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Marni
Ein gesichtsloser Mann trug Luke – das Baby, das sie verloren hatte –, in der Armbeuge. In der anderen Hand hielt er eine lange, geschwungene Klinge, die ein gleißendes Licht spiegelte, so grell, dass es sie blendete. Sie rannten. Manchmal jagte Marni hinter den beiden her, andere Male waren sie ihr auf den Fersen. Alex winkte ihr aus der Ferne zu, aber ganz gleich, wie schnell sie lief, sie schien ihm nicht näher zu kommen.
Schweißgebadet wachte sie auf und ging quer durchs Zimmer, um das Fenster zu öffnen. Unten auf der Straße stand der Streifenwagen. Sie konnte den Fahrer darin sehen, der aus einem Pappbecher Kaffee trank.
Ein Kaffee und eine Dusche würden ihr guttun. Sie warf einen Blick auf den Radiowecker auf ihrem Nachttisch. In einer halben Stunde sollte sie im Studio sein. Ihr Tag war voller Termine, und sie musste dringend Geld verdienen.
Vierzig Minuten später klopfte sie an das Fenster des Streifenwagens.
»Sie könnten mich eigentlich zur Arbeit bringen«, sagte sie, als der verdrossene Officer das Fenster herunterließ. »Wenn Sie schon auf mich aufpassen sollen …«
»Steigen Sie ein«, sagte er, ohne zu lächeln.
Sie konnte ihm kaum einen Vorwurf machen. Was war das für ein Leben, bei dem man acht Stunden lang am Stück in einem kleinen Wagen hocken und anderen Leuten bei deren Leben zusehen musste?
Ihr erster Kunde für heute wartete schon an der Tür auf sie, und dann würde es ohne Pause durchgehen, abgesehen von einem abgesagten Termin. Es fühlte sich gut an, wieder zu arbeiten. Die letzten anderthalb Wochen kamen ihr ziemlich zerrissen vor, und sie hatte wegen der ganzen Geschichte einige ihrer Stammkunden umbuchen müssen. Hoffentlich würde der Scheißkerl bald gefasst werden, damit wieder Normalität in ihrem Leben einkehrte. Ein bodenständiges, ruhiges, ereignisloses Leben – das war es, was ihr gefiel.
Am Nachmittag sollte Steve zu ihr kommen, damit sie das Tiger-Tattoo fertigstellen konnte, an dem sie auf der Messe gearbeitet hatte. Es würde ein Prachtstück sein, wenn es erst einmal fertig wäre – der orangefarbene Tiger, der vor einem Hintergrund aus tiefmagentafarbenen Chrysanthemen stand. Von seinen Zähnen und Krallen tropfte Blut.
Steve war früh dran und hatte bereits zwanzig Minuten gewartet, als sie ihr Zubehör gereinigt und aufgeräumt und den vorherigen Kunden abkassiert hatte. Ungeduldig legte er sich auf die Massagebank.
»Glaubst du, du schaffst es heute?«, fragte er.
»Gut möglich«, antwortete Marni achselzuckend. Sie betrachtete ihre bisherige Arbeit. »Ich brauche noch vier, fünf Stunden, kommt darauf an, wie lange du durchhältst.«
Während der ersten Stunde schaltete Marni einfach ab. Steve erzählte ihr, was seine Firma so machte, eine innovative Programmiertechnologie, die Marni nicht verstand und für die sie sich nicht im Mindesten interessierte. Steve schwafelte weiter, nahm sich kaum die Zeit, Luft zu holen; anscheinend ging es hauptsächlich darum, ihr klarzumachen, wie gut seine Firma im Wettbewerb abschnitt. Sie vertiefte sich in ihre Kunst, und der Stress der vergangenen Tage fiel langsam von ihr ab, während ihr Kopf immer klarer wurde.
»Und was passiert in deiner Welt, Marni?«, unterbrach Steve ihre Gedanken. »Wie geht’s Alex?« Sie hoffte, er habe nicht bemerkt, dass sie nicht zugehört hatte.
»Ihm geht’s gut. Er hat gerade sein Abitur gemacht, deshalb ist das Leben für ihn eine einzige, endlose Party.«
»Eine gute Zeit. Ich erinnere mich noch gut daran. Was hat er als Nächstes vor?«
»Er will auf die Uni gehen – Geografie studieren.«
»Geografie? Da gibt es nicht viele Karrierechancen. Du solltest ihn zu mir schicken, dann könnten wir überlegen, ob er nicht Programmierer werden will.«
»Gute Idee«, sagte Marni und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
»Was ist mit dir? Was gibt’s Neues im Fall des Tattoo-Diebs?«
Ihre Hand fing leicht an zu zittern, und er zuckte zusammen. Im selben Augenblick hörte sie den Briefschlitz klappern. Pepper stürmte laut bellend nach vorn in den Laden.
»Einen Augenblick, bitte, Steve. Wenn ich die Post nicht sofort rette, frisst Pepper sie auf.«
»Kein Problem.«
Die Post war ihr egal, doch sie bot den perfekten Vorwand, sich vor einem Gespräch über die Morde zu drücken.
Es war nur ein einziger Brief gekommen. Pepper schob ihn über den Fußboden in dem vergeblichen Versuch, ihn zwischen die Zähne zu bekommen.
»Aus, Pepper«, sagte sie. »Der ist nicht für dich.« Sie bückte sich und hob den Umschlag auf.
Die französische Briefmarke ließ sie Halt suchend nach der Ladentheke greifen. Ihre Kopfhaut fing vor Furcht an zu kribbeln, ihre Brust schnürte sich zusammen, als sie die Handschrift erkannte.
Ein weiterer Brief von Paul.
Sie brachte es nicht über sich, ihn zu lesen, schaffte es kaum, den Umschlag zu berühren, konnte den Blick nicht von der Briefmarke lösen. Der Brief war in Marseille aufgegeben worden. Sie wusste, dass Paul dort im Gefängnis saß. Sie fragte sich, wie er ihn wohl herausgeschmuggelt haben mochte und wer ihn für ihn aufgeben hatte. Wahrscheinlich ein korrupter Wärter. Ihr Atem ging stoßweise, doch sie zwang sich, langsam bis zehn zu zählen und sich zu beruhigen. Anschließend legte sie den Brief mit der Adresse nach unten auf den Ladentisch und schloss die Augen.
Was wollte er? Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?
Ihr wurde schwindelig, weshalb sie die Augen wieder öffnete und auf einen schwarzen Fleck am Boden heftete.
»Alles okay da draußen?«
Verdammt! Sie hatte Steve vergessen.
»Alles gut. Ich bin in einer Sekunde bei dir.«
Sie kehrte ins Studio zurück und steckte den Brief in ihre Tasche. Ein großes Glas kaltes Wasser würde helfen, dann würde sie ihre Arbeit begutachten und Steve einen neuen Termin geben.
»Hör mal, Steve, ich glaube nicht, dass wir heute fertig werden. Es tut mir leid, aber ich bin total erschöpft, ich packe eine so lange Sitzung heute nicht. Ich schiebe dich in zwei Wochen ein, einverstanden?«
Steve schnitt eine Grimasse. »Im Ernst, Marni?« Er betrachtete seinen Arm. »Es ist doch kaum noch etwas zu tun. Bitte, können wir nicht weitermachen? Ich bezahle dich auch extra.«
»Es geht nicht ums Geld. Ich bin hundemüde, und wenn ich jetzt weitermache, wird die Arbeit nicht hundertprozentig.« Hundemüde und gestresst, um genau zu sein. Außerdem brauchte sie dringend etwas zu essen, ihr Blutzucker sackte rapide ab.
»Dann gönn dir eine Pause. Trink einen Kaffee, und anschließend geben wir dem Ganzen den letzten Schliff. Ich wünsche mir so sehr, dass das Tattoo fertig wird.«
»Warum?«
»Weil ich es gern jemandem zeigen möchte.«
Das konnte Marni verstehen. Jeder, der sich ein Tattoo stechen ließ, wollte, dass es so schnell wie möglich fertig wurde. Sie fühlte sich ausgelaugt, aber sie hasste es, einen Kunden zu enttäuschen.
»Okay. Möchtest du auch einen Kaffee?«
Mit Steve eine Tasse Kaffee zu trinken, war das Letzte, was sie jetzt wollte, aber der Kaffee würde es erträglicher machen.
»Klar. Danke, Marni. Du steckst das weg wie ein absoluter Profi.«