40
Francis
Francis zog sich die Bettdecke über Gesicht. Warum roch sein Bett plötzlich so anders? Nach Parfüm? Im Schutz der Bettdecke öffnete er die Augen. Er trug seine Boxershorts. Das war gar nicht sein Bett. Die Bettwäsche kannte er nicht.
Etwas plumpste aufs Fußende und zerwühlte die Decke. Francis setzte sich ruckartig auf und fand sich Pepper gegenüber, Auge in Auge. Der Hund bellte aufgeregt und fing an, seine Wange zu lecken.
Und dann war alles wieder da. Der Wodka, die Pasta, der Rotwein. Und dass er Marni geküsst hatte.
Warum um Himmels willen hatte er gedacht, Rotwein zu trinken sei eine gute Idee?
Er schob Pepper zur Seite und warf einen Blick auf die Uhr. Verdammt. Er sollte längst im Büro sein, aber bevor er sich auf den Weg dorthin machte, müsste er zu Hause vorbeischauen und sich umziehen. Pepper startete eine neuerliche Attacke. Francis’ Schädel hämmerte.
Stöhnend schloss er die Augen und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Wein und Wodka? Es war nicht so, dass er noch nie einen Kater gehabt hätte. Natürlich wusste er, wie sich so etwas anfühlte. Aber heute war einfach nicht der passende Tag dafür. Auch nicht die passende Woche.
»Bist du wach, Frank?«
Er öffnete die Augen und sah Marni aus dem angrenzenden Bad ins Schlafzimmer kommen. Sie war nackt und kam auf das Bett zu, als hätte sie die Absicht, wieder hineinzusteigen. Die gestrige Nacht war großteils weg, aber wenn etwas anderes zwischen ihnen passiert war als der ausgedehnte Kuss, würde er sich doch daran erinnern, oder nicht?
Marni setzte sich ans Fußende und sah ihn an, und er versuchte überall hinzuschauen, nur nicht auf ihre Brüste. Er hatte versagt, und zwar auf ganzer Linie. Ihre Brüste waren schön, und sie sorgten für erhebliche Bewegung unter der Bettdecke. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor ihm etwas halbwegs Passendes einfiel, klingelte es an der Haustür.
»So früh?«, fragte Marni. Sie stand auf und ging zur Schlafzimmertür, an der zwei Morgenmäntel hingen.
Francis konnte den Blick nicht von ihr wenden. Nicht nur weil sie splitterfasernackt war, sondern weil er nun zum ersten Mal ihren Rücken sah. Natürlich hatte er gewusst, dass sie ein Backpiece-Tattoo von Iwao hatte, aber er hätte nie gedacht, dass er es jemals zu Gesicht bekommen würde. Ihre Tätowierungen gingen ihn nichts an.
Dieses allerdings schon.
Er erkannte es sofort und spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte.
Er hatte es schon einmal gesehen. In der Scheune des Killers.
Marni Mullins war ein Ziel.
Marni Mullins stand auf der Liste des Mörders.
Die Tätowierung auf ihrem Rücken war auf einem der Fotos an den Wänden der Scheune zu sehen – das Becken mit den beiden orange-goldenen Koi-Karpfen, vor dem die weinende Geisha mit ihrem blutroten Kimono und dem schwarzen Obi kniete. In natura und in Verbindung mit Marnis anmutigem Gang war sie noch weitaus spektakulärer als auf dem Foto.
Der Killer war nach wie vor auf freiem Fuß, und er wollte das Tattoo von Marnis Rücken schneiden.
»Marni …«
»Ich gehe bloß schnell an die Tür, und dann mache ich uns einen Kaffee.«
Francis musste sich alle Mühe geben, ruhig zu bleiben.
Sie zog den bestickten Bademantel an, den sie schon gestern Abend getragen hatte, und verließ das Schlafzimmer. Er hörte die Treppe knarzen, als sie nach unten ging.
Francis, der sich langsam erholte, sah sich im Raum um und entdeckte seine zusammengekrumpelten Klamotten auf einem Haufen beim Fenster. Ohne das Hämmern in seinem Schädel zu beachten, schwang er die Beine aus dem Bett und stand vorsichtig auf. Das Zimmer drehte sich, und er atmete tief durch, um sich zu stabilisieren. Als sein Gleichgewichtssinn wieder funktionierte, tappte er zu dem Klamottenhaufen und zog sein Handy aus der Hosentasche.
Er brauchte drei Anläufe, um den richtigen Code einzugeben, doch dann hatte er es geschafft. Er rief die Fotos auf, die er am Vortag auf der Stone Acre Farm gemacht hatte. Ja, er hatte recht. Das Tattoo, das er gerade eben auf Marnis Rücken gesehen hatte, stand definitiv auf der Liste des Mörders. Kein Wunder, dass sie ohnmächtig geworden war, als sie es an der Scheunenwand entdeckt hatte. Wieso war er ein solcher Idiot gewesen? Das hätte ihm doch gleich klar sein müssen. Warum zum Teufel hatte sie nichts gesagt? Bei der Vorstellung, dass Marni in Gefahr war, spülte eine Woge der Angst über ihn hinweg.
Er rief Rory an. Sie brauchte Polizeischutz, und zwar rund um die Uhr, bis der Mörder hinter Gittern saß. Rory ging nicht dran.
Francis’ Gehirn arbeitete heute Morgen in Zeitlupe, doch plötzlich wurde ihm klar, dass Marni womöglich schon in diesem Moment in Gefahr war. Er stürmte aus dem Zimmer zur Treppe. Pepper fing an zu bellen und jagte hinter ihm her, was jeden Schritt zu einer Herausforderung machte.
»Marni! Marni, warte! Geh nicht an die Tür!«
Er sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und wäre um ein Haar über die Bulldogge gestürzt, die ihm vor die Füße lief.
»Das könnte der Mörder sein!«
Aber es war zu spät. Sie öffnete die Tür, noch bevor das Wort »Mörder« über seine Lippen gekommen war.
Thierry Mullins, eine Tüte Croissants und zwei Coffee-to-go-Becher in den Händen, stand vor der Haustür. Er musterte sie beide von oben bis unten und ließ die Tatsache einsacken, dass Francis lediglich Boxershorts trug. Anschließend blickte er Marni fragend in die Augen.
»Qu’est-ce qu’il fait ici, lui?«
Pepper stellte sich vor Francis und gab ein tiefes, finsteres Knurren von sich.