waren Sie schon im Haus?«
Francis schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
Im Bauernhaus wimmelte es von Kriminaltechnikern, die Fotos machten und nach Fingerabdrücken suchten. Ein Sergeant in weißem Schutzanzug kam auf Francis und Rory zu, als die beiden die Diele betraten.
»Bislang haben wir nichts gefunden, das in direktem Zusammenhang mit den Verbrechen steht«, sagte er, »aber es ist offensichtlich, dass das Haus bewohnt ist. In der Küche stehen Frühstücksreste, die nur von heute Morgen sein können. Sämtlicher Papierkram bezieht sich auf einen gewissen Sam Kirby. Er lässt sich die Kontoauszüge an diese Adresse schicken, und anscheinend bezahlt er brav seine Rechnungen.«
»Vielen Dank, Officer. Haben Sie einen Terminplaner oder einen Kalender entdeckt?«
Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit.
»Ich frage mich, wo er steckt«, überlegte Francis laut. »Sieht so aus, als hätten wir ihn verpasst. Leider.«
»Ich denke, Gott sei Dank wäre passender«, gab Rory zu bedenken. »Immerhin sind Marni und Sie hier ohne Verstärkung eingetroffen, was einfach verantwortungslos war. Er hätte Ihnen die Tür mit einem Messer in der Hand öffnen können!«
»Nun, jetzt, da es auf dem Hof von Polizei nur so wimmelt, wird er bestimmt nicht nach Hause kommen.«
»Sir, Sir!« Ein Polizist in Uniform stürmte zur Haustür herein.
»Was gibt’s?«, fragte Rory.
»Hinter der Hecke am Rand eines der Felder wurde ein Mann entdeckt. Er scheint das Grundstück mit einem Fernglas zu beobachten.«
»Kommen Sie«, sagte Francis und strebte im Eilschritt auf die Tür zu. »Das könnte er sein.«
»Unwahrscheinlich«, entgegnete Rory, dennoch würde er sich die Jagd nicht entgehen lassen.
Der Constable führte sie aus dem Haus und quer über den Hof zu einer Stelle, von der aus man die Felder einsehen konnte. Er deutete auf einen höher gelegenen, von einer dichten Hecke umgebenen Acker in Richtung des Ditchling Beacon. Ein hochgewachsener Mann in dunkler Kleidung sprang aus der Deckung und rannte unbeholfen hügelaufwärts, weg von ihnen.
»Idiot«, murmelte Francis. »Jetzt weiß er, dass wir ihn gesehen haben.«
Er stürmte an der Seite des gepflügten Ackers entlang, um die Verfolgung des Mannes aufzunehmen. Rory folgte ihm, aber er war anderthalb Jahrzehnte älter und vierzig Pfund schwerer als Francis, weshalb keine Hoffnung bestand, zu ihm aufzuschließen. Außerdem hasste er es, hügelaufwärts zu rennen. Schon nach den ersten fünfzehn Metern spürte er, wie ihm die Puste ausging.
Der Abstand zwischen Francis und ihm wurde größer, aber es war klar, dass der Inspector den Mann nicht würde erwischen können. Francis erreichte das obere Ende des Ackers und blieb vor der Hecke stehen. Rory sah, wie er sich nach einer Möglichkeit umblickte, das Hindernis zu überwinden, aber nirgendwo war ein Gatter oder ein Zauntritt zu sehen. Noch während Francis versuchte, über die Hecke zu steigen, verschwand der Mann, der sie beobachtet hatte, über die Hügelkuppe.
»Verdammt!« Francis zog sein Handy aus der Tasche. »Verdammt! Verdammt! Verdammt! Hier oben ist kein Empfang!«, tobte er, als Rory endlich zu ihm aufschloss. »Ich konnte ihn nicht schnappen, das Scheißgatter ist auf der anderen Seite des Ackers – sehen Sie, ganz dahinten!« Er deutete in die entsprechende Richtung.
Rory beugte sich laut keuchend vornüber, die Hände auf die Knie gestützt, und machte keinerlei Anstalten, seinem Blick zu folgen.
»Sieht so aus, als würde Ihnen ein bisschen Fitnesstraining guttun«, bemerkte Francis kurz angebunden, dann machte er kehrt und marschierte hügelabwärts.
Für einen Moment blieb Rory da, wo er war, und fluchte leise, während er darauf wartete, dass sich seine Atmung wieder normalisierte. Unter der Hecke glänzte etwas.
»Warten Sie!«
Francis kam zurück. Immer noch gebückt, ging Rory an der Hecke entlang, dann blieb er stehen und streckte die Hand aus. Seine Finger schlossen sich um kaltes, scharfes Metall.
»Autsch!«
Er zog die Hand zurück, dann griff er erneut nach seinem Fund, diesmal vorsichtiger, und sah nach, was er da entdeckt hatte. Es war ein Messer, die Klinge so scharf, dass sie ihm bei der bloßen Berührung in den Zeigefinger geschnitten hatte. Blut tropfte auf den Messergriff.
»Tolle Arbeit«, sagte Francis.
»Danke«, erwiderte Rory.
Francis zog eine Beweismitteltüte aus der Tasche seines weißen Schutzanzugs und streckte sie dem Sergeant entgegen. Rory ließ das Messer behutsam hineingleiten.
»Das war kein Kompliment, verdammt noch mal. Sie haben soeben das wichtigste Beweisstück verunreinigt, das wir im Augenblick haben.«