48
Marni
Der Arzt war jung und sah gut aus, was Marni dazu brachte, sich zu fragen, ob sie inzwischen ein Alter erreicht hatte, in dem alle Beschäftigten im öffentlichen Sektor jünger aussahen als sie selbst. Doch als er ihr mit einer kleinen, grellen Taschenlampe in die Augen leuchtete und ihr erklärte, dass er sie bis zum nächsten Morgen zur Beobachtung dabehalten wolle, wurde er ihr regelrecht unsympathisch.
»Im Ernst?«, fragte sie ungehalten. »Es geht mir gut.«
»Haben Sie keine Kopfschmerzen?«
»Abgesehen davon.«
Er löste vorsichtig den Verband von ihrem Arm. Marni zuckte zusammen, als sie den langen, rohen Schnitt sah, der unter der schwarzen Naht in regelmäßigen Abständen pochte. Er ging direkt durch den unteren Teil ihres Tattoos, mitten durch den Flügel des Racheengels an ihrem Arm. Das Motiv war Thierrys Werk, das erste von mehreren, das er ihr gestochen hatte – es zu betrachten, brachte Erinnerungen an die Zeit zurück, in der sie sich in ihn verliebt hatte. Sie fragte sich, ob sie je wieder so starke Gefühle für einen Mann empfinden würde. Aber zusammen mit diesen Erinnerungen kehrten auch die Erinnerungen an Paul zurück – die dunkle dritte Seite des Trios –, und die länger werdenden Schatten, die sie warfen.
Der Doktor zog scharf die Luft ein. »Der Schnitt ist etwas zu rot für meinen Geschmack.« Er betastete die Haut am Rand der Wunde. »Sie ist heiß. Ich glaube, sie hat sich entzündet – allerdings haben wir Ihnen Antibiotika verabreicht, weshalb die Entzündung binnen der nächsten vierundzwanzig Stunden zurückgehen sollte. Ich schicke Ihnen eine Schwester, die Ihnen einen frischen Verband anlegen soll. Morgen werfe ich noch einmal einen Blick darauf.«
»Und ich kann Sie nicht überreden, Ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken?«
»Es ist nur zu Ihrem Besten, Miss Mullins. Sie haben einen Schock erlitten, weshalb wir auch Ihre Blutzuckerwerte eine Zeit lang im Blick behalten möchten. Ich bitte Sie um Ihr Verständnis.«
Als er weg war, betrachtete Marni den Schnitt. Sie beugte ihr Handgelenk und spürte, wie ihr der Schmerz den Arm hinaufschoss. Die Wunde sah tief aus. Gott sei Dank hatte er sie am linken Arm erwischt und nicht am rechten.
Eine Schwester betrat das Krankenzimmer und legte ihr einen neuen Verband an. Marni blieb so lange geduldig, bis sie gegangen war. Dann war es Zeit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Vorsichtig stand sie auf. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen, der Presslufthammer in ihrem Kopf begleitete jede ihrer Bewegungen. Durch eine offene Tür konnte sie in ein Badezimmer sehen. Mit behutsamen Schritten tappte sie darauf zu und hielt sich schwankend am Türrahmen fest. Anschließend stützte sie sich für ein paar Minuten am Waschbecken ab, bevor sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Ein müdes, blasses Gesicht, das um gute zehn Jahre gealtert schien, blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. Ihr Haar war zerzaust, das Make-up von gestern auf ihren Wangen verschmiert.
Sie würde hier nicht bleiben. Der Killer saß in Untersuchungshaft, und sie wollte unbedingt nach Hause, ein Bad nehmen und anschließend in ihrem eigenen Bett schlafen. Das war die einzige Möglichkeit, um sich besser zu fühlen.
Sie kehrte zu ihrem Bett zurück und sah sich suchend nach ihrer Kleidung um. Sie lag zusammengekrumpelt auf einem Stuhl am Fenster. Ihr Neckholder-Top und die Jeans waren voller Blut, aber das interessierte sie nicht. Sie waren angenehmer zu tragen als das kurze Krankenhausnachthemd mit dem offenen Rücken. Ihre Tasche war in dem kleinen Schrank neben ihrem Bett verstaut, ein Röhrchen Schmerztabletten stand auf dem Nachttisch. Sie packte es in ihre Tasche und zog den Reißverschluss zu.
Niemand hielt sie auf, als sie das Krankenhaus verließ, obwohl sie damit rechnete, dass jede Sekunde jemand ihren Namen rief. Der Polizeischutz war abgezogen worden, jetzt, da der Tattoo-Dieb gefasst war, und niemand hatte einen Grund, sie im Auge zu behalten. Unten in der Eingangshalle überlegte sie, ob sie Thierry anrufen und ihn bitten sollte, sie abzuholen, aber er würde womöglich versuchen, sie dazu zu überreden, eine weitere Nacht hierzubleiben. Draußen vor dem Eingang war ein Taxistand. Sie sah nach, ob sie genug Geld eingesteckt hatte, dann stellte sie sich in die Schlange. In ein paar Minuten wäre sie zu Hause, und sobald sie die Haustür hinter sich verschlossen und verriegelt hätte, könnte ihr der Rest der Welt den Buckel runterrutschen.
Als sie im Taxi saß, lief ihr ein Schauder den Rücken hinab. Ihr wurde klar, dass sie nicht in ein leeres Haus zurückkehren wollte. Alex war bei Thierry, und Pepper wurde noch tierärztlich versorgt.
»Könnten Sie mich stattdessen in die Gardner Street bringen?«
»Klar«, antwortete der Fahrer.
Sie würde ins Studio gehen und ein bisschen zeichnen. Zeichnen war die einzige Möglichkeit, mit den emotionalen Turbulenzen klarzukommen, die sie durchmachte – der Überfall; das, was sie auf der Stone Acre Farm gesehen hatte; Pepper; Francis Sullivan; Thierry; Paul, das ewig präsente Schreckgespenst … Nichts von dem stand in Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit, trotzdem brach immer wieder die unterschwellige Furcht durch, wenn sie sich bedroht fühlte.
Der Fahrer setzte sie vor dem Celestical Tattoo ab, und in dem Augenblick, in dem sie die Ladentür öffnete, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, hierherzukommen. Sie musste das Polizeisiegel an der Tür brechen und nahm an, dass sie vermutlich gar nicht hier sein durfte. Die Ereignisse der vorherigen Nacht kehrten mit aller Macht zurück, als sie sich mit den Spuren dessen konfrontiert sah, was geschehen war – Peppers Blut, die umgestürzte Massageliege. Auf ihrem Schreibtisch herrschte Chaos, dunkles Fingerabdruckpulver bedeckte sämtliche Oberflächen.
Aber das hier war ihr Reich, und sie würde sich nicht von den schrecklichen Vorfällen in die Ecke drängen lassen.
Erschöpft fing sie an aufzuräumen, wischte Peppers Blut vom Boden und tat ihr Bestes, um den unangenehmen Geruch auszublenden. Mit dem unverletzten Arm stellte sie die Massagebank wieder auf und putzte so gut wie möglich das schwarze Fingerabdruckpulver ab. Sie konnte nicht anders, sie musste weinen. Peppers Tapferkeit berührte sie, und sie war auch stolz auf sich. Sie war schon einmal angegriffen worden, aber diesmal hatte sie sich nicht kampflos ergeben. Sie hatte die Fertigkeiten angewandt, die sie erlernt hatte, und es war ihr gelungen, ihr Leben zu retten – und vermutlich das einiger anderer, jetzt, da der Tattoo-Dieb hinter Schloss und Riegel saß. Während die Polizei versucht hatte, dem falschen Mann die Schuld in die Schuhe zu schieben, hatte sie getan, was nötig war, um ihre Community zu schützen.
Es dauerte ein paar Stunden, bis sie fertig aufgeräumt hatte. Ihr Kopf fing wieder an zu hämmern, und es war ausgeschlossen, dass sie sich in diesem Zustand aufs Zeichnen konzentrieren konnte. Leeres Haus hin oder her – sie war bereit, nach Hause zu gehen und ins Bett zu kriechen.
Ihr Handy klingelte.
»Ja?«
»Marni, wo zum Teufel steckst du?«, fragte Thierry.
»Im Studio.«
»Ich bin im Krankenhaus. Sie haben mir gesagt, dass du dich selbst entlassen hast.«
»Das ist richtig. Ich konnte es keine Minute länger ertragen.«
Thierry stöhnte ungehalten. »Idiotin.«
»Rufst du nur an, um mich zu beleidigen?«
»Ich hole dich ab und bringe dich nach Hause.«
»Danke.«
Im Grunde war er kein schlechter Kerl.
Sie nahm ihre Tasche, steckte ein paar Zeichenutensilien ein und vergewisserte sich, dass die Hintertür verschlossen war. Irgendwer hatte ein provisorisches Schloss angebracht, vermutlich auf Francis’ Anweisung, um das alte zu ersetzen, das kaputtgegangen war, als Sam Kirby die Tür eingetreten hatte. Im Laufe der Woche würde sie ein neues einbauen lassen.
Sie ging zur Ladentür hinaus und blieb auf dem Gehsteig stehen, um auf Thierry zu warten. Es wurde langsam dunkel, die Geschäfte und Cafés in der Nähe hatten großteils schon geschlossen. Auf halber Strecke die Gardner Street hinunter ragten zwei riesige Beine in rot-weiß gestreiften Strümpfen aus der Fassade eines Comedy-Clubs auf die Straße. Sie musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie sie sah. Als Thierry und sie frisch getrennt waren und sie das Tatouage Gris verlassen musste, hatte sie ohne zu zögern das Tattoo-Studio angemietet, und auch jetzt noch konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie jemals irgendwo anders würde arbeiten wollen.
Sie hielt Ausschau nach Thierrys altem Jaguar. Zumindest würde sie eine angenehme Heimfahrt haben.
Scheinwerferlichter kamen auf sie zu, aber der Wagen fuhr vorbei. Es war auch kein Jaguar, sondern ein weißer Van, also hielt sie weiterhin Ausschau. Ihre Kopfschmerzen waren an der frischen Luft leicht zurückgegangen, und sie dachte sehnsüchtig an das warme Schaumbad, das sie sich gleich einlassen würde. Ein Lächeln trat auf ihr Gesicht. Sie war stolz auf sich und blickte positiv in die Zukunft. Sie hatte sich selbst etwas bewiesen, und das würde sie niemals vergessen.
Sie war kein Opfer.
Ich bin kein Opfer mehr, von niemandem.
Plötzlich explodierte ihr Hinterkopf vor Schmerz. Sie taumelte vorwärts. Ein Arm fing sie auf. Hielt sie fest. Drückte ihr etwas auf den Mund. Marni schnappte nach Luft, und die Welt um sie herum wurde schwarz.