39
Francis
Blumen von der Tankstelle waren nicht unbedingt der Bringer, aber Francis wollte nicht mit leeren Händen aufkreuzen. Er hatte Marni an einen zutiefst erschütternden Ort gebracht, und nun würde er ihren Abend stören, indem er sie bat, einen Blick auf die Fotos zu werfen, die sie an ebenjenem Ort gefunden hatten. Er verwarf die Idee mit den Blumen und entschied sich für Wodka. Sie hatte einmal erwähnt, welche Marke sie am liebsten trank, und er hatte sie auf dem Rückweg von der Ditchling Road nach Brighton in einem ASDA -Supermarkt entdeckt.
Die Spurensicherung stand kurz davor, Feierabend zu machen; die Techniker wollten am nächsten Morgen zurückkommen und das Grundstück weiter nach Spuren durchkämmen. Er hatte veranlasst, dass das Gelände während der Nacht bewacht wurde für den Fall, dass Sam Kirby auftauchen sollte, außerdem hatte er vom Auto aus Rose angerufen. Sie war in den kühlen, stillen Eispalast der Gerichtsmedizin zurückgekehrt, wo sie das zum Teil getrocknete Tattoo von Jem Walsh untersuchte, außerdem eine Vielzahl weiterer tätowierter Hautstücke, die sie aus den verschiedenen Bottichen mit Chemikalien gefischt hatten. Sie hatte bereits Gewebeproben zur DNA -Analyse eingeschickt, obwohl niemand daran zweifelte, dass es sich um die Gesichts- und Kopfhaut von Jem Walsh handelte. Auch sein gehäuteter Schädel war wieder aufgetaucht – wenn er denn tatsächlich von Walsh stammte. Sie hatten ihn im Gefrierschrank entdeckt, nacktes rotes Fleisch mit weit aufgerissenen, blicklosen Augen.
»Geben Sie mir Bescheid, sollten Sie etwas finden – ganz gleich, was«, sagte er zu Rose und legte auf, dann setzte er die Ente in eine freie Parklücke am Straßenrand, nur ein paar Meter von Marnis Haus entfernt.
Rory hatte während des Nachmittags wiederholt mit Bradshaw telefoniert, und soweit Francis mitbekommen hatte, zeigte sich der DCI erfreut über den Fortschritt bei den Ermittlungen.
»Er findet es ausgesprochen bedauernswert, dass Sie nicht gewartet haben, bis der Bastard zu Hause war«, berichtete Rory mit einem schiefen Grinsen.
»Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, ob jemand im Haus ist oder nicht«, entgegnete Francis.
Typisch Bradshaw.
Er stieg die Stufen zu Marnis Haustür hinauf und klingelte. Niemand öffnete, doch er konnte sehen, dass im ersten Stock das Licht brannte. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer.
»Hallo?«
»Ich stehe vor Ihrer Haustür.«
»Ich bin allein zu Hause, und ich bin im Bad, Inspector. Bitte gehen Sie.«
»Marni, ich wäre nicht hier, wenn ich kein wichtiges Anliegen hätte. Ich warte, bis Sie fertig sind.« Er wollte gerade auflegen, dann fügte er hinzu: »Ach, ich habe Ihnen übrigens die Ente zurückgebracht. Parkt am Straßenrand, ein paar Meter vom Haus entfernt.«
Er hörte Wasser rauschen, dann brach die Verbindung ab.
Zehn Minuten später öffnete Marni die Haustür und winkte ihn herein. Sie trug einen dicken bestickten Bademantel und hatte ihre Haare zu einem feuchten Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie duftete nach einem süßlichen Badeöl.
»Tut mir leid«, sagte er, während er ihr durch den Flur in die Küche folgte. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Sie die Scheune betreten.«
Sie schüttelte vehement den Kopf. »Das ist schon okay. Es war mehr die Maske, die mir zu schaffen gemacht hat, nicht das, was Sie mir gezeigt haben. Ich werde schnell klaustrophobisch, und ich hab unter der Maske keine Luft bekommen.«
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Er streckte ihr sein Friedensangebot entgegen, und ihre Augen leuchteten auf.
»Okay, ich verzeihe Ihnen. Ich wollte Ihnen Wein anbieten, aber nach dem heutigen Erlebnis dürften ein, zwei Gläser Wodka angebrachter sein.«
Francis trank für gewöhnlich so gut wie keinen Alkohol, aber es war ein langer Tag gewesen – und es war sicherlich in Ordnung, Marni bei Laune zu halten, zumal er vorhatte, sie schon wieder um Hilfe zu bitten.
»Klar, warum nicht?«
Marni zog eine Augenbraue hoch, nahm zwei 4cl-Gläser aus einem der Küchenschränke und ging Francis voran ins Wohnzimmer.
Das Wohnzimmer erinnerte noch mehr an ein Elsternnest als ihr Studio – eine gemütliche Hippie-Bude, in dem jedes Stück aus Rajasthan, Kathmandu oder den Ortschaften entlang des Inka-Pfads importiert zu sein schien. Er setzte sich auf das breite Sofa und versank in einem Berg von Kelim-Kissen.
Marni zündete ein Räucherstäbchen an, dann füllte sie die beiden Gläser bis zum Rand mit Wodka. Francis stellte fest, dass ihre Hand beim Einschenken leicht zitterte. Vielleicht hatte sie das, was sie auf der Farm zu Gesicht bekommen hatten, doch mehr mitgenommen, als sie zugeben wollte. Sie reichte ihm ein Glas.
»Pur?«, fragte Francis und schauderte unverhohlen.
»Ja, pur. Sie müssen aber nicht auf ex trinken.«
Das hatte er auch nicht vor. Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck und rechnete damit, dass sich der Alkohol den Weg durch seine Kehle brennen würde, doch der Wodka schmeckte überraschend mild. Auch Marni nahm einen Schluck und entspannte sich sichtlich.
»Nicht dass ich Sie noch verderbe, Frank Sullivan.«
»Ich glaube, dazu gehört mehr als ein Glas Wodka.«
Plötzlich wurde sie ernst.
»Erzählen Sie mir, was Sie auf der Stone Acre Farm gefunden haben«, bat sie.
Er berichtete ihr, was sie bislang in der Scheune und im Haus zusammengetragen hatten. Sie wurde immer bleicher, als er ihr schilderte, was sie aus den verschiedenen Bottichen gefischt hatten. Als sie zu ihrem Glas griff und es mit einem großen Schluck leerte, nur um es gleich darauf wieder aufzufüllen, zitterten ihre Hände um einiges stärker als zuvor.
»Anscheinend hat uns Sam Kirby bei der Arbeit beobachtet. Einer von den Uniformierten hat einen Mann oberhalb eines Ackers hinter der Farm bemerkt.«
»Könnte das nicht ein Bauer gewesen sein?«
»Wohl kaum. Er versteckte sich hinter einer Hecke und stürmte davon, als er merkte, dass wir ihn entdeckt hatten.«
»Okay, kein Bauer.«
»Wir haben ihn verfolgt, aber er konnte entkommen, allerdings hat er bei der Flucht ein Messer fallen lassen.«
»Glauben Sie, Sie können nachweisen, dass er das bei den Morden verwendet hat?«
Francis schüttelte den Kopf. »Es wird wahrscheinlich nicht als Beweisstück anerkannt, weil dieser Idiot von Sergeant es aufgehoben und sich geschnitten hat. Jetzt ist überall Blut dran.«
»Rory? Ist er okay?«
»Das würde ich nicht unbedingt behaupten, aber der Schnitt ist nichts, verglichen mit seiner Verlegenheit.«
Francis leerte sein Glas mit einem großen Schluck. Diesmal brannte der Wodka, aber er musste gestehen, dass er das Gefühl beinahe genoss.
»Ich brauche noch einmal Ihre Hilfe.«
Marni schenkte ihm nach. »Ich weiß«, sagte sie. »Die Fotos – die Tätowierungen, die er sich noch nicht beschafft hat.«
Francis zog seinen Laptop aus seiner Dokumententasche und stellte ihn geöffnet auf den Couchtisch, sodass sie beide etwas sehen konnten. Er hatte jedes der Bilder an den Wänden in der Scheune des Tattoo-Diebs abfotografiert, und nun hoffte er, dass Marni einige davon würde zuordnen können.
»Das ist ein ziemlicher Schuss ins Blaue«, gab sie zu bedenken. »Selbst die Künstler, die diese Motive gestochen haben, führen nicht alle Buch über ihre Kunden.«
»Schön und gut«, sagte Francis. »Allerdings müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um die Träger der Tattoos ausfinden zu machen. Wie sonst sollen wir sie schützen? Solange wir Sam Kirby nicht in Gewahrsam haben, müssen wir davon ausgehen, dass sie sich in Gefahr befinden.«
»Und was unternehmen Sie, um ihn zu schnappen?«
»Rory hat eine Großfahndung herausgegeben, so groß, dass man schon fast von Menschenjagd sprechen kann. Er stellt eine Sondereinheit zusammen und versucht, Sam Kirbys Wagen ausfindig zu machen. Es ist schwer zu sagen, wo er sich verstecken könnte, daher ist es genauso wichtig, dass wir die potenziellen Opfer ausfindig machen. Vielleicht führt uns einer von ihnen zu Kirby.«
Marni verbrachte die nächste Stunde damit, über den Fotos zu brüten, aber sie konnte keines der Tattoos einer bestimmten Person zuordnen. »Schicken Sie mir die Datei per E-Mail, und ich verteile sie«, schlug sie vor. »Irgendwer wird schon wissen, um wen es sich handelt.«
Francis klappte seinen Laptop zu und trank sein zweites Glas aus.
»Ich werde jetzt besser gehen.«
»Haben Sie seit unserem Frühstück schon etwas gegessen?«, fragte Marni.
»Nein.« Ihm war gar nicht aufgefallen, wie hungrig er war, doch nun knurrte sein Magen schon, wenn er nur an Essen dachte.
»Pasta?«
Anscheinend konnte Pasta im Hause Mullins nicht ohne Rotwein genossen werden, und obwohl Francis dankend ablehnte, wollte Marni nichts davon hören.
»Wo ist Ihr Sohn?«, fragte Francis und saugte mit schmalen Lippen Spaghetti ein.
»Er übernachtet bei einem Freund.«
»Und er hat nicht vor, das Familienhandwerk weiterzuführen?«
»Er hat nicht mal ein Tattoo«, erwiderte Marni lachend.
»Sobald er etwas älter ist, wird er zweifelsohne zur Vernunft kommen«, bemerkte Francis trocken.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Familie.«
Wo sollte er anfangen?
»Ich habe eine Mutter und eine Schwester.«
»Leben die beiden in Brighton?«
Francis schüttelte den Kopf. »Sie haben beide Multiple Sklerose. Meine Mutter ist in einem Pflegeheim in Saltdean untergebracht, meine Schwester lebt in Hove in einem Apartment, das einer Einrichtung für betreutes Wohnen angeschlossen ist. Das bedeutet, dass sie sich ihre Unabhängigkeit bewahren kann, aber gleichzeitig weiß, dass sie notfalls Hilfe bekommt.«
Marni nickte. »Immerhin leben sie ganz in der Nähe, sodass Sie sie besuchen können.«
»Das tue ich leider nicht so oft, wie ich sollte.«
»Und Ihr Vater?«
»Den gibt es schon lange nicht mehr.«
»Das tut mir leid«, sagte Marni und schenkte ihm Wein nach.
»Er ist nicht tot«, stellte Francis mit einem schiefen Lächeln richtig. »Er hat uns verlassen, nachdem meine Schwester ihre Diagnose bekommen hat. Damals waren wir beide noch Teenager. Anscheinend kam er nicht klar damit, dass er nun für zwei Pflegefälle sorgen sollte.« Trotz all der Jahre, die mittlerweile verstrichen waren, hatte Francis Mühe, die Bitterkeit aus seiner Stimme herauszuhalten.
»Dann hat er Ihnen eine ordentliche Last aufgebürdet.«
»Die beiden sind keine Last«, widersprach Francis gereizt. »Ich werde immer für sie da sein, sie sind der Grund dafür, dass ich meinen Job so ernst nehme. Ich möchte sicherstellen, dass sie die bestmögliche Pflege bekommen, und die kostet Geld.«
»Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Marni griff nach ihrem Glas. »Bislang waren Sie ganz schön erfolgreich, stimmt’s? Sie sind jung für einen DI
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Nun, viele Leute in der John Street sind der Ansicht, dass man mich vorschnell befördert hat. Nachdem man mich von meinem ersten Fall abgezogen hat, bleibt abzuwarten, wie sich meine Karriere entwickelt. ›Erfolgreich‹ ist nicht unbedingt das Wort, das ich verwenden würde.«
»Aber heute ist Ihnen ein großer Durchbruch gelungen. Das muss Bradshaw doch sehen.«
»Zu wissen, wer der Mörder ist, oder ihn in Gewahrsam zu nehmen, sind zwei verschiedene Dinge. Er ist auf der Flucht – vielleicht verschwindet er einfach. Oder er bringt sich um. Wir müssen ihn vor Gericht stellen, alles andere ist ein Misserfolg. Sollte uns das aber tatsächlich gelingen, werden Bradshaw und Rory alles tun, um die Lorbeeren einzuheimsen.«
Normalerweise sprach er mit niemandem über seine Familie oder über die Arbeit, warum tat er das jetzt, mit Marni Mullins? In ihm machte sich Erschöpfung breit.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie damit langweile.«
»Das Leben anderer ist niemals langweilig«, widersprach Marni. »Ich könnte nicht als Tätowiererin arbeiten, wenn ich dieser Ansicht wäre.«
»Die Kunden reden mit Ihnen, während Sie sie tätowieren?«
»Immer. Für manche Menschen grenzt das an eine Art Therapie.«
»Haben Sie auch im Gefängnis tätowiert?«
Sie sah ihn schockiert an.
»Entschuldigung, es tut mir leid. Ich wollte nicht neugierig sein.«
»Nein, nein, schon gut«, wiegelte sie ab, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich habe im Gefängnis niemanden tätowiert. Ich war in keiner guten Verfassung. War der Situation nicht gewachsen, und die anderen Frauen behandelten mich wie eine Aussätzige. Ich war die englische Schlampe, die einen Franzosen niedergestochen hatte – niemand machte sich je die Mühe zu fragen, warum oder was genau passiert war. Sie legten sich alle eine eigene Geschichte zurecht.«
»Wie lange waren Sie im Gefängnis?«
»Nicht lange – nur ein paar Wochen. Ich war mit Zwillingen schwanger und stand kurz vor der Niederkunft.«
Francis war fassungslos. »Man hat Sie ins Gefängnis gesteckt, obwohl Sie kurz vor der Entbindung standen?«
»Der Richter war kein sonderlich einfühlsamer Mann.«
»Und Sie wussten, dass Sie Zwillinge bekommen würden?« Sie hatte die Tatsache erwähnt, dass sie ein Kind verloren hatte, doch Francis war schockiert, als er nun erfuhr, dass es sich um einen Zwilling handelte.
Sie nickte. »Ich wurde in der Gemeinschaftsdusche angegriffen und habe eines der Babys verloren. Sie haben mich ins Krankenhaus gebracht, um den verbliebenen Zwilling zu überwachen. Als Alex auf die Welt kam, hatte ich den Großteil meiner Strafe abgesessen, und ein Richter hat mich freigelassen.« Sie schwieg einen Moment lang. »Es war eine schlimme Zeit.«
»Es tut mir leid«, sagte Francis noch einmal.
Das Gespräch geriet ins Stocken. Francis suchte nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln, ohne dass es allzu gewollt wirkte. Marni zupfte an einer Papierserviette.
»Haben Sie …?«
»Wussten Sie …?«
Sie fingen gleichzeitig an zu sprechen, dann hielten sie inne.
»Sie zuerst«, sagte Francis.
Marni schüttelte den Kopf. »Nein, Sie.«
Aber Francis hatte vergessen, was er sagen wollte.
»Ich sollte jetzt wirklich gehen«, sagte er stattdessen und stand auf. »Danke für das Essen und den Wein.«
Er wollte die leeren Teller abräumen, blieb mit dem Fuß am Couchtisch hängen und geriet leicht ins Schwanken.
»Hoppla!« Marni sprang auf und stützte ihn. Jetzt standen sie einander direkt gegenüber.
Francis grinste. »Ich glaube, ich bin ein bisschen betrunken.«
»Ich glaube, Sie sind ziemlich betrunken, Frank.«
»Nennen Sie mich nicht Frank.« Er betrachtete das Gesicht, das seinem so nah war, und ihm wurde bewusst, wie sehr es ihm gefiel. »Tut mir leid. Normalerweise trinke ich keinen Alkohol, ich vertrage nicht viel.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Allerdings finde ich es nicht gut, wenn Sie in diesem Zustand nach Hause gehen. Sie sollten besser hierbleiben.«
Das hielt Francis für eine gute Idee. Eine so gute Idee, dass er überlegte, sie zu küssen.
Und das tat er. Sie erwiderte seinen Kuss. Für Francis war das der Anfang von etwas.
Etwas Gutem.