53
Marni
Hatte sie geschlafen oder war sie lediglich in eine Art Dämmerzustand gefallen? Schwer zu sagen, und im Grunde war es auch egal. Jetzt war Marni wach, der harte Fußboden machte ihr zu schaffen, eine drückende Decke aus kalter Luft erschwerte jede ihrer Bewegungen. Sie stank, und ihre Jeans war klamm und feucht. Ihr war übel, und sie hatte Hunger, obwohl ihr die Furcht den Appetit nahm.
Wie schon zuvor kämpfte sie sich in eine sitzende Position. Schlagartig wurde ihr schwindelig, gelbe Punkte tanzten vor ihren verbundenen Augen. Sie hatte jegliches Zeit- und Raumgefühl verloren, und sie sah keine Möglichkeit herauszufinden, wie lange sie schon hier war. Sie wusste nicht mal, ob es Tag war oder Nacht, wusste nur, dass sie etwas zu essen und Wasser brauchte, und – noch dringender – Insulin.
Marni holte tief Luft und schrie aus voller Lunge um Hilfe, dann holte sie erneut Luft und rief ein weiteres Mal. Luft holen, rufen, Luft holen, rufen – bis ihr schwindelig wurde und sie sich hinlegen musste.
Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander; kurz hatte sie das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Sollte sie anfangen, an ihrem eigenen Arm zu knabbern wie eine Ratte in der Falle? Könnte sie ihre Haare essen, sich selbst in die Wange beißen? Die Vorstellung, einfach bewusstlos zu werden, war verführerisch, weshalb sie sich zusammenriss und sich dagegen wehrte, zumal sie die Gefahren kannte, die ein diabetisches Koma mit sich brachte, genau wie die einer lang anhaltenden Unterzuckerung. Es wäre mit Sicherheit leichter, einfach wegzutreten.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch, laut, nach der langen Zeit absoluter Stille, wie das Peitschen eines Schusses, was sie schlagartig ins Bewusstsein zurückholte. Nein, das war kein Schuss, das war lediglich die Tür, die aufgestoßen wurde. Unter ihrer Augenbinde konnte sie eine dünne helle Linie ausmachen – offenbar war das Licht angegangen.
»Hilfe!«, krächzte sie.
Schritte kamen auf sie zu.
»Helfen Sie mir. Ich brauche Wasser und etwas zu essen.«
Sie versuchte, sich hochzurappeln. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Marni zuckte zusammen. Die Hand drückte sie zurück auf den Boden.
»Pscht.«
Sie versuchte, sich gegen die Hand zu wehren, aber ihr fehlte die Kraft dazu.
Ihr Kopf wurde angehoben und in eine stützende Armbeuge gelegt, dann spürte sie die runde Öffnung einer Plastikflasche an ihren Lippen. Sie trank dankbar. Wunderbar kaltes Wasser. Das Schlucken tat weh, aber das Wasser tat so gut, dass sie beinahe geschluchzt hätte vor Dankbarkeit. Sie trank, bis ihr Durst gestillt war, aber die Flasche blieb an ihren Lippen, also trank sie weiter.
Aber warum nahm ihr die Person, die ihr zu trinken gab, nicht die Fesseln oder die Augenbinde ab?
Sie drehte den Kopf weg vom Wasser und hörte, wie die Flasche auf den Fußboden gestellt wurde.
»Ich bin Diabetikerin. Ich brauche Essen. Ich brauche Insulin.«
Der Arm wurde zurückgezogen, Schritte entfernten sich.
Wessen Arm? Wessen Schritte? Es war ein seltsames Gefühl, völlig abhängig zu sein von einer unbekannten Person, deren Absichten sie nicht kannte. War es möglich, dass Paul diese Person war?
»Warum machen Sie mich nicht los? Warum helfen Sie mir nicht?«
Die Tür schloss sich, die Schritte klangen gedämpft. Die Person auf der anderen Seite der Tür entfernte sich. Panik stieg in ihr auf. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, fürchtete, das Wasser, das sie gerade getrunken hatte, zu erbrechen. Wer immer da gerade bei ihr gewesen war, war der Entführer, nicht ihr Retter. Ihr Kopf drehte sich, ihre Welt drehte sich. Der Boden unter ihr neigte sich. Marni fing an zu hyperventilieren.
Die Tür öffnete sich erneut, die Schritte kehrten zurück. Der Mann – der Gang klang irgendwie männlich –, zog sie hoch in eine sitzende Position. Etwas Weiches, Zuckriges wurde gegen ihre Lippen gedrückt. Sie nahm einen kleinen Bissen. Ein Doughnut? Er schmeckte nicht gerade frisch, trotzdem verschlang sie ihn mit Heißhunger, ohne auf die Marmelade zu achten, die ihr übers Kinn lief. Es würde zehn, fünfzehn Minuten dauern, bis die Glukose ihren Blutzuckerspiegel erhöhte, trotzdem machte sich Erleichterung in ihr breit.
Als sie den letzten Bissen geschluckt hatte, ließ der Mann sie sitzen, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie konnte hören, wie er im Zimmer umherging, doch sie konnte nicht herausfinden, was er tat. Was würde als Nächstes geschehen? Wie standen ihre Chancen, ihm zu entkommen? Sollte sie versuchen, eine Verbindung zu ihm aufzubauen, und ihn anflehen, sie freizulassen?
»Danke für das Essen«, sagte sie und leckte sich den restlichen Zucker von den Lippen.
Er erwiderte nichts.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
Immer noch keine Antwort.
»Bitte lassen Sie mich gehen. Ich habe Ihr Gesicht nicht gesehen, ich weiß nicht, wer Sie sind. Bitte tun Sie nichts, was Sie nachher vielleicht bereuen.« Sie hasste die Furcht, die sich beim Sprechen in ihre Stimme stahl.
Die Stille wurde durchbrochen von einem wohlbekannten Geräusch. Das Klappern einer Klinge, die in gleichmäßigem Rhythmus über einen Wetzstein gezogen wurde. Die Furcht schnürte ihr die Kehle zu.
»Bitte …«, stieß sie mühsam hervor.
»Marni, ich werde ganz bestimmt nichts von dem bereuen, was ich mit dir anstellen werde.«
Er sprach langsam, gedehnt. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie hatte sie schon einmal gehört, aber wo? Paul gehörte sie nicht, der hatte einen französischen Akzent.
»Bitte machen Sie mich los. Sie hatten Ihren Spaß, aber jetzt sollten Sie mich gehen lassen.«
Das Messer wurde weiterhin rhythmisch über den Wetzstein gezogen.
»Was haben Sie mit mir vor?«
Das Geräusch verstummte. Marni hielt den Atem an.
»Was ich vorhabe? Ich dachte, das sei offensichtlich.«
Die Stimme.
Die Schritte kamen auf sie zu.
»Da du hier sowieso nicht lebend rauskommst, brauchst du das hier nicht.« Er zog ihr die Binde vom Gesicht. Marni schnappte nach Luft, als er ihr ein paar Haare ausriss.
Nach Stunden in völliger Dunkelheit war sie geblendet. Sie schloss fest die Augen und wartete, bis die weißen Blitze verschwunden waren, dann schlug sie die Lider langsam auf, senkte den Kopf und schaute auf den Fußboden. Unter ihren Füßen war glatter, polierter Beton. Auf einmal wurde sie sich ihrer feuchten, stinkenden Jeans bewusst.
Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ein weiteres Paar Füße. Neue Sportschuhe, kaum getragen, dazu eine zu lange Baumwollhose, die Falten an den Knöcheln warf. Langsam ließ sie ihre Augen am Körper des Mannes hinaufgleiten – seine Beine waren leicht krumm, seine Hose an der Taille zu eng, der Bauch hing über den Bund. Er trug ein schwarzes Poloshirt mit einem Firmenlogo, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Arm war tätowiert mit einem Motiv, das sie gerade erst fertiggestellt hatte. Ihre Augen begegneten sich. Steve lächelte auf sie herab, und sie spürte, wie ihr ein eisiger Schauder über den Rücken lief.
Ach du liebe Güte!
»St-Steve?«
Steve? Der Computer-Nerd mit dem Tiger-Tattoo?
Das Adrenalin ließ ihren Blutzucker in die Höhe schnellen.
»Die schöne Marni. Jetzt gehörst du ganz allein mir.«
Er wandte sich abrupt von ihr ab und kehrte an einen Tisch zurück, auf dem sie ein Messer und einen Wetzstein liegen sah.
Die Angst ließ ihren Mund trocken werden. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sie brachte kein Wort zustande.
Instinktiv versuchte sie, sich von ihren Fesseln zu befreien, aber dann hielt sie inne. Jeder Fluchtversuch wäre vergeblich. Sie schaute sich um und prägte sich ihre Umgebung ein. Rationales Denken funktionierte nicht länger, die Angst hatte das Ruder übernommen.
Sie war in einem großen, rechteckigen Raum gefangen, größer, als sie gedacht hatte. Es gab keine Fenster – waren sie etwa unter der Erde? Die Wände waren mit etwas Schwarzem verkleidet – eine Hightech-Verkleidung, wie sie sie aus Aufnahmestudios kannte. Schallisoliert. Ihre Adern gefroren zu Eis. Die Decke war ein Albtraum aus Aluminiumrohren und Verteilernetzen. An einer der kürzeren Seiten des Rechtecks befand sich eine weiße Leinwand, davor standen zwei dick gepolsterte Sofas aus tiefrotem Samt. Ein Privatkino.
Aber das war nicht alles. Hinter den Sofas erstreckte sich eine Reihe von sieben auf Hochglanz polierten Betonsäulen bis in die Mitte des Raumes, jede davon etwa eins zwanzig hoch. Marni blinzelte, dann sah sie noch einmal genauer hin. Ihr Blick wanderte von einer Säule zur nächsten. Galle stieg in ihrer Speiseröhre auf und brannte in ihrer Kehle. Auf jeder Säule stand ein Gestell aus dickem poliertem Silberdraht, glänzend im grellen Licht. Die Gestelle waren geformt wie menschliche Körperteile – ein Arm, ein Bein, ein Torso, ein Kopf. Eins, das größer war als die übrigen, stellte einen ganzen Körper dar. Vier der Drahtgestelle waren nackt, doch die restlichen drei waren überzogen mit Stücken aus weichem, buttrigem Leder. Tätowiertem Leder.
Marni widerstand dem Drang, sich zu übergeben, als ihr bewusst wurde, was genau sie da vor sich sah.
Das Leder war Menschenhaut. Die Haut von Giselle Connellys Arm mit dem detailgenauen Biomechanik-Tattoo. Evan Armstrongs Torso mit dem polynesischen Motiv, ein Bein, das sie nicht kannte, mit einem eleganten Pfauenaquarell. Menschliche Haut, zu Leder verarbeitet, präpariert und zur Schau gestellt.
Der Raum drehte sich. Marni sackte zur Seite.
»Ah, wie ich sehe, weißt du meine Sammlung zu würdigen. Verblüffend, nicht wahr?«
»Du? Aber das sind die Stücke, die Sam Kirby präpariert hat.«
»Selbstverständlich. Ich habe sie in Auftrag gegeben. Sie hat für mich gearbeitet.«
Das machte keinen Sinn. Marni konnte es nicht fassen.
»Und du, Marni Mullins, du wirst das schönste Exponat von allen.«
Er ging zu ihr, und sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Als er vor ihr stand, bückte er sich und näherte sein Gesicht dem ihren. Marni begann zu wimmern. Er küsste sie sanft auf die Lippen, dann drückte er ihr vorsichtig ein zusammengefaltetes Tuch auf Mund und Nase. Der Äther durchdrang ihre Atemwege. Ihre Welt wurde schwarz.