52
Francis
Während Francis fuhr, telefonierte Rory. »Bei der Autovermietung geht keiner dran, Chef. Die haben anscheinend noch nicht geöffnet.«
»Versuchen Sie’s weiter.«
Sie mussten nicht weit fahren, und die Straßen waren leer. Francis trat aufs Gas und aktivierte das Blaulicht.
»Ich benötige eine Auskunft über den Mieter folgenden Vans …« Rory hatte endlich jemanden ans Telefon bekommen und gab das Kennzeichen durch. »Polizei. Wir vermuten, dass der Wagen bei einem Verbrechen benutzt wurde.« Er schwieg, dann beendete er den Anruf mit einem Schwall von Kraftausdrücken. »Scheiß-Datenschutz! Wir brauchen einen richterlichen Beschluss. Der Typ schaut anscheinend zu viele Krimis im Fernsehen.«
»Er hat natürlich recht – leider«, sagte Francis. »Trotzdem hoffe ich, dass er sich kooperativ zeigt, wenn wir ihm unsere Dienstausweise zeigen.«
Er fuhr viel zu schnell die Old Steine hinunter, dann nahm er einem anderen Wagen im Kreisverkehr die Vorfahrt. Marnis Tasche mit den Medikamenten flog auf dem Rücksitz von einer Seite zur anderen. Ein zorniger Vauxhall-Fahrer drückte auf die Hupe, doch Francis raste bereits die Kings Road parallel zum Meer entlang.
»Hat Hollins sich schon gemeldet?« Francis hatte ihn beauftragt, die Halter der anderen Fahrzeuge, die sie über die Bilder der Überwachungskameras ausfindig gemacht hatten, zu befragen, ob ihnen irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen sei, aber er bezweifelte, dass etwas Brauchbares dabei herauskommen würde.
»Nein, Chef. Er ist erst vor zehn Minuten von zu Hause losgefahren, und er hat einen weiteren Weg als wir.«
»Mist! Ich frage mich wirklich …«
»Was?«
»… ob das Ganze wirklich vorbei ist.«
»Aber Kirby sitzt hinter Schloss und Riegel. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie einen Komplizen hatte. Ich sehe einfach keinen Zusammenhang zu Marni Mullins’ plötzlichem Verschwinden.«
Francis schüttelte den Kopf. »Ich habe ein schlechtes Gefühl, Rory.«
Die weiße Prachtfassade des Grand Hotels zog an ihnen vorbei, dann trat Francis auf die Bremse und bog mit quietschenden Reifen auf den Cannon Place ein. Die Autovermietung lag am oberen Ende der Straße. Francis hielt an, wobei er halb die Einfahrt zu dem kleinen Hof blockierte, auf dem die Mietwagen geparkt waren. Sie sprangen aus dem Auto und stürmten zur Bürotür. Von drinnen drangen die Geräusche einer heftigen Auseinandersetzung zu ihnen heraus.
»Putain! Du sagst mir jetzt sofort, wer bei euch einen weißen Van angemietet hat«, hörten sie eine unverkennbare Stimme schimpfen. Thierry.
»Das darf ich nicht.« Die zweite Stimme klang erstickt.
Als Francis und Rory das Büro der Autovermietung betraten, sahen sie auch, warum. Thierry hatte einen jungen Mann mit beiden Händen am Kragen gepackt und zerrte ihn praktisch über den brusthohen Tresen.
Rory zog den tobenden Franzosen zurück und drückte ihn gegen die Wand. Der Mitarbeiter der Autovermietung sackte keuchend gegen den Tresen. Laut Namensschild hieß er Amit.
Francis zückte seinen Dienstausweis und streckte ihn dem jungen Mann entgegen.
»Herrgott, das ging ja schnell. Ich habe Sie doch gerade erst angerufen.« Amit schnappte nach Luft.
Francis tauschte einen irritierten Blick mit Rory. »Moment mal, wir haben Sie angerufen.«
»Ich hab den Notruf gewählt, weil dieser Kerl hier reingeplatzt ist und mich bedroht hat.«
»Ich will wissen, wer den Van gemietet hat!«, brüllte Thierry.
»Das darf ich Ihnen nicht sagen, Sir«, hielt Amit, nun etwas weniger eingeschüchtert, dagegen, da er auf die Unterstützung der beiden Polizisten zählen konnte.
»Mund halten«, befahl Rory knapp. »Überlassen Sie das uns, Mullins.«
Francis wandte sich Amit zu. »Ich muss wissen, wer diesen Van gemietet hat, und zwar sofort.« Er schob ein Blatt Papier über den Tresen, auf dem er die Angaben zur Fahrzeugzulassung notiert hatte. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass der Wagen gestern Abend in eine Entführung verwickelt war.«
Der junge Mann starrte auf das Blatt Papier, unsicher, wie er sich verhalten sollte.
Francis wedelte mit seinem Dienstausweis vor Amits Gesicht herum. »Es handelt sich um einen Notfall. Womöglich ist das Leben einer Frau in Gefahr.«
Im Hintergrund entstand ein kurzes Gerangel, dann riss sich Thierry von Rory los und stürmte zum Tresen. »Das Leben meiner Frau ist in Gefahr.«
»Es tut mir leid«, sagte Amit. »Ich habe lediglich die Vorschriften befolgt.«
Francis warf Thierry einen warnenden Blick zu. »Das ist auch richtig so. Aber jetzt geben Sie uns bitte die Informationen, die wir benötigen.«
Amit wandte sich seinem Computer zu und tippte auf ein paar Tasten. »Ja, da ist es. Der Wagen wurde an eine IT -Gesellschaft namens Algorithmics verliehen. Sie haben ihn für mehrere Wochen gemietet.«
»Haben Sie eine Adresse?«, hakte Rory nach.
Draußen vor der Autovermietung heulte eine Sirene, Sekunden später stürmten zwei Constables in Uniform herein.
»Was geht hier vor? Haben Sie uns angerufen?«, wollte der ältere der beiden Uniformierten wissen, während er misstrauisch Francis, Thierry und Rory beäugte.
Francis zückte seinen Dienstausweis zum dritten Mal. »DI Sullivan.«
»Entschuldigung, Sir«, sagte der Polizist. »Wir haben einen Notruf erhalten. Jemand fühlte sich bedroht.«
»Wir haben die Situation bereits geklärt. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«
Die beiden Polizisten nickten und zogen sich zurück.
Amit reichte Francis einen Ausdruck. »Das ist die Adresse des Unternehmens.«
Francis las sie laut vor. »Gorse Avenue, East Preston. Wo zur Hölle ist das denn?«
»East Preston? Ein Stück außerhalb von Littlehampton«, sagte Rory. »Hausnummer?«
»Sechzehn«, antwortete der DI .
»Auf geht’s«, drängte Thierry.
»Vielen Dank, Amit«, sagte Francis, als sie sich zur Tür wandten.
»Ich hoffe, Sie können die Dame retten!«, rief Amit ihnen nach.
Kaum saß Francis hinter dem Lenkrad, hörte er, wie sich die Tür hinter ihm öffnete. Er drehte sich um und sah Thierry, der auf den Rücksitz glitt. »Was zum Teufel machen Sie da?«
»Ich komme mit.«
»Nein. Auf keinen Fall. Das ist Polizeisache.«
»Ich werde nicht aussteigen, das können Sie vergessen. Und jetzt fahren Sie schon los!«
»Drei ist besser als zwei«, befand Rory. »Wer weiß schon, was wir dort vorfinden?«
»Genau das macht mir Sorgen«, sagte Francis und legte den Gang ein.
»Am Wasser entlang, dann auf die A 259«, sagte Rory. »Blaulicht?«
»Blaulicht.« Francis nickte. »Bitte anschnallen.«
Er drückte das Gaspedal durch und schickte ein stummes Gebet gen Himmel oder vielmehr ein Flehen. Er würde jeden Handel eingehen, nur um Marni in Sicherheit zu wissen.