46
Francis
Sam Kirby. Samantha. Der Tattoo-Dieb. Eine SIE . Francis konnte es nicht fassen. Seit Marni Evan Armstrongs Leichnam entdeckt hatte, war ihm kein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass es sich bei dem Killer um eine Frau handeln könnte. Warum eigentlich nicht? Nun, die Frage ließ sich im Grunde leicht beantworten: Die Morde hatten große körperliche Kraft erfordert. Leichen waren totes Gewicht, und der Killer hatte die Opfer überwältigt, Gliedmaßen abgetrennt, gehäutet und anschließend entsorgt. Hätte irgendwer vorgeschlagen, Frauen in den Kreis potenzieller Täter miteinzubeziehen, hätte das ganze Präsidium gelacht.
In Anbetracht von Sam Kirbys Statur sah die Sache natürlich völlig anders aus. Sie war groß, breit, muskulös. Sie konnte die physische Herausforderung mühelos bewältigen – das dazu erforderliche Aggressionspotenzial allerdings war außergewöhnlich. Weibliche Serienmörder fand man vergleichsweise selten, und wenn doch, benutzten die meisten von ihnen Gift und töteten Kinder oder ältere Menschen. Er konnte sich nicht entsinnen, von einer Serienmörderin gehört zu haben, die Männer attackierte und umbrachte wie Sam Kirby.
Zudem hatte Marni Mullins vorsätzlich genau das getan, was sie nicht hatte tun sollen, und deshalb war Francis sauer. Stinkwütend. Wie hatte sie sich selbst derart in Gefahr bringen können, ohne ihm zuvor Bescheid zu sagen? Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Die ganze Aktion war unsäglich verantwortungslos gewesen, und Francis musste sich sehr zusammenreißen, um sie nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln.
»Was, wenn sie zum Ziel gekommen wäre?«, hatte er sie in den Minuten allgemeiner Verwirrung aufgewühlt gefragt, nachdem er Sam Kirby die Sturmhaube vom Kopf gerissen hatte. »Dein Studio hätte genauso gut zum Tatort werden können, und dann würde ich jetzt auf deinen blutverschmierten, gehäuteten Rücken blicken!«
Später war Francis erschrocken gewesen über seine Reaktion, erschrocken darüber, wie tief seine Gefühle für Marni inzwischen gingen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass Marni zu den Opfern des Tattoo-Diebs zählen sollte. Gott sei Dank hatte einer der Polizisten vor dem Laden ihre Schreie durchs offene Wagenfenster gehört. Als sie ihr zu Hilfe eilten, hatte Marni die Situation bereits unter Kontrolle, aber der Kampf hätte auch anders ausgehen können.
Noch immer innerlich bebend, stieg Francis die Treppe hinauf zu Bradshaws Büro. Er hegte keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Frau, die sie letzte Nacht in Marnis Studio festgenommen hatten, um den Tattoo-Dieb handelte. Sie war mit einem Messer in den Hinterraum eingedrungen; die Spurensicherung hatte gleich neben der Hintertür einen Rucksack mit einer Messerrolle, einer Plastikplane und Ziplockbeuteln entdeckt. In einer der Seitentaschen steckte eine Tablettenschachtel mit einem Aufkleber für die verordnete Dosierung – verschreibungspflichtige Betablocker für Sam Kirby. Als man ihr die Latexhandschuhe abstreifte, kamen die beiden blutenden Herzen auf ihren Handrücken zum Vorschein – das Bindeglied zu dem Angriff auf Dan Carter. Rose Lewis hatte ihren großen Tag, indem sie sämtliche sichergestellten Beweismittel abgleichen und Verbindungen zwischen dem Überfall auf Marnis Studio, der Stone Acre Farm und den früheren Verbrechen herstellen konnte.
Francis klopfte an Bradshaws Tür und trat ein.
»Wo ist Mackay?«, fragte der DCI , noch bevor Francis die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Er kommt gleich nach, wollte nur noch sichergehen, dass der Papierkram für die Untersuchungshaft in Ordnung ist.«
Bradshaw nickte anerkennend.
»Gute Arbeit, Sullivan. Ich habe nie bezweifelt, dass Sie den Mörder am Ende schnappen. Sehen Sie, ich hatte recht: Es war gut, eine der anvisierten Zielpersonen als Köder einzusetzen. Das hat den Killer aus der Reserve gelockt. Gut gemacht.«
»Danke, Sir.« Francis musste die Zähne zusammenbeißen, um höflich zu antworten.
Bradshaw bedeutete ihm, Platz zu nehmen.
Francis setzte sich.
»In Wirklichkeit«, fuhr er fort, »sollte die Anerkennung Marni Mullins gebühren. Wir sind gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um die Situation zu entschärfen. Ich hätte diese Aktion niemals abgesegnet, hätte sie sich zuvor an mich gewandt.«
Bradshaws Augenbrauen wanderten in die Höhe, aber Francis würde ihm nicht auf die Nase binden, wie wütend er auf Marni war.
»Und Sie sind sich absolut sicher, dass diese Frau unser Killer ist? Ich hege da gewisse Zweifel. Und wenn es sich tatsächlich um den Tattoo-Dieb handelt – müsste sie da nicht einen Komplizen haben?«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt deutet alles darauf hin, dass sie die Person ist, die wir suchen«, sagte Francis. »Die kriminaltechnischen Untersuchungen werden bald Genaueres ergeben.«
»Wie denken Sie über einen Komplizen? Passt irgendwer in das Raster?«
»Bislang sind wir auf keinerlei Hinweis gestoßen, dass tatsächlich ein Komplize involviert ist.«
»Aber eine Frau, die solche Gräueltaten ganz allein ausführt? Die Morde erforderten unmittelbaren Körperkontakt und sehr viel Kraft.«
»Sir, sie ist eine kräftige Frau. Groß, stark, ausgesprochen muskulös. Ich tippe auf Kraftsport – Gewichtstraining.«
»Hm …« Bradshaw schien nicht überzeugt. »Das Material aus der Überwachungskamera, das die Person mit der Kapuzenjacke zeigt, deutet nicht auf eine Frau hin, die Aussage der Zeugen von dem vereitelten Übergriff auch nicht.«
»Wie ich schon sagte: Sie ist von maskuliner Statur. Die Aufnahmen sind ziemlich körnig, und was die Zeugenaussagen anbetrifft – das Pärchen ging davon aus, dass es sich um einen Mann handelt, und das Gehirn erledigt den Rest.« Francis zuckte die Achseln. »Ich bin absolut überzeugt, dass die Frau unser Täter ist, Sir.«
Noch während er sprach, betrat Rory Bradshaws Büro. Er nickte ihnen zu und setzte sich auf den zweiten Stuhl vor Bradshaws Schreibtisch.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Chief Inspector.
»Alles peinlich genau bis ins kleinste Detail«, antwortete Rory. »Sie bringen sie in einen der Vernehmungsräume, sobald sie ihr Gesicht gesäubert haben.«
»Muss sie ärztlich versorgt werden?«
»Der Bereitschaftsarzt hat sie untersucht. Die Nase ist gebrochen, aber im Moment genügt ein Eisbeutel. Sobald in ein paar Tagen die Schwellung zurückgegangen ist, wird man den Schaden genauer begutachten. Bis dahin bekommt sie Schmerzmittel.«
»Na schön, dann gehen wir mal besser runter. Sullivan, Sie übernehmen die Führung. Rory wird dabei sein, und ich stehe draußen und vergewissere mich, dass Sie die Vernehmung nicht in den Sand setzen. Wir müssen die Frau überführen, und wenn Sie irgendetwas tun, was dies gefährden könnte …« Er verstummte. Sie wussten, was er dann tun würde, auch ohne dass er es extra erklären musste.
Francis stand auf, und Rory folgte ihm hinaus.
»Bradshaw nimmt an, dass sie einen Komplizen hatte«, sagte Francis, als sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunterstiegen.
»Das glaube ich nicht«, sagte Rory.
»Ich auch nicht. Sie wirkt absolut tough. Es dürfte kein Problem für sie gewesen sein, die Taten allein durchzuführen.«
Als sie eintrafen, saß Sam Kirby bereits im Vernehmungsraum; die Hände mit Handschellen gefesselt, drückte sie sich einen Eisbeutel auf die Nase. Ihr kurz geschnittenes graues Haar war widerspenstig und ungepflegt, statt ihrer blutbespritzten Klamotten trug sie nun einen formlosen grauen Trainingsanzug. Sie saß da wie ein Mann, die Beine weit auseinandergestellt, und atmete geräuschvoll durch den Mund.
»Können wir die Handschellen abnehmen?«, fragte Francis den Sergeant, der an der Tür des Vernehmungsraums stand.
Der Polizist kam herein und öffnete die Handschellen. Francis bemerkte, dass sich Kirby nicht sonderlich kooperativ zeigte, obwohl es zu ihrem eigenen Wohl war. Sie rieb ihre Handgelenke und starrte Francis und Rory aus roten, wässrigen Augen an, unter denen sich bereits dunkle Verfärbungen bildeten.
Rory stellte das Aufnahmegerät an und nannte Zeit, Datum und die Namen der im Vernehmungsraum Anwesenden. Anschließend las er Kirby ihre Rechte vor. Kirby beobachtete ihn unbewegt.
»Bitte bestätigen Sie, dass Sie Sam oder Samantha Kirby sind«, begann Francis die Vernehmung.
Als er sie ansprach, wandte Kirby den Blick ab und starrte stattdessen in eine Ecke hinter ihnen an der Decke. Francis wiederholte die Frage, obwohl er davon ausging, dass er keine Antwort bekommen würde.
»Miss Kirby«, sagte er. Ihr Gesicht verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. »Wir untersuchen Ihren Übergriff auf Marni Mullins in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages. Außerdem ermitteln wir in einer Reihe von Mordfällen und einem Fall von versuchtem Mord, die während der vergangenen zwei Wochen in Brighton verübt wurden. Es wäre hilfreich für Sie selbst, wenn Sie sich während dieser Vernehmung als kooperativ erweisen würden.«
Ihr vorgetäuschtes Lächeln erinnerte an eine Grimasse, doch es war das erste Anzeichen dafür, dass sie sich der Anwesenheit der beiden Detectives im Raum bewusst war.
»Können Sie uns erklären, wo Sie sich an folgenden Daten zu den genannten Uhrzeiten aufgehalten haben? Sonntag, den achtundzwanzigsten Mai, zwischen null und fünf Uhr morgens? Dienstag …«
»Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.« Samantha Kirbys Stimme klang heiser, doch laut und deutlich, als sie ihm ins Wort fiel.
Francis rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen.
Rory öffnete einen Ordner, der auf dem Tisch vor ihnen stand, und zeigte ihr das Foto von Evan Armstrong, das seine Eltern ihnen überlassen hatten. Das Foto, auf dem er stolz sein neues Tattoo präsentierte.
»Kennen Sie diesen Mann?«, fragte er.
Kirby sah das Bild nicht mal an. »Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.«
Rory warf Francis einen Blick zu.
Es klopfte, dann betrat der Sergeant den Vernehmungsraum, der zuvor Kirbys Handschellen aufgeschlossen hatte.
»Kann ich Sie kurz sprechen?«
Draußen auf dem Korridor stellte er Francis einem tadellos gekleideten Mann mit einer teuren Aktentasche vor. Sein Haar war schütter, seine dunklen Knopfaugen musterten Francis abschätzig.
»Das ist Mr. Elphick«, sagte der Sergeant.
Francis zog die Augenbrauen hoch. »Ja?«
»Ich bin Miss Kirbys Anwalt«, teilte der Mann mit. »Ich würde meine Mandantin gern sehen, um sicherzustellen, dass sie angemessen behandelt wird. Soweit ich gehört habe, wurde sie während der Festnahme verletzt.«
Francis bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Nicht während der Festnahme«, stellte er klar. »Ihre Mandantin – sollte sie Sie tatsächlich beauftragen –, wurde bei dem von ihr durchgeführten brutalen Übergriff auf Miss Mullins verletzt, die glücklicherweise in der Lage war, sich selbst zu verteidigen und Miss Kirby dingfest zu machen.«
»Das ist Ihre Auslegung der Ereignisse. Ich bin mir sicher, dass meine Mandantin eine andere Geschichte zu erzählen hat.« Er drängte sich an Francis vorbei in den Vernehmungsraum.
Wenn sie sich denn die Mühe macht, uns ihre Geschichte mitzuteilen.
Rory stellte das Aufnahmegerät erneut an.
»Wiederaufnahme der Befragung um drei Uhr fünfzig, jetzt in Anwesenheit von …«
»George Elphick, Anwalt der Beschuldigten Miss Kirby«, ergänzte der. Er kannte das Prozedere.
Francis bemerkte, wie sich Kirbys Gesichtsausdruck veränderte. Sie wirkte nun so selbstgefällig wie jemand mit einer geplatzten Lippe und einer gebrochenen Nase nur wirken konnte.
»Ich werde die Befragung nun fortsetzen«, sagte Francis. »Miss Kirby, kennen Sie Jem Walsh oder sind Sie ihm jemals begegnet?«
»Es ist nicht vorbei.«
Elphick beugte sich zu seiner Mandantin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie zuckte die Achseln, er nickte energisch mit dem Kopf.
»Kein Kommentar«, sagte sie.
Und das war’s. Es ist nicht vorbei wurde ersetzt durch Kein Kommentar. Francis wusste, dass es keinen Zweck hatte, die Vernehmung fortzusetzen. In Anwesenheit des Anwalts würde er nichts Nützliches aus Sam Kirby herausbringen.
Nicht dass das etwas zählte. Das Beweismaterial war erdrückend, und jetzt, da sie wussten, wonach sie Ausschau halten mussten – nach einer außergewöhnlich großen Frau –, würden sie mit Sicherheit weitere Treffer bei den Aufnahmen der in Frage kommenden Überwachungskameras landen.
»Die Befragung wird verschoben«, sagte er, und Rory stellte den Rekorder ab.
Der DS stand auf und starrte auf Kirby herab, die sich auf ihre Hände konzentrierte.
»Ich weiß, wo ich Sie schon einmal gesehen habe«, sagte er. »Sie waren bei dem Gedenkgottesdienst für Evan Armstrong, nicht wahr?«
Natürlich, das war es also! Irgendetwas hatte an Francis Gedächtnis gekratzt, seit er ihr die Sturmhaube vom Kopf gezogen hatte, und nun wusste er auch, was. Er hatte sie schon einmal gesehen. Rory hatte recht – es war bei dem Gedenkgottesdienst für Evan Armstrong gewesen. Sie war die riesige Frau gewesen, die hinten in der Kirche neben ihnen gesessen hatte.
George Elphick stand auf. »Ich werde ein umfangreiches psychiatrisches Gutachten einfordern, bevor Sie meiner Mandantin weitere Fragen stellen dürfen«, sagte er. »Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie nicht in der Lage ist, sich vor Gericht zu verantworten.«
Es war zwar nicht gerade eine Schocktaktik, dennoch stieß Bradshaw die Tür auf und platzte ins Vernehmungszimmer. »Mr. Elphick, wenn ich auch nur für eine Minute den Eindruck bekomme, dass Sie meine Officer an der Erfüllung ihrer Pflicht hindern, werde ich Sie dafür zur Verantwortung ziehen, merken Sie sich das.«
»Ich denke nicht, dass das nötig sein wird«, erwiderte Elphick. »Jeder Richter wird verstehen, dass ein solches Gutachten im Interesse meiner Mandantin ist. Guten Abend.«
Er verließ den Vernehmungsraum, ohne ein Wort zu seiner Mandantin zu sagen, und ihr schien es gleich zu sein, ob er ging oder blieb. Als der Sergeant ihr die Handschellen wieder anlegte, um sie zurück in ihre Zelle zu bringen, fing sie an zu lachen und sah Francis zum ersten Mal in die Augen.
»Ich habe meine Meinung geändert.«
»Inwiefern?«
»Möchten Sie wissen, wer ich bin?«