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Marni
»Marni?« Thierry betonte ihren Namen auf eine Art und Weise, wie kein anderer es tat. Seine Stimme zu hören, wunderte sie und wirkte gleichzeitig beruhigend. Sie öffnete die Augen.
Sie lag in einem Bett in einem Krankenhauszimmer. Das andere Bett, ihrem direkt gegenüber, war leer. Sonnenlicht strömte durch die verblichenen, schlecht schließenden Vorhänge, und sie blinzelte, als sie versuchte, ihren Blick zu fokussieren. Zu beiden Seiten saßen Leute an ihrem Bett. Thierry und Alex auf der einen, Francis auf der anderen Seite. Die Atmosphäre im Zimmer war schneidend.
Und dann kam alles zurück. Der Tattoo-Dieb, der in ihr Studio platzte. Der Kampf. Die Demaskierung einer zornigen Frau mit den Tattoos blutender Herzen auf den Handrücken. Marni schnappte nach Luft.
»Ich werde dir nie verzeihen, dass du dich in eine solche Gefahr begeben hast«, sagte Thierry.
Sie ignorierte ihn. Wie immer war er viel zu dramatisch.
»Wo ist Pepper?«
Thierry rückte mit seinem Stuhl ein Stück vor und nahm ihre Hand. »Es geht ihm gut. Aber du hast dich unverantwortlich verhalten.« Er strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken, eine vertraute Geste.
»Wo ist er?«
»Merde.
Der Hund ist nicht wichtig. Du hättest sterben können. Ich hatte eine Wahnsinnsangst um dich, chérie.
«
»Verschon mich damit, Thierry. Wie du siehst, bin ich ja noch am Leben.«
Marni funkelte ihn an und zog ihre Hand weg. Thierry sah sie sprachlos an und griff erneut danach, aber sie schob sie außerhalb seiner Reichweite unter die Bettdecke.
Alex starrte sie mit großen, furchterfüllten Augen an. »Wie konntest du das nur tun, Mum? Du hättest es uns sagen müssen.«
»Ihr hättet mich daran gehindert.«
»Da hast du ganz recht, verdammt noch mal«, pflichtete er ihr bei, »das hätten wir.«
»Du musst mir keins aufs Dach geben«, sagte sie gereizt. »Ich bin deine Mutter, schon vergessen?« Doch seine Sorge löste ein Gefühl der Wärme in ihr aus und einen nicht unerheblichen Anflug von schlechtem Gewissen.
Francis hustete. »Ich muss irgendwann deine Aussage aufnehmen, Marni. Sobald du dich dazu in der Lage fühlst.«
»Nein! Sie haben sie in diesen Schlamassel hineingeritten, also lassen Sie sie jetzt in Ruhe. Sie muss sich ausruhen. Ich hab eh keine Ahnung, was Sie hier zu suchen haben.« Thierry stand auf und nahm eine drohende Pose ein.
Francis sah ihn über das Bett hinweg stirnrunzelnd an. »Sie ist eine wichtige Zeugin in einem Mehrfachmord.«
»Das ist Ihre Schuld. Sie haben sie in Gefahr gebracht.«
»Das hat er nicht«, widersprach Marni. »Er konnte nicht wissen, was ich vorhatte.«
Thierry schnaubte verächtlich, sank auf seinen Stuhl zurück und versuchte erneut, ihre Hand zu nehmen.
»Wann darf ich nach Hause?«, fragte Marni.
»Das liegt bei den Ärzten«, antwortete Francis. »Du hast anscheinend eine leichte Gehirnerschütterung erlitten.«
Marni schaute auf ihren linken Arm, um den ein Verband gewickelt war. »Und was ist das?«
»Neun Stiche. Dein Sleeve-Tattoo wird eine Narbe behalten«, sagte Thierry.
»Mist!« Sie wandte sich an Francis. »Wann möchtest du meine Aussage aufnehmen?«
»Wann immer dir danach zumute ist.«
»Mir geht es gut. Wenn ihr mir einen Kaffee besorgt, kann ich sofort loslegen.«
»Non.
Du musst dich ausruhen. Das ist doch lächerlich«, protestierte Thierry.
»Thierry, ich kann selbst entscheiden, wozu ich in der Lage bin und wozu nicht. Bitte halte dich da raus.«
Thierry stand abrupt auf. »Okay. Ich weiß, wann ich nicht erwünscht bin. Komm, Alex.«
»Kommt ihr später noch mal vorbei?«
Thierry bedachte sie mit einem finsteren Blick, aber er nickte. »Gib mir Bescheid, wenn er weg ist.«
An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Inspector, könnte ich kurz unter vier Augen mit Ihnen reden?«
Francis stand auf und folgte Vater und Sohn hinaus.
Marnis Kopf hämmerte. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, waren zwei Männer, die sich um sie stritten, vor allem, weil sie an keinem von beiden sonderlich interessiert war. Oder doch?
Erschöpfung breitete sich in ihr aus. Sie schloss die Augen und versuchte bewusst, ihr angespanntes Kinn zu lockern. Sie war jetzt in Sicherheit. Der Mörder saß hinter Gittern, und es gab nichts, wovor sie sich fürchten musste.
Die Tür ging leise auf und schloss sich wieder.
»Marni?«, fragte eine Frauenstimme.
Sie öffnete die Augen und sah Angie Burton aufs Bett zukommen, eine Tasse in der Hand. »Francis hat mir gesagt, dass Sie einen Kaffee möchten.«
Sie setzte sich auf und lehnte sich gegen die Kissen. »Danke. Wo ist er?«
»Ich bin mir sicher, er wird jeden Augenblick wieder da sein«, sagte sie. Ihr freundliches Lächeln erreichte nicht ihre Augen.
Die Tür ging erneut auf, Francis kam herein.
»Danke, Angie«, sagte er.
»Kein Problem. Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie noch etwas brauchen.« Sie lächelte affektiert, und für Marni war alles klar. Nun, sollte sie ihn ruhig haben.
»Alles okay, Marni? Brauchst du noch mehr Schmerzmittel?«
»Mir geht es gut. Was wollte Thierry?«
»Ach, er hat mir lediglich gedroht, dass er mir ernsthaften körperlichen Schaden zufügen wird, wenn ich dich noch einmal in Gefahr bringe.«
Marni schnaubte. »Darauf solltest du nichts geben. Große Klappe und nichts dahinter.«
»Er macht sich Sorgen um dich, und zwar zu Recht. Was du getan hast, war idiotisch.«
Marni nahm einen Schluck Kaffee. »Ich habe den Tattoo-Dieb gestellt, oder etwa nicht?«
»Ja, und das hätte dich beinahe das Leben gekostet.«
»Weißt du was? Anstatt sauer auf mich zu sein, solltest du dich lieber bei mir dafür bedanken, dass ich deinen Job erledigt habe.«
Francis musste sich sichtlich zusammennehmen, aber er sagte nichts. Allerdings zog er ein Gesicht wie jemand, dem man soeben ein Schüreisen in den Hintern gerammt hatte.
»Zisch ab«, sagte sie. »Ich bin müde, und ich finde, es wird Zeit, dass du gehst. Und mach dir bloß nicht die Mühe, noch einmal herzukommen.«