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Francis
Der Gottesdienst beruhigte Francis nicht auf die Art und Weise, wie er es sich erhofft hatte. Zum ersten Mal war er einem Menschen begegnet, der der Personifizierung des Bösen so nahe kam. Natürlich bestand die Hauptaufgabe in seinem Job darin, Mörder dingfest zu machen, und das hatte er getan, seit er Detective Constable geworden war. Doch dieses Mal war es anders, denn er hatte die Ermittlungen geleitet und den Tattoo-Dieb wie einen persönlichen Gegner empfunden, der alles übertraf, was er an moralischer Verderbtheit bislang kennengelernt hatte. Er fühlte sich beschmutzt durch den Ekel vor alldem, was er auf der Stone Acre Farm zu Gesicht bekommen hatte, beschmutzt von dem Lächeln, mit dem ihn Sam Kirby nach der Vernehmung bedacht hatte.
Wie immer spürte er die beruhigende Wirkung, die die St Catherine’s Church auf ihn ausübte, doch keines der Gebete, keine Predigt konnte an jenem Abend zu ihm durchdringen. Sie taten nichts, um seinen Schmerz zu lindern, und sogar Pater Williams sonore Stimme bot ihm keinen Trost. Immer wieder quälte ihn die eine Frage: Wie konnte etwas so Böses existieren? Eine Frage, die die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigte und die Gott doch niemals beantwortete.
Seine Gedanken schweiften zu seiner Schwester, dann zu seiner Mutter. Seine Mutter hatte ihm nie vorgeworfen, dass ihn die Arbeit von seinen Besuchen bei ihr abhielt, aber seine Schwester hatte ihre Gefühle sehr deutlich geäußert. Natürlich fühlte er sich schuldig – er tat nicht mal halb so viel für die beiden, wie er tun sollte. Er hatte Robin zu ihrer Mutter mitgenommen, bevor er in den Gottesdienst gegangen war, und es war nicht gut gelaufen. Seine Mutter, fast blind und an den Rollstuhl gefesselt, hatte die meiste Zeit über geweint. Sie wollte wissen, ob sie etwas von ihrem Vater gehört hatten, doch das hatten sie natürlich nicht. Es war so lange her, dass er die Familie verlassen hatte, doch er stand immer noch im Fokus der Gedanken ihrer Mutter. Es schmerzte Francis, Lydia leiden zu sehen.
Robin hatte ihm vorgehalten, sie nicht regelmäßig zu besuchen, aber jedes Mal, wenn er seine Mutter zurückließ, allein in ihrer eigenen Welt, ihrem einsamen Zimmer, fühlte er sich schrecklich. Heute Nachmittag war es nicht anders gewesen. Das Interesse seiner Mutter an der Welt hinter ihren vier Wänden war verschwunden, und Robin überspielte ihre eigene Furcht vor der Zukunft mit ruppiger Gereiztheit. Als er zum Abschied die Wange seiner Mutter küsste, war sie feucht von Tränen. Die Zukunft hielt für sie nichts mehr bereit.
Er senkte die Augen und beugte den Kopf. Pater William trug das Gebet vor, 2. Korinther 13. Francis verlagerte das Gewicht auf den Knien und bedauerte, dass der Gottesdienst so schnell vorbei war.
Als die kleine Schar von Gottesdienstbesuchern aus der Kirche strömte, blieb er sitzen und betrachtete nachdenklich die gemalten Engel hinter dem Kruzifix. In der Kirche war alles still, abgesehen von den schlurfenden Schritten, da bei der Abendandacht kein Organist zugegen war. Er beugte sich vor, stützte den Kopf in die Hände und betete für Robin und seine Mutter, um die Kraft, die er brauchte, damit er seinen Job ordentlich erledigen konnte, und nicht zuletzt bat er um Vergebung für die Male, denen er Ablenkungen und Desillusionierung anheimgefallen war. Pater William drückte kurz seine Schulter, als er vom Mittelgang zum Altar zurückkehrte.
Es war absolut unangebracht, dass sein Handy in diesem Moment klingelte, aber genau das tat es. Pater Williams Kopf fuhr herum, ein Ausdruck stummer Missbilligung trat auf sein Gesicht. Francis drückte das Gespräch eilig weg und stellte das Handy anschließend aus, doch nicht ohne zuvor auf die Nummer zu blicken. Thierry Mullins. Der ihn anrief, um erneute Drohungen auszustoßen? Er steckte das Telefon zurück in die Tasche und senkte den Kopf zum stillen Gebet.
Als er die Kirche eine halbe Stunde später verließ, war es bewölkt und um einiges kühler als zuvor. Die St Catherine’s Church stand auf der Kuppe des Hügels, der Friedhof erstreckte sich hinunter in Richtung Dyke Road und der dahinterliegenden North Street. Francis, dessen Anspannung nachgelassen hatte, schlenderte den ausgetretenen Plattenweg entlang und passierte den gemauerten Torbogen, der auf die Wykeham Terrace führte. Von dort aus ging er weiter zur Haustür des beeindruckenden neugotischen Hauses, das seinem Vater gehörte. Er hatte dieses Haus immer geliebt, obwohl er als Kind nur kurz dort gewohnt hatte. Der grau-weiße Anstrich und die mit Zinnen versehenen Dachtraufen hatten ihn stets an eine Burg erinnert. Sein Vater ließ es seit über einem Jahrzehnt leer stehen, daher machte es Sinn, dass Francis dort einzog, als er einen Ort für sich allein haben wollte. Was als vorübergehende Maßnahme gedacht war, dauerte nun schon drei Jahre, und er hatte noch nicht einmal angefangen, sich nach einer Alternative umzusehen.
Er betrat das Haus, legte Jackett und Tasche ab und zog sein Handy hervor, um es wieder anzuschalten. Anschließend betrat er die Küche und überlegte gerade, was er wohl zum Abendessen im Kühlschrank hatte, als eine Textnachricht einging.
Marni ist verschwunden – rufen Sie mich an.
Die Nachricht war von Thierry, er hatte sie zwei Minuten nach seinem Anruf in der Kirche geschickt. Eine weitere folgte.
Rufen Sie mich an. Es ist ernst.
Zwei weitere, ganz ähnliche Nachrichten gingen ein.
Francis wählte Thierrys Nummer.
»Gott sei Dank«, sagte Thierry, als er hörte, dass Francis dran war. »Sie hat das Krankenhaus auf eigene Gefahr verlassen und ist ins Studio gefahren. Ich wollte sie abholen, aber sie war nicht dort.«
»Vielleicht hatte sie keine Lust, auf Sie zu warten, und ist zu Fuß gegangen«, überlegte Francis, bemüht, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen.
Es ist noch nicht vorbei …
»Sie geht nicht ans Handy. Außerdem musste sie nicht lange warten – ich hab bloß zehn Minuten gebraucht. Ich bin immer wieder die Straße entlanggefahren, aber von ihr war keine Spur zu sehen. Zu Hause war sie auch nicht – wie hätte sie das zu Fuß in so kurzer Zeit auch schaffen sollen? –, und überhaupt: Warum sollte sie laufen, wenn sie wusste, dass sie abgeholt wird?«
»Was könnte denn Ihrer Meinung nach passiert sein?«
»Woher soll ich das wissen?«, blaffte Thierry. »Bitte geben Sie eine Vermisstenmeldung raus!«
»Da ist doch noch mehr«, drängte Francis. »Ich habe das Gefühl, dass Sie mir nicht alles sagen.«
»Ich glaube nicht, dass das etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat, aber Sie sollten wissen, dass mein Zwillingsbruder irgendwann dieser Tage aus dem Gefängnis entlassen werden soll. Die beiden sind nicht gut aufeinander zu sprechen.«
»Ihr Bruder ist der Mann, den sie niedergestochen hat, richtig?«
»Sie hat Ihnen erzählt, was passiert ist?«
»Teilweise. Wollen Sie damit andeuten, dass Ihr Bruder auf dem Weg hierher sein könnte oder vielleicht schon da ist? Um was zu tun?«
»Nein … ach, ich weiß nicht. Ich möchte mich nur vergewissern, dass sie in Sicherheit ist.«
»Wir treffen uns vor dem Studio.«
Zehn Minuten später hielt Francis vor dem Celestical Tattoo in der Gardner Street an. Heute war es ihm gleich, dass er im Parkverbot parkte.
Durchs Fenster sah er Thierry gleich hinter der großen Scheibe stehen.
»War die Tür offen?«, fragte Francis, als er hineingestürmt kam.
Thierry schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Schlüssel. Ab und zu arbeite ich hier mit ihr zusammen.«
»Haben Sie irgendeinen Hinweis entdeckt, wohin sie gegangen sein könnte?«
»Nein.«
Francis ging nach hinten durch. »Sie muss länger hier gewesen sein – sie hat die ganze Sauerei von gestern beseitigt.«
»Angeblich hat sie das Krankenhaus gegen siebzehn Uhr verlassen.«
Francis warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor halb acht.
»Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihr gesprochen?«
»Gegen sieben. Ich war im Krankenhaus, und sie war hier. Ich hab sie angerufen und ihr angeboten, sie abzuholen und nach Hause zu fahren, und sie hat gesagt, sie würde auf mich warten. Aber als ich ankam, war sie weg.«
Das alles machte keinen Sinn. Der Tattoo-Dieb saß hinter Gittern. Marni war nicht länger in Gefahr. Oder doch? Francis wollte unbedingt glauben, dass sie lediglich keine Lust gehabt hatte, auf Thierry zu warten. Aber warum ging sie dann nicht ans Telefon?
»Wissen Sie, ob Ihr Bruder Paul bereits entlassen wurde?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Aber Sie sind sich nicht sicher?«
Er schüttelte den Kopf. »Meine Mutter weiß bestimmt Bescheid.«
Thierry wählte eilig eine Nummer und sprach in schnellem Französisch auf sein Handy ein. Als er auflegte, wirkte er erleichtert.
»Paul ist nach wie vor im Gefängnis. Er soll bald rauskommen, aber bislang hat man ihn noch nicht entlassen. Meine Mutter weiß auch nichts Genaueres.«
Dann steckte also nicht Paul dahinter. Doch das half ihnen im Grunde auch nicht weiter – Marni war nach wie vor verschwunden. Francis machte sich schreckliche Sorgen. Es konnte alles Mögliche passiert sein. Er zog sein Handy aus der Tasche.
»Rory, leiten Sie eine Fahndung nach Marni Mullins ein. Sie ist gegen neunzehn Uhr aus ihrem Tattoo-Studio in der Gardner Street verschwunden.« Er hörte einen Moment lang zu, dann sagte er stirnrunzelnd: »Ja, ich glaube, dass sie in Gefahr ist. Jetzt tun Sie schon, was ich sage!«
Es ist nicht vorbei …