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Francis
Es wurde bereits dunkel, als Francis und Rory vor dem Wachhaus des Jachthafens anhielten. Ein uniformierter Wachmann stand auf der Türschwelle. Als die beiden Polizisten ausstiegen, trat er auf sie zu und stellte sich vor.
»Polizei?«, fragte er.
Francis nickte.
»Ich bin Alan Chapman. Ich habe angerufen.«
Francis ging um den Wagen herum und betrat den Gehsteig. »Erzählen Sie uns, wo Sie ihn gesehen haben und weshalb Sie glauben, dass es sich um den Tattoo-Dieb handelt.«
»Ich zeige es Ihnen«, sagte Alan.
Während sie über die Promenade gingen und einen Anlegesteg nach dem anderen passierten, erzählte ihnen der Wachmann die Details.
»Ich habe Ihren Zeugenaufruf im Fernsehen und die Bilder der Überwachungskamera gesehen. Bei so etwas schaue ich immer sehr genau hin, denn hier am Jachthafen kommen und gehen Tag für Tag jede Menge Leute. Nicht dass ich damit gerechnet habe, dass der Mann ausgerechnet hier wäre.«
Er bog von der Promenade nach links auf einen breiten Steg mit zwei Ebenen ab, von dem an beiden Seiten schmale Gangways aus Holz abgingen, die zu Booten der unterschiedlichsten Größen führten. In der Mitte der oberen Ebene befanden sich mehrere zweigeschossige Gebäude aus Wellblech, die weiß-gelb angestrichen waren.
»Was sind das für Gebäude?«, erkundigte sich Rory.
»Duschen, Toiletten, Waschsalon«, antwortete Chapman.
»Was genau haben Sie gesehen und wo?«, fragte Francis.
»Da unten«, sagte er und deutete auf eine der schmaleren Gangways. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es an dieser Stelle war, weil ich mich an das große Boot am Ende des Stegs erinnere. Es liegt dauerhaft dort. Ich stand hier und schaute zurück zum Ufer, und dann sah ich plötzlich jemanden mit dunklen Klamotten, von der Gestalt her ein Mann. Er trug eine Kapuzenjacke, die Kapuze über dem Kopf, und verließ eilig den Steg.«
»Und warum ist er Ihnen verdächtig erschienen?«
»Es war die Art und Weise, wie er sich bewegt hat. Er hatte einen leicht schlingernden Gang, genau wie auf der Aufnahme der Überwachungskamera, die in den Nachrichten gezeigt wurde. Auch seine Kleidung war so wie in der Beschreibung, die Sie herausgegeben haben. Er hat sich ein paarmal umgeblickt, als habe er Sorge, dass ihm jemand folgen könnte – oder als wolle er sich vergewissern, dass ihn niemand sieht.«
»Hat er eines der Boote betreten?«, fragte Francis.
Chapman zuckte die Achseln. »Ich habe weggeschaut. Auf der anderen Seite legte ein Boot an, die Leute darauf veranstalteten einen Riesenwirbel. Als ich wieder in seine Richtung schaute, war der Mann verschwunden. Vielleicht ist er an Bord eines der Boote gegangen, vielleicht ist er auch einfach nur an Land zurückgekehrt.«
Rory rieb sich das Kinn. »Mir ist immer noch nicht klar, warum Sie meinen, dass es sich um unseren Killer handeln könnte. Kapuzenjacken sind ja nichts Ungewöhnliches.«
»Ich bin seit Jahren Wachmann. Man bekommt ein Gespür dafür, wenn sich jemand unwohl fühlt bei dem, was er tut. Als ich wieder im Büro war, habe ich den Zeugenaufruf mit den Fahndungsbildern gesehen, die schemenhafte Gestalt, die von der Überwachungskamera in der New Road gefilmt wurde. Wie ich schon sagte: Der Mann hatte einen ganz ähnlichen Gang, trug ähnliche Kleidung, und er hatte die Ausstrahlung eines Menschen, der etwas zu verbergen hat. Vielleicht irre ich mich ja, aber ich denke, es lohnt sich, meine Beobachtung zu verfolgen.«
Sie gingen bis zum Ende des Stegs und zurück, aber auf den Booten war alles ruhig, keine Spur von den Besitzern.
»Danke für Ihren Hinweis«, sagte Francis, dann wandte er sich an Rory. »Beordern Sie das Team hierher – es soll alle Boote an diesem Anleger kontrollieren, und die beiden angrenzenden Stege noch dazu. Vielleicht stößt es auf jemanden, auf den die Beschreibung passt.«
Sie kehrten zum Wachhaus zurück.
»Wäre es möglich, dass Sie uns eine Liste mit den Namen und Adressen der Bootsbesitzer ausdrucken, deren Jachten momentan im Hafen liegen?«, fragte Francis den Wachmann.
Chapman nickte. »Selbstverständlich.«
»Befinden sich an allen Stegen Überwachungskameras?«
»Nein, nicht an allen. Wir haben eine Kamera am Eingang zum Hafen, zwei entlang der Promenade und mehrere, die auf den Parkplatz hinausgehen.«
»Könnten wir mal einen Blick auf die Aufnahmen werfen?«
Nachdem sie sich mehrere Stunden lang das Material der Überwachungskameras angesehen und Hollins und Hitchins mit zahlreichen Bootsbesitzern gesprochen und die an den drei infrage kommenden Stegen vertäuten Boote überprüft hatten, hatten sie noch immer nichts entdeckt, was darauf hinwies, dass sich der Täter am Jachthafen aufhielt.
Es war nicht so, dass Francis Chapmans Hinweis nicht ernst nahm, im Gegenteil – er war sich sicher, dass der Wachmann tatsächlich eine verdächtige Gestalt bemerkt hatte. Aber von einem Mann in Kapuzenjacke war weit und breit nichts zu sehen, und die Beobachtung des Wachmanns allein half ihnen auch nicht weiter. Francis setzte Rory in der John Street ab und kehrte zu Marnis Haus zurück, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich ein Polizeiposten vor ihrem Haus Stellung bezogen hatte.
Erleichtert sah er, dass ein Wagen mit zwei Constables darin am Bordstein parkte. Er wechselte schnell ein paar Worte mit den beiden, die nichts Auffälliges zu berichten hatten. Als er zu seinem Dienstwagen zurückkehrte, öffnete Marni die Haustür.
»Frank?«
Er ging zu ihr hinüber.
»Ich habe gesehen, dass du mit den beiden geredet hast«, erklärte Marni ohne Umschweife, als er am Fuß der dreistufigen Treppe zu ihrer Haustür stehen blieb. »Bitte sag ihnen, dass sie verschwinden sollen. Sie lassen mich nicht aus den Augen, ganz gleich, wohin ich gehe. Das tut meiner Psyche gar nicht gut.«
»Ach? Die beiden sind da, um für deine Sicherheit zu sorgen. Ich dachte, sie würden dir ein besseres Gefühl geben.« Er stellte seinen Fuß auf die zweite Stufe und verharrte einen Augenblick lang, als warte er darauf, dass sie ihn hereinbat.
»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Ich wette, das hat Evan Armstrong auch gedacht, und der war über eins achtzig groß.«
Marni seufzte. »Ich habe sie gebeten, mich in Ruhe zu lassen, aber sie wollten nicht.«
»Das haben sie mir gesagt, aber sie befolgen meine Anweisungen, nicht deine.«
»Und ich habe nichts zu melden?«
»Nein.« Er trat zurück auf den Gehsteig.
Marni musterte ihn finster.
»Du solltest dich bei mir bedanken, anstatt sauer auf mich zu sein. Es wäre durchaus von Vorteil, wenn sie einen Mörder davon abhielten, das wunderschöne Tattoo von deinem Rücken zu schneiden. Im Augenblick haben wir keinen blassen Schimmer, wo der Kerl steckt. Wir gehen den Meldungen von Bürgern nach, die ihn im Stadtgebiet von Brighton und entlang der Küste nach Süden gesehen haben wollen. Ein Mann meinte, er habe ihn am Jachthafen entdeckt, ein anderer meldete eine Stunde später, er halte sich in Shoreham auf. Du stehst so lange unter Polizeischutz, bis ich ihn in eine Zelle gesteckt habe.«
»Ich habe einen Hund, und ich habe mehrere Selbstverteidigungskurse belegt.«
»Pepper wird gegen einen Mann mit einem Messer nur wenig ausrichten können, und auch deine Selbstverteidigungskurse werden dir kaum helfen.«
Marni starrte ihn an, die Lippen geschürzt. Sie machte Anstalten, die Tür zu schließen, doch dann überlegte sie es sich anders. »Der Grund dafür, dass ich Selbstverteidigungskurse belegt habe, war der, dass ich in Gefahr war. Das waren übrigens richtige Kurse, nicht so ein Mist, wie er in Fitnesscentern angeboten wird. Ich habe Unterricht bei einem Ex-Militär aus Israel genommen. Sie verteidigen sich dort mit Krav Maga.«
»Ich bin beeindruckt.«
»Mir blieb keine Wahl. Ich musste mich gegen einen Mann zur Wehr setzen können, der eine echte Bedrohung für mich darstellte.«
»Gegen den, den du niedergestochen hast?«
Sie nickte. Ihr Gesicht war bleich und angespannt.
»Was ist passiert?«, fragte er sanft.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Es war ja bloß ein Mann, der besessen von mir war.«
Francis starrte sie an. »Nicht viel. Aha. Wo ist er jetzt?«
»Er sitzt im Gefängnis wegen einer Sache, die nichts damit zu tun hat.«
»Und wer war dieser Mann?«
»Thierrys Zwillingsbruder. Er hat mich vergewaltigt. Ich habe ihn niedergestochen.« Ihr Blick war unversöhnlich, ungebrochen. »Und jetzt pfeif bitte deine Hunde zurück.«