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Marni
Steves Tattoo fertigzustellen, hatte den Tag sehr lang werden lassen, und Marni wünschte sich nur noch, nach Hause zu fahren und ein heißes Bad zu nehmen, doch sie wusste, dass sie Schwierigkeiten haben würde einzuschlafen. Ihre Gedanken rasten, und die nagende Furcht in ihrer Magengrube ließ nicht nach. Also unternahm sie einen Abstecher nach Hause, um mit Alex zu Abend zu essen, dann kehrte sie in ihr Studio zurück und arbeitete an den Zeichnungen für weitere Motive. Ganz allein saß sie da, im hinteren Raum, in dem kleinen Lichtkegel, den ihre Arbeitslampe warf, den Rücken zum Fenster gekehrt. Sie trug ein Neckholder-Top, das den oberen Teil ihres Tattoos frei ließ – jeder, der durch die schmale Gasse hinter der Ladenzeile ging, könnte es sehen, wenn er einen Blick in ihr Studio warf. Sie hatte das Oberteil mit Absicht gewählt, auch wenn die Luft sich am Abend deutlich abgekühlt hatte.
Francis Sullivan hatte nicht das Recht, ihr zu sagen, was sie tun und lassen sollte. Sie sah sich gezwungen, alles zu tun, was sie tun konnte, um den Mörder aus der Reserve zu locken. In der Vergangenheit war sie zu oft Opfer gewesen – was die ungeöffneten Briefe von Paul in ihrer Kommode bezeugten. Jetzt würde sie das Heft in die Hand nehmen. Sie würde sich nicht von Paul einschüchtern lassen, genauso wenig wie von dem Tattoo-Dieb. Sollte der Bastard ruhig versuchen, sie in seine Gewalt zu bringen. Sie würde sich ihm entschieden entgegenstellen.
Doch was, wenn es sich um jemanden handelte, den sie kannte? Sosehr sie die Identität des Tattoo-Diebs in Erfahrung bringen wollte – sie fürchtete sich vor dem, was sie womöglich herausfinden würde.
Die Zeichnung. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Eine neue Kundin hatte sie gebeten, ein Sleeve-Tattoo im japanischen Stil für sie zu entwerfen, das die Lieblingsblumen ihrer Mutter miteinbezog, und wie immer bei einer Auftragsarbeit war es wichtig, sich den Wünschen des Klienten zu fügen, anstatt seine eigenen Ideen zu verfolgen. Sie zeichnete eine wahre Explosion üppig blühender Pfingstrosen, stellte sich die tiefen Rosa- und Rottöne vor, dazu das Smaragdgrün der Blätter. Ganz oben fügte sie eine Traube von Schmetterlingen hinzu und unten einen kleinen Frosch, der unter den Blütenblättern hervorlugte. Als sie den Kopf hob, um auf die Uhr zu sehen, war eine Stunde vergangen.
Ihre Gedanken wandten sich wieder dem Fall zu, dann schweiften sie ab zu den Briefen, die aus Frankreich eingetroffen waren. Ihr Bleistift geriet ins Stocken. Sie fühlte sich schrecklich verletzlich.
Marni legte die Pfingstrosen zur Seite und nahm ein neues Zeichenblatt. Wenn es ihr so schwerfiel, sich zu fokussieren, sollte sie ihrem Stift freien Lauf lassen. Sie begann mit einer Reihe von Schwüngen, die sie mit zusammengekniffenen Augen betrachtete, um zu sehen, wozu sie sie inspirierten.
Der Streich einer Klinge über tätowierte Haut. Ein Strom Blutrot in seinem Kielwasser.
Marni wandte den Blick ab und ließ ihn durch den Raum wandern.
Pepper schnaufte unter ihrem Schreibtisch, und sie bückte sich, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Es würde gar nichts passieren. Niemand lauerte da draußen in der Dunkelheit und spähte verstohlen zu ihr herein.
Sie drehte das Blatt Papier auf ihrem Schreibtisch im Kreis, wodurch die Schwünge die Form einer Welle annahmen, die sie an »Die große Welle vor Kanagawa« des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai erinnerte. Sie setzte ihren Bleistift erneut an und fing an, zielstrebiger zu zeichnen, und diesmal war sie in der Lage, die nagende Furcht in ihr zu bezwingen. Die Zeit verstrich, und der Stapel von Zeichnungen an der Seite ihres Schreibtischs wuchs. Als sie eine Zigarette brauchte, nahm sie Pepper mit vor die Tür. Anschließend setzte sie sich eine Insulinspritze und brühte sich einen frischen Kaffee auf, bevor sie sich wieder an das Blumenmotiv machte, das sie zuvor begonnen hatte. Es war kurz vor eins, und Pepper zeigte ihr deutlich, dass er unbedingt nach Hause wollte, aber nun war sie gerade richtig in Schwung gekommen.
Ein lautes Knacken aus Richtung der Hintertür peitschte eine Woge von Adrenalin durch ihren Körper. Ihr Magen zog sich zusammen, ihre Nackenhaare stellten sich auf.
»Hallo?«, rief sie, schob ihren Stuhl zurück und sprang auf.
Pepper schoss knurrend unter dem Schreibtisch hervor. Wie angewurzelt beobachtete sie, wie die Hintertür mit Schwung aufflog und eine schwarz gekleidete Gestalt auf sie zustürmte. Marni sah etwas Silbernes aufblitzen. Alles in ihr zog sich zusammen. Sie konnte nicht atmen, konnte nicht denken. Das Ganze lief ab wie in Zeitlupe.
Der Angreifer hielt das Messer in der rechten Hand, in der linken hatte er einen zusammengeknäulten Lappen. Sein Gesicht war unter einer Sturmhaube verborgen. Ohne zu überlegen, nahm Marni eine Verteidigungshaltung ein. Kurze, simple, wiederholte Schläge. Die antrainierten Anweisungen gingen ihr wie ein Mantra durch den Kopf, als sie die Arme hob, um den Mann abzuwehren.
Pepper traf als Erster auf ihn. Laut bellend sprang er den Kerl an, um sein Frauchen zu verteidigen, dann schlug er die Zähne ins Bein des Mannes. Marni versuchte, dessen Überraschung auszunutzen und ihm das andere Bein wegzutreten, aber sie war nicht nah genug, um den nötigen Schwung aufzubringen. Der Mann ließ sein Messer niedersausen und stach in Peppers Rücken, direkt zwischen seine Schulterblätter. Der Hund ließ sein Bein los und jaulte auf vor Schmerz, als der Angreifer die Klinge wieder herauszog, wodurch der Schnitt breiter wurde. Blut sprudelte auf Peppers weißes Rückenfell. Er stürzte mit einem dumpfen Knall auf den Boden und stöhnte, als die Luft aus seiner Lunge wich.
»Verfluchter Scheißkerl!«, kreischte Marni.
Der Mann holte mit dem Messer nach ihr aus und erwischte sie am Arm. Sie wirbelte herum, um einem weiteren Streich auszuweichen, und dachte an das, was sie bei der Selbstverteidigung gelernt hatte.
Sie wusste, was zu tun war. Feste, kurze Tritte gegen den Arm, der das Messer hielt, würden ihn für einen Moment ablenken. Marni trat zu, aber der Mann sprang zurück und streckte die Hand mit dem Lappen aus. Er ließ das Messer fallen, wirbelte zur Seite und nahm Marni in den Schwitzkasten. Sie sah, wie sich das Tuch ihrem Gesicht näherte. Gleich würde er es ihr auf Mund und Nase pressen. Sie wehrte sich, versuchte, sich zu befreien, aber er war stärker als sie und gut dreißig Zentimeter größer.
Wo in Gottes Namen waren diese verfluchten Leibwächter von der Polizei, wenn man sie brauchte?
Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase. Das Tuch wurde auf ihr Gesicht gedrückt, und Marni war klar, dass sie ohnmächtig werden würde, sobald sie einatmete. Sie konnte die Luft ungefähr anderthalb Minuten lang anhalten, wenn sie kämpfte, entsprechend kürzer. Sie zwang sich, ihren Körper zu entspannen, ließ sich mit ganzem Gewicht gegen den Mann sacken und drückte dagegen, sodass er nicht anders konnte, als ein paar Schritte zurückzuweichen. Marni, die ahnte, wo seine Füße ungefähr waren, stampfte mit aller Kraft auf seinen rechten Fußrücken.
Er schnappte nach Luft, und in jenem Bruchteil einer Sekunde gelang es Marni, seinen Arm um ihren Hals zu lösen und sich aufzurichten. Blitzschnell drehte sie sich so zu ihm, dass sie direkt vor ihm stand, und fing an, mit ihm zu ringen. Marni konnte die Ätherrückstände auf ihrem Gesicht riechen, was ihre Wut nur noch mehr befeuerte. Sie würde sich nicht von dem Kerl überwältigen lassen. Entschlossen riss sie ihr Knie hoch und rammte es in seinen Schritt, aber er ließ ihre Oberarme nicht los.
Pepper ächzte und versuchte, sich zu bewegen. Marni warf einen flüchtigen Blick in seine Richtung. Der Hund lag in einer Blutlache, die im dämmrigen Licht schwarz wirkte und immer größer wurde. Der Mann nutzte den winzigen Moment, in dem sie abgelenkt war, und trat gegen ihre Beine. Marni sackte zu Boden. Eine Sekunde später war er auf ihr und versuchte, ihr das äthergetränkte Tuch aufs Gesicht zu drücken.
»Warum?«, stieß sie atemlos hervor und versuchte, ihn abzuwerfen. »Warum stiehlst du die Tattoos?«
Obwohl der Mann eine Sturmhaube trug, senkte er den Kopf und wandte das Gesicht ab, als wolle er seine Züge verbergen.
»Du perverser Scheißkerl!« Der Zorn brachte ihren Kampfgeist zurück. Sie wand sich verzweifelt unter ihm, warf den Kopf von einer Seite zur anderen, um den Äther nicht einatmen zu müssen. Nein, sie würde nicht zulassen, dass er ihr Tattoo raubte. Sie würde nicht hier sterben. Und schon gar nicht jetzt.
Aber der Mann hatte die Oberhand. Er traf sie hart mit der Faust an der Schläfe, und das Studio fing an, sich zu drehen. Sie schnappte nach Luft. Mit trübem Blick sah sie, wie der Lappen mit dem Äther auf sie zukam.
»Nein … NEIN …«
Sie schrie, so laut sie konnte.
Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, ihm zu entkommen, aber sie konnte die Arme unter dem Gewicht seines Körpers nicht bewegen. Sie könnte ihn mit den Beinen treten, aber mehr auch nicht.
Die Sturmhaube hatte zwei Augenlöcher und einen Schlitz für den Mund. Er fand Gefallen an ihrer Furcht – das konnte sie an seinen Augen genauso erkennen wie an seinen grausam verzogenen Lippen. Sie hatte diesen Ausdruck schon früher gesehen, auf den Gesichtern von gefühllosen Schwächlingen.
Nein, dieses Grinsen wäre nicht das Letzte, was sie im Leben sehen würde.
Sie holte tief Luft und presste die Lippen zusammen, als sich der Lappen auf ihr Gesicht legte, dann nahm sie ihre letzten Kraftreserven zusammen, schoss nach oben und knallte ihm die Stirn gegen die Nase. Es knackte, sein Kopf flog zurück. Der Aufprall schmerzte höllisch, doch ein hoher, schriller Schmerzensschrei zeigte ihr an, dass sie ihn verletzt hatte.
Das Tuch fiel von ihrem Gesicht, als er reflexartig beide Hände auf die Nase drückte. Sie bekam wieder Luft, spürte, wie sich das Gewicht seines Körpers verlagerte, was sie nutzte, um ihre Arme zu befreien. Anschließend rollte sie sich auf die Seite und brachte ihn so weit aus dem Gleichgewicht, dass sie ihn von sich schieben konnte.
Sie widerstand dem überwältigenden Impuls, sich hochzurappeln und davonzustürmen, denn das war genau das, was er von ihr erwartete. Im Bruchteil einer Sekunde hätte er sie zu Boden gerissen und erneut überwältigt. Also sprang sie stattdessen auf ihn und packte ihn an den Armen, um ihn zu Boden zu drücken.
Sie keuchten beide heftig, und Marni war klar, dass er versuchen würde zu fliehen. Sie musste ihn so schnell wie möglich außer Gefecht setzen. Sie packte die Sturmhaube an seinem Hinterkopf und knallte ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden. Sein Schrei wurde erstickt von den Bodendielen. Marni riss seinen Kopf hoch und schlug ihn erneut auf den Boden, was sie zur Sicherheit dreimal wiederholte.
Sie war im Überlebensmodus, und sein Schmerz zählte für sie nicht.
Seine Bewegungen wurden langsamer, er wehrte sich nicht mehr so heftig, aber ganz hörte er auch nicht auf. Marni sah sich um und überlegte verzweifelt, was sie als Nächstes tun sollte. Etwas glänzte unter ihrem Schreibtisch. Es war sein Messer. Sie versuchte, ihre Atmung zu verlangsamen, um ihren Puls runterzufahren, und fragte sich, ob sie es wohl zu fassen bekäme, ohne den Mann loszulassen.
Und was dann? Willst du auf ihn einstechen?
Plötzlich hörte sie Lärm vorne an der Tür, Sekunden danach stürmten die beiden Polizei-Aufpasser durch den Laden. Sie überwältigten den Mann und halfen Marni hoch. Während einer von ihnen dem Kerl Handschellen anlegte, stürzte Marni zu Pepper, der reglos in der Lache aus seinem eigenen Blut lag.
»Nein, nein, bitte nicht … Komm schon, Pepper, du darfst nicht tot sein!«
Sie zog ihn in ihren Schoß und streichelte seinen Kopf. Seine Brust hob und senkte sich ungleichmäßig, sein Atem ging flach.
»Rufen Sie einen Tierarzt! Bitte machen Sie schnell!«, rief sie einem der Polizisten zu.
»Sofort …«
Sobald sie den Angreifer unschädlich gemacht hatten, riefen die Constables Verstärkung, dann hörte sie, wie einer von ihnen mit der Tierrettung telefonierte.
Marni schloss die Augen. Sie könnte es nicht ertragen, Pepper zu verlieren, wiegte ihn mit zitternden Armen, ihr Herz hämmerte schmerzhaft, während das Adrenalin nicht aufhören wollte, durch ihren Körper zu peitschen. Binnen Minuten war das Celestical Tattoo voller Polizei.
»Marni?«, hörte sie Francis’ Stimme. »Was zum Teufel ist passiert? Du blutest am Arm.«
»Alles in Ordnung«, erwiderte sie mit bebender Stimme, ohne sich die Mühe zu machen, die Wunde anzusehen. »Glaubst du, er ist es? Haben wir den Tattoo-Dieb geschnappt?«
Einer der Uniformierten zog den Angreifer auf die Füße. Francis drehte sich zu ihm um. Der Kerl war um einiges größer und kräftiger als er – gut über eins achtzig.
»Sam Kirby?«
Der Mann erwiderte nichts. Francis streckte den Arm aus und zog ihm die Sturmhaube vom Kopf, dann schnappte er perplex nach Luft – genau wie die anderen.
Der Tattoo-Dieb war eine Frau.