42
Rory
Rory hatte den Großteil der Nacht bei einer polizeilichen Straßensperre auf der Ditchling Road verbracht und Wagen angehalten, nicht so sehr in der Hoffnung, den Mörder zu stellen, sondern vielmehr um herauszufinden, ob irgendwer etwas Außergewöhnliches bemerkt hatte, und um die Bewohner der angrenzenden Orte zur Wachsamkeit aufzurufen. Als der Verkehr nach Mitternacht so gut wie zum Erliegen kam, war er ins Präsidium zurückgekehrt, um sich die Bilder von den Überwachungskameras noch einmal vorzunehmen und anschließend eine Presseerklärung für Bradshaw zu formulieren. Was harte Arbeit bedeutete. Presseerklärungen waren mehr Sullivans Stärke als seine, aber seit kurz vor Mitternacht hatte er nichts mehr von ihm gehört. Als er endlich fertig war, hatte er einen kurzen Abstecher nach Hause gemacht, um zu duschen und etwas zu schlafen, aber jetzt war er wieder da – und entschlossener denn je, Sam Kirby zu fassen.
Er blickte zum x-ten Mal auf sein Handy und stellte fest, dass er auf der Fahrt ins Präsidium einen Anruf von Francis verpasst hatte. Sullivan hatte ihm keine Nachricht hinterlassen, weder auf Band noch als Text. Er rief zurück, aber noch bevor Francis sich meldete, schwang die Tür der Einsatzzentrale auf.
»Legen Sie auf, Rory. Ich bin hier.«
Vor ihm stand Francis Sullivan, doch Rory musste zweimal hinblicken, denn so hatte er den DI
noch nie gesehen. Seine Haare waren zerzaust, sein Anzug sah aus, als habe er darin geschlafen, und seine Nase war geschwollen und wirkte irgendwie schief. Als er näher hinschaute, stellte er fest, dass sich die Wange unter dem Auge bläulich verfärbte.
»Herrje, was ist denn mit Ihnen passiert? Jetzt sagen Sie nicht, Sie haben ihn aufgespürt?«
Francis ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Können wir uns einen Kaffee besorgen?« Seine Worte klangen leicht verschliffen.
»Sie haben einen Kater.«
Francis beugte sich vor und stützte den Kopf in die Hände.
»Und Sie haben sich geprügelt.«
Der DI
stöhnte. Rory versuchte vergeblich, nicht loszuprusten.
»Wie sieht der andere Kerl aus? Und vor allem: Wer war es?«
»Thierry Mullins.«
Rory konnte sich nur einen Grund vorstellen, warum Thierry Francis eins auf die Nase gegeben hatte. Er hätte nie gedacht, dass Sullivan einen Schlag bei den Frauen hatte.
»Ich besorge den Kaffee.«
Als er aus der Kantine zurückkehrte, hatte Francis sich wieder unter Kontrolle. Sein Jackett hing ordentlich über der Stuhllehne, auf seinem Hemd waren Wasserspritzer zu erkennen, die Haare glänzten feucht. Inzwischen war Hollins eingetroffen, saß mit einer Tasse Kaffee an seinem Schreibtisch und starrte Francis unverhohlen an.
Rory stellte die beiden Kaffeebecher ab, zog einen Kamm aus der Jackentasche und reichte ihn Francis.
»Danke.«
»Hören Sie auf zu glotzen, Hollins, und machen Sie sich an die Arbeit.«
»Ja, Sergeant.«
Rory setzte Francis über die nächtlichen Aktivitäten ins Bild.
»Der Schutz von Marni Mullins hat oberste Priorität. Sie steht auf der Liste des Tattoo-Diebs.« Francis deutete auf die Tattoo-Fotos am Whiteboard. »Ach ja, wenn Sie weiteres Personal abstellen können: Thierry Mullins ist ebenfalls auf dieser Liste aufgeführt.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Rory. »Ähm … Möchten Sie Anzeige gegen Mullins wegen Körperverletzung aus Eifersucht erstatten?«
Natürlich versuchte er herauszufinden, was zwischen Ihnen gelaufen war.
»Nein.«
Rory zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Ich habe nichts weiter dazu zu sagen.«
Als Sullivan seine Aufmerksamkeit einer Akte zuwandte, öffnete sich die Tür zur Einsatzzentrale erneut. Diesmal stand Bradshaw auf der Schwelle.
»Bitte sagen Sie mir, dass Sie zumindest wissen, wo sich Kirby aufhält.« Er musterte Francis abschätzig von oben bis unten. »Und was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?«
Rory machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich brauche ihn bei dem Fall«, sagte er. »Wir können es uns nicht leisten, auf seine Unterstützung zu verzichten.«
Bradshaw sträubte sich sichtlich.
»Tatsache ist, dass es Sullivan war, der Kirbys Identität herausgefunden hat und dass dieser auf der Stone Acre Farm wohnt. Sie müssen ihn wieder einsetzen.«
Obwohl es ihm persönlich egal war, was mit Sullivan passierte, erkannte Rory immer mehr, dass sein ehemaliger Chef verdammt intelligent war und wusste, was er tat. Außerdem nagte das schlechte Gewissen an ihm, weil er Francis wegen der Pressekonferenz verpfiffen hatte.
»Was wollen Sie damit sagen?«, blaffte Bradshaw. »Dass Sullivan Ihren Job besser macht als Sie?«
»Nicht unbedingt«, widersprach Rory, der überrascht über sich selbst zu sein schien, »nur, dass er wirklich etwas draufhat.«
Sullivan klappte die Kinnlade herab. Eilig schloss er den Mund wieder.
Hollins, der an seinem Schreibtisch saß und verstohlen zuhörte, stieß seine Kaffeetasse um. Bradshaw war kurz abgelenkt, dann wandte er sich wieder an Rory.
»Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, Mackay«, sagte er. Sein Blick schweifte zu Francis. »Nun, dann setze ich Sie eben wieder ein, sämtlicher Vorbehalte zum Trotz.«
»In welcher Funktion?«
»Sie sind in diesem Team der ranghöchste Polizist, deshalb leiten Sie die Ermittlungen. Muss ich das noch näher erläutern?«
»Nein, Sir. Danke, Sir.«
»Danken Sie mir erst, wenn Sie den Fall gelöst haben. Wie sieht Ihr weiteres Vorgehen aus?«
»Wir werden weiterhin die Autofahrer auf der Ditchling Road befragen, außerdem behält das Team die Überwachungskameras im gesamten Stadtgebiet im Blick, und zwar rund um die Uhr. Wir haben bereits das Filmmaterial von der Nacht, in der Evan Armstrong ermordet wurde, ausgewertet, und eine Person mit einer Kapuzenjacke ausmachen können, bei der es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um den Täter handelt. Außerdem konnten wir anhand der Fotos, die wir in Kirbys Scheune entdeckt haben, zwei Zielpersonen ausmachen – Thierry und Marni Mullins –, weshalb wir die beiden unter Polizeischutz stellen werden. Burton gibt ihr Bestes, die Personen auf den anderen Fotos zu identifizieren.«
»Und sonst? Sind irgendwelche Fahrzeuge auf Kirby zugelassen?«
»Nicht auf seinen Namen«, antwortete Rory. »Aber allem Anschein nach besitzt er einen Wagen – er ist nur nicht beim Kraftfahrzeugamt registriert, auch die Anfrage bei den KFZ
-Versicherungen hat nichts ergeben. Wir sind noch dabei, die Reifenspuren zu überprüfen, die wir auf der Stone Acre Farm genommen haben, aber sonderlich viel versprechen wir uns nicht davon.«
»Verdammt!«, fluchte Bradshaw. »Er könnte inzwischen über alle Berge sein.«
Francis sagte nichts.
»Also, Sullivan, Sie mögen vielleicht wieder die Ermittlungen leiten, aber von jetzt an läuft hier alles über mich. Sie brauchen eine Person mit Erfahrung an Ihrer Seite, haben Sie mich verstanden?«
»Sehr gut, Sir«, erwiderte Francis. Seine Stimme klang frostig. »Denken Sie an etwas Bestimmtes?«
»Wir sollten vorausschauend handeln – wir müssen den Killer aus der Reserve locken.«
Rory wusste auf Anhieb, worauf das hinauslaufen würde.
»Und wie sollen wir das Ihrer Meinung nach anstellen, Sir?«, fragte Francis.
»Das liegt doch auf der Hand! Wir wissen, wen er als Nächstes umbringen möchte. Wir könnten ihm Marni Mullins als Köder vor die Nase halten.«
Francis riss die Augen auf. »Ich denke nicht, dass wir das tun sollten, Sir.«
»Ach nein?« Bradshaws Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Nein, Sir. Damit würden wir das Leben einer Zivilistin in Gefahr bringen, Marnis Leben. Dafür bin ich nicht zur Polizei gegangen.«
»Seien Sie nicht albern, Sullivan. Wir werden sie natürlich schützen. Ihr wird nichts passieren.«
»Es tut mir leid, Sir. Was mich anbetrifft, ist das keine Option.«
Bradshaws Gesicht verfinsterte sich. »Ich glaube kaum, dass Ihnen eine Wahl bleibt. Das ist meine endgültige Entscheidung.«
»Dann müssen Sie mich ein zweites Mal von dem Fall abziehen, Sir. Ich werde Marni Mullins nicht vorsätzlich einem Serienmörder zum Fraß vorwerfen.«
Rory war kurz versucht hinzuzufügen, das Gleiche gelte für Thierry, doch er wurde vom Klingeln seines Telefons unterbrochen. Hitchins war am Apparat.
»Nach dem Zeugenaufruf heute Morgen im Fernsehen hat sich jemand bei uns gemeldet.«
»Warten Sie, Hitchins. Ich stelle kurz auf Lautsprecher.«
»Ein Mann hat angerufen. Er hat eine Person gesehen, die er für Sam Kirby hält – anscheinend wies sie eine große Ähnlichkeit mit den Fahndungsfotos auf, die wir herausgegeben haben.«
»Wo hat er die Person gesehen?«, fragte Francis atemlos.
»Am Jachthafen.«
»Wir sind schon unterwegs.«