54
Rory
Rory hatte schon zu viele Einsatzfahrten durch Brighton hinter sich, um ein nervöser Beifahrer zu sein. Doch das war, bevor er mit Blaulicht und Francis Sullivan am Steuer durch die Stadt raste. Sie hatten den Cannon Place kaum verlassen, als er in einem waghalsigen Manöver einem Lieferwagenfahrer auswich, der hinter den offenen Türen des Laderaums hervortrat.
Thierry beeilte sich, seinen Gurt anzulegen.
»Herrgott, Chef, das Fahrtraining haben Sie aber schon absolviert, oder?«
Francis konzentrierte sich stirnrunzelnd auf die Straße vor ihm. Unmittelbar darauf steckten sie hinter einem Minibus fest. Francis schaltete die Sirene ein.
»Nun überholen Sie schon«, drängte Thierry.
Endlich wurde der Minibusfahrer langsamer und wich auf den Gehsteig aus.
»Los jetzt!«, rief Thierry.
Francis drückte das Pedal durch, und sie schossen mit Blaulicht die Straße entlang Richtung Hove, das Meer zu ihrer Linken, die gerade zur Geschäftigkeit erwachende Stadt zu ihrer Rechten.
»Rory, versuchen Sie’s bei Hollins.«
Rory rief den DC
an und hörte einen Augenblick lang schweigend zu. Hollins hatte den Halter des ersten Wagens befragen können, der auf den Bildern der Überwachungskamera zu sehen war.
»Ein Vater, der seine Töchter nach der Schule vom Schwimmunterricht abgeholt hat«, berichtete er, nachdem er das Gespräch beendet hatte. »Er sagt, der Schwimmlehrer könne bestätigen, dass die Mädchen bei ihm eingestiegen sind. Hollins glaubt nicht, dass er etwas mit der Entführung zu tun hat.«
»Was ist mit dem zweiten Wagen?«
»Hollins ist auf dem Weg zum Halter.«
Francis trat auf die Bremse, als ein BMW
vor ihnen unvermittelt ausscherte. Rorys Handy segelte in den Fußraum, Thierry fluchte leise auf Französisch. Francis stellte die Sirene erneut an und überholte.
»Sind Sie sicher, dass wir zu der richtigen Adresse fahren?«, fragte Thierry.
»Nein«, sagte Francis. »Ganz und gar nicht. Aber es ist die beste Spur, die wir haben.«
»Das macht Sinn«, pflichtete Rory ihm bei. »Wenn man jemanden entführen will, ist ein Van einfach besser geeignet als eine Limousine. Auch der Zeitpunkt scheint zu passen.«
»Merde!«
Rory konnte nicht sagen, ob dieser Kommentar dem Fahrstil des Chefs galt oder der Tatsache, dass sie lediglich einem Bauchgefühl nachgingen. Im Grunde war es auch egal. Alles, was zählte, war, dass sie die Adresse fanden – und, viel wichtiger, Marni.
Sie nahmen die Brücke über den River Adur. Danach wurde die Straße breiter und verlief schnurgerade. Es herrschte so gut wie kein Verkehr, trotzdem ließ Francis das Blaulicht an und raste wie ein Verrückter Richtung East Preston.
»Ist es noch weit?«, fragte er Rory.
Rory warf einen Blick auf sein Smartphone. »Laut Karte vier bis fünf Meilen, aber wir müssen noch durch Worthing.«
Auch die kleine Küstenstadt machte sich für den Tag bereit, und plötzlich trafen sie auf eine Kreuzung nach der anderen. Die Anspannung der Insassen stieg merklich, als Francis den Wagen geschickt durch eine Reihe von Hindernissen manövrierte.
»Putain!«
Thierrys Fluchen wurde lauter. »Wo haben Sie Ihren Führerschein gemacht?«
Das Blaulicht vorne an der Windschutzscheibe blinkte, die Sirene heulte, damit die anderen Verkehrsteilnehmer wussten, dass sie kamen. Endlich schienen sie das Schlimmste hinter sich zu haben, hatten Worthing und Goring passiert. Vor ihnen lag eine zweispurige Strecke.
»Am dritten Kreisel links.«
Die Abfahrt führte nach Süden, zurück in Richtung Meer. Als Francis erneut beschleunigte, entdeckte Rory ein Stück vor ihnen rot blinkende Lichter. Ein Warnsignal ertönte.
»Ein Bahnübergang, Chef.«
»Ich weiß. Das sehe ich.«
»Die Schranken schließen.«
»Ich weiß.«
»Das werden wir nicht schaffen.«
Francis antwortete nicht. Stattdessen drückte er das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Vor ihnen senkten sich die Schranken weiter herab.
»Frank! Bleiben Sie stehen! Sofort!« In Rorys Stimme schwang Panik mit. Er umklammerte das Armaturenbrett so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, und drückte sich in den Sitz zurück.
»Nein, nein«, jammerte Thierry voller Entsetzen.
»Das schaffen wir nicht, verfluchte Scheiße!«, brüllte Rory.
Die Schranken schlossen, und es sah ganz danach aus, als würde Francis diese Tatsache ignorieren und sie einfach durchbrechen.
Ohne an die Konsequenzen zu denken, fasste Rory instinktiv nach dem Lenkrad und zog es mit einem Ruck auf sich zu. Mit der anderen Hand griff er nach der Handbremse. Francis versuchte, ihn wegzustoßen, aber Rory hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen geriet der Wagen außer Kontrolle und schlitterte seitlich gegen die niedrige Mauer eines an die Straße grenzenden Parkplatzes. Der Zug raste mit dröhnender Hupe vorbei. Rory ließ das Lenkrad los und sackte gegen die Rückenlehne. Erst jetzt merkte er, dass sich der Airbag vor ihm aufgeblasen hatte.
Er sah zu Francis hinüber, der mit seinem Airbag kämpfte. Als es ihm nicht gelang, ihn aus dem Lenkrad zu reißen, versuchte er, den abgewürgten Motor anzulassen. Er sprang auf Anhieb an, und Francis legte den Rückwärtsgang ein. Das Blaulicht funktionierte noch. Die Schranke war nach wie vor geschlossen. Das Warnsignal kam Rory noch lauter vor als vor ein, zwei Minuten.
Rory drehte sich auf seinem Sitz um.
»Alles okay?«, fragte er Thierry.
Thierry stieß einen Schwall Schimpfwörter hervor, mit denen Rory nichts anfangen konnte. Wenigstens war er am Leben und bei Bewusstsein. Aus einem seiner Mundwinkel lief Blut. Anscheinend hatte er sich seitlich auf die Lippe gebissen.
Francis setzte den Wagen zurück und wendete, sodass sie wieder in die richtige Richtung blickten. Das Warnsignal verstummte, die roten Lichter hörten auf zu blinken. Die Schranken hoben sich, und Francis trat aufs Gas.
»Nennen Sie mich nie wieder Frank.«