51
Rory
Der Chef stürmte in die Einsatzzentrale, noch blasser, als er von Natur aus war. Sein Atem ging stoßweise.
»Nichts?«, fragte er Rory.
Rory schüttelte den Kopf. »Die Fahndung ist doch gerade erst rausgegangen.«
»Was ist mit den Überwachungskameras?«
»Wir fangen gleich damit an, das Material zu sichten.«
»Kommen Sie, Rory, Sie wissen genauso gut wie ich, dass unsere Chancen, sie zu finden, von Minute zu Minute geringer werden.«
Das war Rory durchaus klar, und er war sich noch anderer Tatsachen bewusst. Je mehr Zeit zum Beispiel verstrich, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie die gesuchte Person tot auffinden würden. Die Überwachungskameras konnten ihnen nur Aufschluss darüber geben, dass sich Marni Mullins zu der und der Zeit an dem und dem Ort befunden hatte, aber nicht darüber, wo sie jetzt war. In Anbetracht des Zustands, in dem sich der Chef im Augenblick befand, hielt Rory es allerdings für besser, diese Weisheiten für sich zu behalten.
»Angie!«, wandte sich Francis an seine Kollegin. »Ich habe hier eine Liste mit Telefonnummern, die Thierry Mullins für mich notiert hat – Freunde, Familienmitglieder und andere Personen, die sie angerufen haben könnte. Gehen Sie sie bitte für mich durch und finden Sie heraus, ob irgendwer eine Ahnung hat, wo sie stecken könnte.«
Angie holte sich die Liste, kehrte an ihren Schreibtisch zurück und griff zum Telefonhörer.
»Was ist mit dem Jungen?«, fragte Rory. »Weiß er nichts?«
»Thierry ist zu ihm gefahren und gibt uns Bescheid, sollte Alex etwas wissen.«
»Ihre Schwester weiß nichts«, sagte Burton und wählte die nächste Nummer auf der Liste.
Rory klickte eine Datei auf seinem PC
an, und die Aufnahmen der Verkehrsüberwachungskamera an der Gardner Street erschienen auf dem Bildschirm. Francis warf einen Blick über seine Schulter. Bedauerlicherweise war die Kamera so eingestellt, dass der Eingang zum Celestical Tattoo gerade außerhalb ihrer Reichweite war.
»Verdammt – das bringt uns gar nichts.«
»Werfen wir trotzdem mal einen Blick darauf«, sagte Rory, der ganz ruhig blieb. »Wenn sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht hat – ganz gleich, wohin –, dann müssten wir sie jeden Augenblick die Straße entlanggehen sehen. Sollte sie die andere Richtung eingeschlagen haben, dürfte sie von einer der anderen Kameras aufgezeichnet worden sein, spätestens an der Ecke zur North Road.«
Rory spielte die Aufnahmen ab. Er begann um neunzehn Uhr, zu dem Zeitpunkt, an dem Thierry Marni vom Krankenhaus aus angerufen hatte. Ein paar Passanten waren auf der Straße zu sehen, doch die meisten Geschäfte und Cafés hatten bereits zu. Ab und an fuhr ein Wagen vorbei. Die Gardner Street war eine schmale Einbahnstraße, in der überwiegend Halteverbot herrschte, wodurch sie freie Sicht auf die Gehsteige und Eingänge hatten.
Francis zappelte nervös hinter ihm herum. Sie sichteten die Aufnahmen mehrere Male, zoomten die Fußgänger heran, um festzustellen, ob sich Marni unter ihnen befand, aber von ihr war keine Spur zu entdecken. Wie Rory erwartet hatte, bot ihnen das Material keinen brauchbaren Hinweis.
»Was ist mit der North Road?«, drängte der Chef. »Können Sie den Film von der Kamera Gardner Street/Ecke North Road laden?«
Sie gingen die Aufnahmen der entsprechenden Kamera eine weitere halbe Stunde durch und wünschten sich verzweifelt, Marni wäre darauf zu sehen.
»Es ist, als habe sie sich in Luft aufgelöst«, sagte Francis.
»Könnte sie den Laden durch die Hintertür verlassen haben?«
»Nein, die Tür war von innen mit einem Vorhängeschloss gesichert. Sie muss vorn rausgegangen sein. Spielen Sie das Material noch einmal ab, Rory, und notieren Sie sämtliche Nummernschilder.«
Zwei weitere Stunden verstrichen, die sich allerdings sehr viel länger anfühlten.
Francis tigerte nervös in der Einsatzzentrale auf und ab, bellte Fragen an das Team in den Raum und telefonierte mit Thierry. Alex wusste nichts, auch keine andere der Personen, die Thierry angerufen hatte.
»Gibt’s was Neues, Rory?«
»Noch nicht, Chef. Ich habe die ersten drei Wagen überprüft. Sie sind alle von hier, nichts Verdächtiges.«
Die entscheidenden ersten Stunden waren längst verstrichen, und sollte man Marni tatsächlich entführt haben, wurden ihre Überlebenschancen von Minute zu Minute geringer.
»Chef?«
»Ja?«
»Der da«, sagte Rory und deutete auf einen kleinen weißen Lieferwagen. »Hier steht, dass er auf eine Mietwagenfirma zugelassen ist.«
»Okay, los geht’s.«
Francis stürmte aus der Einsatzzentrale, wobei er beinahe mit einem Uniformierten zusammengestoßen wäre, der gerade hereinkam.
»Inspector Sullivan?«
»Ja?«
»Das ist gerade am Empfang abgegeben worden.« Er hielt eine rote Tasche mit Schulterriemen in die Höhe. »Ein Mann hat sie nach der Sperrstunde in einer Seitenstraße der Gardner Street gefunden. Es sieht so aus, als gehörte sie der vermissten Frau, dieser Marni Mullins.«
Die letzte Information war überflüssig – Francis erkannte die Tasche sofort.
Als der Officer ihm die Tasche reichte, klingelte darin ein Handy. Francis ließ sie auf den nächsten Schreibtisch fallen und durchwühlte sie auf der Suche nach dem Telefon. Thierrys Name blinkte auf dem Display. Francis wischte über den grünen Hörer.
»Marni? Nein. Wer ist dran?«, hörte er Thierry mit panischer Stimme, gepaart mit einem Anflug von Hoffnung, fragen.
»Hier spricht Francis Sullivan. Marnis Tasche wurde in der Gardner Street gefunden und gerade bei uns abgegeben.«
»Merde, merde!«
»Wir haben eine Spur. Ein Mietvan ist um kurz nach neunzehn Uhr die Straße entlanggefahren. Die Autovermietung ist am Cannon Place. Sie macht um sechs Uhr auf – wir treffen uns dort.«
Er wollte gerade auflegen, als Thierry sagte: »Warten Sie.«
»Was gibt’s?«
»Sind ihre Medikamente in der Tasche?«
»Welche Medikamente?« Francis zog die beiden Hälften der Tasche weit genug auseinander, um deren Inhalt inspizieren zu können.
»Sie ist Diabetikerin. Sie braucht Insulin.«
»Das wusste ich gar nicht.«
»So gut kannten Sie sie nun auch wieder nicht.«
Ganz unten in der Tasche entdeckte Francis einen kleinen Beutel mit medizinischen Utensilien. Er nahm ihn heraus und fragte: »Was passiert, wenn sie ihn nicht bei sich hat?«
»Wenn sie ihre Blutzuckerwerte nicht kontrolliert, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie in der nächsten Zeit entweder schwer unterzuckert oder überzuckert.«
»Und was passiert dann?«
»Dann fällt sie ins Koma.«