55
Marni
Marni spürte beides gleichzeitig – Schmerz und Kälte. Stechender Schmerz durchzuckte ihre Handgelenke und Schultern – sie schienen ihr ganzes Gewicht zu tragen. Enge Fesseln schnitten in ihre Handgelenke. Ihre Arme waren hoch in die Luft gereckt und unnatürlich verdreht. Ihre Hände fühlten sich an wie Eisklötze, waren so gut wie taub, der lange Schnitt in ihrem linken Oberarm brannte. Ihr Nacken pochte vor Schmerz, als sie den Kopf hob. Sie stand aufrecht da, an irgendetwas festgebunden, und sie fror erbärmlich. Sie spürte die kalte Luft auf ihrer Haut. Überall. Als ihr klar wurde, dass sie nackt war, riss sie die Augen auf. Schlagartig verdrängte die Angst alle anderen Gefühle.
Sie war noch immer in Steves Kellerkino, gefesselt an ein Schrägkreuz, das auf eine der Wände gerichtet war. Alles, was sie sehen konnte, war das schallisolierende Gummimaterial, ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Steve hatte sie nackt ausgezogen, als sie bewusstlos war, und sie an diese Vorrichtung gefesselt. Ein unbekannter, blumiger Duft stieg ihr in die Nase. Er stieg von ihrer Haut auf, und plötzlich wurde ihr klar, dass sie so fror, weil ihre Haut feucht war. Gott bewahre, dass er sie gewaschen hatte! Der Gestank nach Urin war weg, doch sie würgte bei der Vorstellung, wie seine Hände über ihren Körper strichen.
Sie fühlte sich benommen. Der Doughnut hatte sie vor einem Unterzucker bewahrt, aber ohne weitere Nahrung hätte sie bald keine Energie mehr. Sie wusste, dass es nicht lange dauern würde, bevor die schwarzen Punkte vor ihren Augen zu tanzen begannen und sie erneut das Bewusstsein verlieren würde.
Vielleicht wäre das besser.
Im Raum war alles still. Die Angst gab ihr das Gefühl, jeden Moment in die Ohnmacht abzugleiten, aber der Schmerz hielt sie davon ab. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Druck auf ihre Arme zu mindern. Ihre Hände fingen an zu brennen, als zumindest ein bisschen Blut zurückfließen konnte. Sie überlegte, was sie über Steve wusste – wenn er denn tatsächlich so hieß. Sie hatte über zwanzig Stunden mit dem Motiv an seinem Arm verbracht, und sie versuchte, sich zu erinnern, worüber sie mit ihm gesprochen hatte. Er hatte sich sehr für Tattoos und den Prozess des Tätowierens interessiert, aber das war nicht ungewöhnlich für die Leute, die zu ihr kamen. Mit Schmerzen hatte er nicht gut umgehen können, auch dies war nicht auffällig. Er hatte ziemlich viel über sich selbst gesprochen, doch leider wollte ihr nicht mehr einfallen, was genau er ihr erzählt hatte. Sie erinnerte sich nur, dass er in der Computerbranche beschäftigt war – langweilig –, ansonsten war es stets um seine Ansichten gegangen – wie er über dieses und jenes dachte, warum seine Meinung eher zutraf als die der anderen. Mit einem Schauder dachte sie daran zurück, wie er sie nach Evan Armstrongs Leiche gefragt hatte, obwohl er doch ganz genau wusste, was dem Mann zugestoßen war.
Mitgefühl hatte er in ihren Gesprächen nicht gezeigt. Nicht dass sie sonderlich darauf geachtet hätte. Erst jetzt, im Rückblick, wurde ihr bewusst, wie egozentrisch er geklungen hatte. Damals hatte sie ihm höchstens mit halbem Ohr zugehört und sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentriert.
Wie könnte sie dieses Wissen nun zu ihrem Vorteil einsetzen? Wie konnte sie ihn dazu bringen, sie gehen zu lassen?
Sie hörte, wie die Tür aufging, und ihr drehte sich der Magen um. Schritte kamen auf sie zu, dann erschien er in ihrem peripheren Gesichtsfeld. Er lächelte, aber es war kein richtiges Lächeln, eher ein anzügliches Grinsen.
»Du bist so schön, Marni, es ist beinahe eine Schande, diesen perfekten Körper zu verstümmeln, aber dein Tattoo wird die Krönung meiner Sammlung sein.«
Marni stockte das Blut in den Adern, und sie zerrte unweigerlich an ihren Fesseln.
Er trat zu ihr und strich ihr mit der Hand übers Rückgrat.
»Pscht.« Seine Stimme war so dicht an ihrem Ohr, dass sie schauderte.
»Bitte, Steve …«
»Bitte, was?«
»Bitte lass mich gehen. Ich kann dich weiterhin tätowieren. Ich könnte dir ein atemberaubendes Backpiece machen. Du musst das nicht tun.«
»Ich weiß, aber ich tue es trotzdem. Ich muss meine Sammlung vervollständigen, weil dieses dämliche Weib versagt hat.«
Plötzlich schwang Ärger in seiner Stimme mit, was Marni noch mehr Angst einjagte.
»S-Sam Kirby?« Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Stimme zitterte.
»Sie sollte mir die Tattoos besorgen und anschließend verschwinden. Ich habe sie schließlich gut dafür bezahlt.«
»Sie ist verhaftet worden.«
»Ich weiß. Ich bezahle ihren Anwalt.«
Marni musste ihn in ein Gespräch verwickeln. Es würde ihm schwerer fallen, sie zu töten, wenn er sie auf einer menschlichen Ebene wahrnahm. Doch in der jetzigen Situation konnte sie kaum Mitgefühl erwarten. Er musste erkennen, dass es für ihn von Vorteil war, sie am Leben zu lassen. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob wohl jemand nach ihr suchen würde. Thierry hatte sie abholen wollen – bestimmt hatte er die Polizei informiert.
Entschlossen schob sie die Gedanken an Rettung beiseite. Sie musste sich selbst helfen. Ihr ging die Zeit aus, ihr Blutzucker sackte erneut in den Keller.
»Und jetzt muss ich die Aufgabe ohne sie zu Ende bringen.«
»Das musst du nicht, Steve. Die Stücke, die du hast, genügen.«
»Das ist nicht die ganze Sammlung. Die Polizei hat einige Teile von der Stone Acre Farm mitgenommen, und außerdem liegt mir am meisten an deinem Tattoo. Und an Thierrys.«
Marni fing an zu zittern. Wenn sie dem Ganzen nicht bald ein Ende bereiten und abhauen könnte, würde dieser Irre erst sie und anschließend ihren Ex-Mann umbringen. Sie dachte an Alex und spürte, wie ihr das Herz brach.
»Weißt du denn, wie man das macht? Wie man die Haut vom Körper trennt und präpariert? Kannst du das auch ohne den Tattoo-Dieb bewerkstelligen?«
Sie nahm an, dass ihre Worte ihn wütend machen würden, und sie sollte recht behalten.
»Natürlich kann ich das allein bewerkstelligen. Ich habe Sam beim Häuten zugesehen, habe zugesehen, wie sie die Häute gerbt. Um das zu können, muss man nicht unbedingt Raketentechnik studiert haben.«
»Nur eins, Steve: Wenn du mein Tattoo nimmst, ruinier es bitte nicht.«
Er strich ihr langsam mit den Händen über den Rücken. Sie drückte sich gegen das hölzerne Schrägkreuz, aber sie konnte sich seiner Berührung nicht entziehen.
»Marni, vielleicht sollte ich es dir erklären. Der menschliche Körper ist ein Kunstwerk an sich. Vor allem deiner. Doch indem man eine Tätowierung hinzufügt, hebt man ihn auf eine andere Ebene. Tattoos sind lebende Kunstwerke, warm, wenn man sie anfasst. Keine andere Kunstform hat die Dynamik eines Tattoos.«
»Aber genau die hast du getötet. Den tätowierten Häuten, die du hier ausstellst, fehlt jegliche Dynamik. Das widerspricht doch genau dem, was du gerade gesagt hast!«
»Wenn Menschen sterben, sterben die Tattoos mit ihnen. Sie verrotten, genau wie der Rest des Fleisches. Indem ich die Häute abziehe und präpariere, bewahre ich großartige Kunstwerke. In Japan macht man das mit den Tätowierungen der Yakuza. Die haltbar gemachte Haut ist der lebendigen überlegen.«
»Aber nur du tötest deswegen Menschen! In Japan wartet man darauf, dass sie eines natürlichen Todes sterben.«
»Kunst ist wichtiger als ein Menschenleben, das weiß ich, seit ich ein Kind war. Der menschliche Körper ist das ultimative Kunstwerk der Natur, und wenn wir es mit unserer eigenen Kunst verzieren, vergrößert sich die Schönheit noch. Kunst muss die Zeit auf eine Art und Weise überdauern, wie es den Menschen niemals gelingen wird. Kunst ist rein und wahrhaftig, während Menschen lügen, prahlen, Unzucht treiben. Ich bewahre das, was von Bedeutung ist, und verwerfe das, was nicht zählt. Ich erschaffe die ultimative Kunstsammlung. Sicherlich verstehst du das, Marni. Du bist doch selbst eine große Künstlerin.«
Prätentiöser Scheiß!, hätte sie am liebsten gerufen, aber sie wusste, dass sie ihn bei Laune halten musste.
»Wenn du mich umbringst, wird niemand mehr von meiner Kunst profitieren.«
»Ein weiterer Vorteil deines Todes. Mein Tattoo wird ein noch selteneres, kostbareres Objekt.«
»Da liegst du falsch, Steve. Und du tust das Falsche.«
Sie spürte die Wucht seines Schlages, noch bevor sie seine Faust aus dem Augenwinkel kommen sah. Er traf sie seitlich an der Schläfe. Sternchen explodierten vor ihren Augen.
Steve entfernte sich. Das Blut dröhnte in ihren Ohren. Sie konnte nicht mehr hören, was er tat. Ihr ging die Zeit aus. Tief atmen. Langsam, nicht zu schnell. Nicht hyperventilieren. Der Schmerz strahlte wellenförmig von der Stelle aus, an der seine Faust sie getroffen hatte. Sie biss sich auf die Lippe, um ihm entgegenzuwirken, und schmeckte Blut.
Das konnte nicht das Ende sein. Sie hatte noch so viel vor im Leben, und das würde sie sich von diesem elenden Bastard nicht nehmen lassen. Irgendwie musste sie es schaffen, hier rauszukommen. Irgendwie.
»Entschuldige, wenn ich dir wehgetan hab, Marni.« Er stand wieder neben ihr. »Das hier wird dir guttun.«
Er drückte ihr etwas Weiches ans Gesicht, eine kühle Liebkosung.
»Wa-was ist das?«
»Das?« Er strich ihr damit über die Wange. »Das ist Evans Tattoo, Evans Haut.«
Marni zuckte zurück. Es fühlte sich an wie superweiches Fensterleder.
»Sam hat gute Arbeit geleistet. Sie war so begabt, und jetzt war alles umsonst.«
Marni spürte, dass es ihr körperlich immer schlechter ging. Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Als sie einatmete, stieg ihr der Geruch des Menschenleders in die Nase, kräftig, ganz ähnlich dem von Schweinsleder. Sie würgte, schluckte saures Erbrochenes, das ihr hochgekommen war. Es brannte in der Kehle. Sie biss die Zähne zusammen und presste die Lippen aufeinander, fest entschlossen, ruhig zu bleiben.
»Deine Haut wird sogar noch weicher sein, wenn ich sie bearbeitet habe«, sagte er. »So weich, so schön.«
Seine andere Hand strich wieder über ihren Rücken. Sie spürte, wie er den Umriss ihres Tattoos nachfuhr.
»Ach Marni, es fällt mir so schwer, mich zwischen dir und deinem Tattoo zu entscheiden. Keine Ahnung, was ich lieber möchte. Du bist für mich etwas ganz Besonderes, du bist die Schöpferin wunderbarer Kunstwerke. Meine anderen Opfer haben Kunst auf ihren Körpern getragen, aber nicht in ihren Köpfen. Du dagegen bist die Personifizierung von Kunst an sich. Eine Schöpferin und ein lebendes Kunstwerk von ungeheurer Schönheit. Aber wenn ich dich am Leben lasse, wirst du mich verraten. Sosehr ich dich auch will – und ich will dich wirklich –, trauen kann ich allein der Kunst auf deinem Körper.« Er fasste in ihr Haar und riss ihren Kopf nach hinten, damit er ihr direkt in die Augen blicken konnte. »Was bedeutet, dass du sterben musst, meine Liebe.«