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Marni
Sollte sie es wagen, die Augen zu öffnen? War sie wieder im Krankenhaus? Sie lag auf einem kalten, harten Untergrund. Auf dem Fußboden, auf der Seite. Ein plötzlicher Impuls sagte ihr, dass sie sich nicht bewegen konnte. Panik, ein Adrenalinstoß. Sie versuchte, die rechte Hand an ihr Gesicht zu bringen, aber das war nicht möglich, denn ihre Handgelenke waren hinter ihrem Rücken zusammengebunden. Sie war gefesselt, und zwar nicht nur an den Händen, sondern auch an den Füßen.
Sie rief um Hilfe, doch aus ihrer Kehle drang nichts als ein heiseres Krächzen.
Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass das keinen Unterschied machte – ihre Welt blieb schwarz. Ihre Augen mussten verbunden sein. Sie rieb ihr Gesicht seitlich am Oberarm und spürte einen Stoffstreifen rund um ihren Kopf, aber sie konnte ihn nicht hoch genug schieben, um darunter hervorlugen zu können. Kein noch so kleiner Lichtstrahl drang unter ihre Binde.
Die nächtlichen Ängste hoch tausend.
Sie kniff die Augen fest zusammen, meinte ein Baby weinen zu hören – Luke. Alex tauchte in der Ferne auf. Er rannte von ihr weg, schnappte sich Luke, und sie war nicht in der Lage, den beiden zu folgen. Sie biss sich auf die Innenseite der Wange. Der Schmerz ließ sie nach Luft schnappen.
Sie horchte. Die Stille wurde zu einem eigenen Geräusch, das in ihren Ohren klingelte, beharrlich pulsierend, im Einklang mit dem Rhythmus ihres Blutes in den Adern. Die einzige Möglichkeit, den Ohrwurm auszublenden, bestand darin, sich auf das Geräusch ihres eigenen Atems zu konzentrieren. Sie musste sich bewegen, also rollte sie sich von der Seite auf den Rücken, wobei sie sich die Arme quetschte, dann drehte sie sich weiter auf die andere Seite. Der Fußboden war kalt. Hüfte und Schulter, auf denen sie gelegen hatte, schmerzten.
Marni zog die Beine an und verlagerte das Gewicht, wobei sie sich langsam in eine sitzende Position kämpfte. Jetzt konnte sie sich vorbeugen und den Kopf auf die Knie legen. Sie holte ein paarmal tief Luft, dann ging es ihr etwas besser. Sie konnte wieder klarer denken. Wenn sie es schaffte, in die Hocke zu gelangen, könnte sie vielleicht herausfinden, wo die Tür war.
Der Gedanke schockierte sie – wie schnell sie sich mit der fatalen Situation abfand, in der sie steckte. Wo zum Teufel war sie? Wer hatte ihr das angetan? Die Furcht war wie eine eiskalte Dusche, deren Strahl in ihre Haut stach. Ihr Feind war weder die Dunkelheit noch die Stille. Der Feind war der Jemand, der sie hierher verschleppt hatte.
Das konnte nur einer gewesen sein. Paul.
Nein, das war unmöglich.
Sie schrie erneut um Hilfe, und diesmal war ihre Stimme laut und deutlich zu vernehmen. Sie schrie ungefähr eine Minute lang, dann hielt sie abrupt inne und lauschte in der Hoffnung, Schritte zu hören. Doch was, wenn Paul zu ihr kam? Sofort bereute sie, dass sie sich bemerkbar gemacht hatte.
Wenn er nicht für diese Entführung verantwortlich war – wer zum Teufel würde ihr sonst so etwas antun? Und vor allem warum?
Es war kalt. Und so dunkel. Sie hatte schrecklichen Durst. Sie war allein. Nicht mehr lange, und sie würde Insulin und etwas zu essen benötigen, und zwar in der richtigen Reihenfolge. Sie hatte Angst, denn sie wusste nur zu gut, wozu Paul fähig war.
Während der nächsten Stunde schlurfte sie in der Hocke durch ihr Gefängnis, tastete sich an den Wänden entlang, um sich einen ungefähren Überblick zu verschaffen. Der Raum war groß, und sie stieß gegen verschiedene Möbelstücke, darunter zwei Stühle. An einer Wand befand sich ein Türrahmen mit einer Tür. Marni zog sich hoch auf die Knie, dann gelang es ihr, sich mit einer Schulter gegen das Türblatt zu drücken und hochzustemmen. Als sie endlich auf beiden Füßen stand, drehte sie sich um und tastete mit ihren auf dem Rücken zusammengebundenen Händen nach der Klinke. Es gelang ihr, sie runterzudrücken und zu ziehen. Nichts. Sie drückte probehalber dagegen. Ebenfalls nichts. Abgeschlossen.
Enttäuschung machte sich in ihr breit. Ihre Blase erleichterte sich. Heißer Urin rann ihre Beine hinab und durchweichte ihre Jeans, der strenge Geruch stach ihr in die Nase.
Marni ließ sich auf den Fußboden sacken und fing an zu weinen.