41
Marni
Marni blickte von einem Mann zum anderen. Francis machte ein Gesicht, als habe er einen Geist gesehen. Völlig außer Atem lehnte er sich gegen die Flurwand. Was zur Hölle war los mit ihm? Thierry sah aus, als wolle er jeden Augenblick einen Mord begehen, aber das schien Francis nicht zu beeindrucken. Noch bevor einer von ihnen ein Wort sagen konnte, schob sich Alex an seinem Vater vorbei in den Flur. Pepper stürmte schwanzwedelnd auf ihn zu.
»He, Mum«, sagte Alex und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Gott, war das peinlich, wenn der neunzehnjährige Sohn in eine Pattsituation zwischen dem Ex und dem Mann hineinplatzte, der gerade die Nacht in ihrem Bett verbracht hatte. »Nein, ich habe nicht mit ihm geschlafen«, hätte sie am liebsten gesagt, aber das wäre kaum angemessen gewesen.
»Hi, Liebling«, sagte sie stattdessen zu Alex und umarmte ihn. »Wie war’s?«
Was hätte sie sonst sagen sollen?
Alex machte einen Schritt zurück und sah sie ungläubig an, anschließend blickte er von Thierry zu Francis und wieder zu Marni.
»Mum?« In dem einen Wort lagen sämtliche Fragen, die sie nicht beantworten wollte.
Niemand sagte etwas. Die Stille war peinlich. Mehr als peinlich.
Alex’ Gesichtsausdruck schwankte zwischen Ärger und Verwirrung. »Komm, Pepper. Lass uns die Fliege machen.«
Er ließ seinen ausgebeulten Rucksack auf den Fußboden fallen, nahm seinem Vater den Kaffee und die Croissants ab und verschwand in Richtung Küche. Pepper rannte ihm sabbernd nach.
Thierry bedachte Francis mit einem Blick, den Marni nur allzu gut kannte, die Augenbrauen gefurcht, die Zähne in die Unterlippe gegraben, um den Schwall französischer Schimpfwörter zurückzuhalten, der über seine Lippen dringen wollte. Francis wich ein Stück zurück, um aus dem grellen Licht zu kommen, das durch die Haustür in den Flur fiel. Marni konnte sehen, dass seine Wangen brannten.
Thierry richtete sich zu seiner vollen Größe auf, damit er auf Francis herabblicken konnte.
»So beschützen Sie also meine Frau vor dem Tattoo-Dieb? In ihrem Bett? Ist es das, was Sie unter ›unmittelbarem Personenschutz‹ verstehen?«
Endlich erfuhr er am eigenen Leib, was er ihr die ganzen Jahre über angetan hatte, dachte Marni.
»Ex-Frau«, korrigierte sie. »Was bedeutet, dass es dich nichts angeht, mit wem ich ins Bett steige.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bedauerte sie sie bereits. Sie kannte Thierrys Temperament. Er war schon immer ein eifersüchtiger Mann gewesen, und obwohl sie geschieden waren, hielt er als gläubiger Katholik an der Überzeugung fest, für immer ihr Ehemann zu sein. Und zwar genau dann, wann es ihm passte. Sie konnte förmlich hören, wie er mit den Zähnen knirschte.
»Du solltest an unseren Sohn denken.«
Er schob sich an ihr vorbei in den Flur, was Marni einen Schritt zu weit ging.
»Thierry!«
Drohend baute der sich vor Francis auf, die Hände zu Fäusten geballt. Francis, nur in Boxershorts, war psychisch eindeutig im Nachteil, ganz zu schweigen von dem körperlichen Ungleichgewicht, Größe und Gewicht betreffend.
»Ich schlage vor, dass du auf der Stelle mein Haus verlässt, bevor ich dich persönlich hinausbefördere!«, knurrte Thierry.
»Das ist nicht dein Haus«, widersprach Marni wütend.
Sie zerrte an Thierrys Schulter, aber er schüttelte sie ab, als wäre sie eine lästige Fliege.
Francis hatte abwehrend die Arme erhoben, als rechne er damit, sich jeden Augenblick einem Boxkampf stellen zu müssen – einem Kampf, der in Marnis Augen keineswegs ausgewogen wäre. Thierry hatte sich noch nie an die Regeln gehalten, und er hasste die Polizei fast genauso sehr wie sie.
»Schluss damit!«, schimpfte sie.
»Sie sind kein Bewohner dieses Hauses, und als Polizist fordere ich Sie auf zu gehen«, sagte Francis mit scharfer Stimme.
O Gott, das würde niemals funktionieren.
Francis’ Kopf prallte gegen den Wohnzimmertürrahmen, als Thierrys Faust ihn seitlich der Nase am Wangenknochen erwischte. Er rutschte an der Wand hinab in eine sitzende Position, hielt sich mit beiden Händen die Nase und schnappte nach Luft. Marni sah voller Entsetzen, dass Blut durch seine Finger sickerte.
»Fantastisch, Thierry. Du hast gerade einen Polizisten angegriffen. Wenn du Pech hast, landest du wieder im Knast.«
Thierry rieb sich mit der anderen Hand die Fingerknöchel und grunzte ungnädig. Das Ganze war typisch und machte ihr wieder einmal bewusst, warum es mit ihnen nicht funktioniert hatte.
»Alex!«, rief Marni. »Kannst du bitte etwas Küchenrolle bringen?«
Sie kniete sich neben Francis und löste vorsichtig seine Hände von der Nase. Sie blutete heftig und fing bereits an zu schwellen.
»Ich glaube nicht, dass sie gebrochen ist«, sagte sie und nahm eine Handvoll Küchenpapier von Alex entgegen, der aus dem Flur verschwand, so schnell er konnte. »Du wirst ihn doch nicht festnehmen, oder?«, fragte sie Francis und drückte ihm die Tücher in die Hand.
»Nicht, wenn er jetzt verschwindet«, krächzte Francis.
»Genießt das Frühstück«, sagte Thierry und wandte sich zum Gehen.
»Warte. Ich muss dir etwas sagen.«
Thierry ignorierte sie und strebte auf die Tür zu.
»Thierry, du stehst auf der Liste des Killers!«
In ihrer Stimme schwang Hysterie mit, und Thierry blieb wie angewurzelt stehen.
»Wovon redest du, verflucht noch mal?«
Francis starrte Marni an, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen.
»Von dem Tattoo-Dieb, Thierry. Du bist eins seiner Ziele.«
Sie saßen Seite an Seite auf dem Sofa. Francis wischte immer noch Blut von seiner Nase, Thierry war zu perplex, um etwas zu sagen, und kippte den Whisky, den Marni ihm hingestellt hatte.
Alex brachte schweigend ein Tablett mit Kaffee ins Wohnzimmer, reichte seinen Eltern eine Tasse und knallte Francis’ Tasse auf den Couchtisch. Die Atmosphäre im Raum war eisig.
Marni zerpflückte nervös zwei Küchentücher und wartete darauf, dass die beiden Männer ihre Gedanken sammelten.
Francis erholte sich als Erster.
»Nur damit ich das richtig verstehe: Du hast an den Scheunenwänden ein Foto mit deiner eigenen Tätowierung entdeckt und eins mit einem Tattoo von Thierry?«
Marni nickte und biss sich auf die Lippe.
»Welches stammt von Thierry?«
»Das mit dem Fall Luzifers.«
»Dann seid ihr also beide im Visier des Killers. Deshalb bist du ohnmächtig geworden, oder?«
»Ja.«
»Und du hast mir das nicht gesagt, obwohl ich dir die Fotos am Abend gezeigt habe?« Seine Worte klangen etwas undeutlich, aber es war nicht zu überhören, wie verärgert er war. »Ich kann nicht glauben, dass du das für dich behalten hast. Da draußen liegt ein brandgefährlicher Mörder auf der Lauer, Marni, und er ist hinter euch her.«
Marnis Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Weil sie sich die Wahrheit selbst nicht eingestehen wollte? Weil sie dachte, sie könnte sich schützen?
Thierry stöhnte laut. Seine Hände zitterten.
»Warum hast du mir nichts gesagt, sobald du es wusstest? Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich …« Marni wusste nicht, was sie erwidern sollte.
»Der Kerl hätte uns im Schlaf umbringen können!«
Er hatte recht. Sie hatte es vermasselt, und zwar richtig.
»Verdammt noch mal, Marni, du warst gestern Abend allein hier, bevor ich gekommen bin«, schlug Francis in Thierrys Bresche. »Was, wenn der Mörder vor der Tür gestanden hätte und nicht ich?«
»Ich hätte die Tür nicht aufgemacht. Bei dir wusste ich Bescheid, denn du hast angerufen.«
»Ich packe das nicht«, sagte Thierry, stand auf und ging in die Küche.
»Bleiben Sie hier«, wies Francis ihn an. »Ich muss mit Ihnen beiden reden, beruflich. Sie brauchen Polizeischutz. Marni, bitte mach noch einen Kaffee, während ich mich anziehe.«
Verdammte Männer. Dachten immer, sie hätten das Sagen. Das hier war ihr Haus, und er hatte kein Recht, ihr Anweisungen zu erteilen. Sie brauchte dringend einen Nikotinkick, also zündete sie sich eine Zigarette an und ging damit vor die Hintertür.
»Jetzt sag schon, was läuft mit ihm?«, fragte Thierry drängend, der ihr gefolgt war und sich nun gegen den Türrahmen lehnte.
»Das geht dich nichts an«, entgegnete sie und blies eine Rauchwolke aus. »Du stehst auf der Liste des Mörders, mehr musst du nicht wissen, also bitte sei vorsichtig.«
»Wie süß, dass du dir Sorgen um mich machst.« Offenbar hatte er sich von seinem Schock erholt und war jetzt nur noch stinksauer auf sie.
»Du bist Alex’ Vater. Natürlich möchte ich nicht, dass dir etwas zustößt.«
Als Francis die Treppe herunterkam, war Thierry gegangen, und er wusste nicht, ob er erleichtert oder sauer sein sollte. Marni schenkte ihnen beiden frischen Kaffee ein.
»Gib mir seine Adressen – von zu Hause und von der Arbeit –, ich werde mich darum kümmern, dass jemand ein Auge auf ihn hat, bis das hier vorbei ist.«
»Danke«, sagte Marni und warf ihm einen Seitenblick zu. »Gilt die gleiche Behandlung für mich? Bekomme ich ebenfalls einen Polizisten zugewiesen, der ›ein Auge auf mich hat‹?«
»Unbedingt.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich habe doch Pepper. Ich brauche keinen Bodyguard.«
»Dir bleibt keine Wahl.«
»Passt du auf mich auf?«
»Nein, das wird nicht klappen. Ich muss mich um den Fall kümmern, anstatt Zeuginnen nachzulaufen.«
»Also kein unmittelbarer Personenschutz?«
Prompt wurde sein Gesicht dunkelrot. Er ließ sich so leicht foppen.
»Was genau ist letzte Nacht passiert?«, wollte er wissen.
»Ach Frank, erinnerst du dich nicht?«
»Ich erinnere mich daran, dass ich dich geküsst habe.« Er zog ein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen.
Ach, war das etwa so schlimm gewesen?
»Es gibt nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest. Sonst ist nichts passiert. Danach bist du weggetreten, und ob du es glaubst oder nicht – ich habe für gewöhnlich keinen Sex mit bewusstlosen Polizisten. Nein, das stimmt nicht ganz – ich habe gar keinen Sex mit Polizisten.«
Francis starrte auf seine Füße. Seine Wangen nahmen eine noch dunklere Farbe an. »Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Ich bin mir sicher, du bist erleichtert. Mir ist nicht entgangen, wie panisch du wurdest, als Thierry dachte, wir hätten miteinander geschlafen.« Sie trank ihren Kaffee aus, entschlossen, sich nicht darüber aufzuregen, dass er das Ganze offensichtlich bedauerte. »So, ich weiß, dass du viel zu tun hast, warum zischst du dann nicht einfach ab und besorgst mir einen großen, starken Bodyguard?«
Es war zu schade, dass sich der Abend aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wiederholen würde, denn mit dem betrunkenen Francis Sullivan an ihrer Seite, der ihr leise ins Ohr schnarchte, hatte Marni so gut geschlafen wie schon seit Monaten nicht mehr.
Jetzt sammelte er seine Sachen zusammen und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, hämmerte Marni mit der Faust gegen die Wand.
»Scher dich zum Teufel, Francis Sullivan!«