56
Francis
Trotz einer riesigen Delle an der Beifahrerseite seines Dienstwagens raste Francis mit unverminderter Geschwindigkeit durch die schmalen, scharfkurvigen Straßen des kleinen Dorfes. Auf dem Rücksitz saugte Thierry schweigend an seiner Lippe, während Rory die Karte von East Preston auf seinem Smartphone studierte, um die kürzeste Route zur Gorse Avenue ausfindig zu machen.
»Links in die Vicarage Lane.« Mit quietschenden Reifen bog Francis viel zu schnell um die Ecke. »Rechts in die Fairlands einbiegen … bei der Sea Road links …«
Zwei junge Mütter, die plaudernd ihre Kinderwagen über den Gehsteig schoben, blieben mit offenem Mund stehen, als der Wagen mit Blaulicht an ihnen vorbeischoss. Auf der Sea Road musste Francis eine Vollbremsung einlegen, weil er um ein Haar eine Katze erwischt hätte.
»Allmächtiger«, murmelte Thierry.
Endlich erreichten sie die Gorse Avenue.
»Blaulicht aus«, sagte Rory. »Fahren Sie langsamer.«
Die Gorse Avenue, die zu beiden Seiten von großen Häusern gesäumt war, führte ins Leere – eine Sackgasse der reichen Leute, mit großen Grundstücken, Wintergärten, Tennisplätzen und Outdoor-Pools. Die Anwesen an der südlichen Seite der Straße grenzten an den Strand, und man konnte sich gut den Gin-und-Jaguar-Lebensstil ihrer Bewohner vorstellen.
»Ich dachte, wir suchen nach einer Geschäftsadresse«, sagte Francis.
Rory zuckte die Achseln. »Vielleicht ein Privatunternehmer, der seine Firma von zu Hause aus führt.«
Nach der rasanten Fahrt von Brighton hierher kam es ihnen beinahe surreal vor, langsam und geräuschlos durch die Welt der Privilegierten zu gleiten. Sie begegneten keinem einzigen anderen Wagen, nirgendwo waren Fußgänger zu sehen, die Gärten waren menschenleer.
»Das ist es«, sagte Rory, »die Nummer sechzehn. Auf der rechten Seite.«
Er deutete auf ein ausladendes modernes Gebäude, das völlig fehl am Platz wirkte zwischen den edwardianischen Villen und Art-déco-Häusern, an denen sie vorbeifuhren. Mit Stahl verkleidet, scharfen Kanten und geschwungenen Stützpfeilern, schien es keine Fenster zu haben – zumindest nicht zur Straßenseite hin. Francis blieb vor dem Nachbargrundstück stehen. Er wollte auf keinen Fall das Überraschungsmoment zerstören, indem er in die Auffahrt einbog.
»Wie sollen wir vorgehen, Chef?«, wollte Rory wissen.
Francis seufzte und rieb sich das Gesicht mit den Händen.
»Kommt drauf an, ob jemand zu Hause ist. Wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss, also müssen wir nach Vorschrift vorgehen. Thierry, Sie warten hier.«
»Einen Scheiß werde ich tun! Ich komme mit Ihnen.«
»Nein. Das hier ist Polizeisache.«
»Marni ist meine Frau. Sie muss dringend ihren Blutzucker kontrollieren.«
»Ex-Frau«, korrigierte Francis. Was war das nur mit den beiden? Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum die zwei sich wohl hatten scheiden lassen.
Er stieg aus. Rory und Thierry ebenfalls. Thierry hatte den kleinen Beutel mit Marnis Diabetes-Zubehör bei sich.
»Okay. Keine Attacken, weder physisch noch verbal, keine theatralischen Einlagen.« Er warf Thierry einen strengen Blick zu. »Wir halten erst mal Ausschau nach dem Van.«
Sie gingen die Straße entlang. Hier gab es keine Gehsteige, nur sauber gemähten Rasen. Bei der Nummer sechzehn bogen sie in die Auffahrt ein. Ein blassblauer Aston Martin parkte deutlich sichtbar vor dem Haus.
»Dem Kerl scheint es gut zu gehen«, murmelte Rory.
Von dem Van war keine Spur zu sehen, aber an einer Seite des modernen Baus entdeckten sie eine Garage. Das Tor war geschlossen. Francis deutete darauf, und sie änderten die Richtung.
Rory versuchte, das Tor zu öffnen. »Abgesperrt.«
Francis bog um die Ecke zur Seite der Garage. Ein Plattenweg führte zu einer Seitentür, deren obere Hälfte aus Glas bestand. Er spähte hinein. Hinter einer zerlegten Harley konnte er einen kleinen weißen Lieferwagen entdecken. Er sah genauso aus wie der auf den Aufnahmen der Überwachungskamera, doch er konnte ihn nur von der Seite sehen, nicht aber die Nummernschilder, um seinen Verdacht bestätigt zu wissen.
Rory trat hinter ihn. »Das ist der Wagen, definitiv. Das muss er einfach sein.«
»Das denke ich auch. Es ist Zeit, Mr. … Wie war noch gleich der Name des Eigentümers?«, fragte Francis.
»Harrington. Steven Harrington«, antwortete Rory und tippte etwas in sein Smartphone ein. »Laut Google ist er der Besitzer von Algorithmics, des Unternehmens, das den weißen Van angemietet hat.«
Schweigend kehrten sie zur Vorderseite des Hauses zurück und gingen zur Haustür. Auf einem kleinen silbernen Namensschild stand »Algorithmics«, darunter befand sich der Knopf für eine Sprechanlage. Francis drückte darauf.
»Es tut uns leid. Heute ist die Firma nicht besetzt.« Eine Roboterstimme, weiblich. »Für ein persönliches Gespräch wählen Sie bitte die unten genannte Rufnummer.«
Francis schaute nach unten. In die Metalleinfassung der Sprechanlage war eine Nummer eingraviert.
»Soll ich anrufen?«, fragte Rory.
»Nein. Warten Sie hier, falls doch jemand auftaucht. Ich sehe mich kurz um und rufe anschließend Verstärkung.«
Francis verschwand um die Hausecke, dicht gefolgt von Thierry. Als sie an der Seite des Gebäudes entlanggingen, kam der Garten in Sicht – eine schmucklose Rasenfläche, dahinter, in etwa fünfzehn Metern Entfernung, der Sandstrand. Vor der Rückseite des Hauses befand sich eine Betonterrasse, die nicht so aussah, als würde sie je benutzt, denn es stand kein einziges Möbelstück darauf. Francis entdeckte einen Balkon im ersten Stock, der noch größer war als die Terrasse, doch auch darauf stand nur ein einziger Stuhl, von dem aus man aufs Meer hinausblicken konnte. Anders als die Vorderseite des Hauses bestand die Rückseite so gut wie vollständig aus Glas, Stahl war hier kaum zu sehen. Francis musste unweigerlich an ein leeres Aquarium denken. Goldfischglasleben im Extremen – aber natürlich war niemand hinter den riesigen Fenstern zu sehen. Er fragte sich, ob der Strand privat war oder ob die Öffentlichkeit, mit Picknickkörben bewaffnet, von dort aus für ein, zwei Stündchen zusehen konnte, wie die Reichen ihre Sonntagnachmittage verbrachten.
Er sah durch die Fenster ins Innere des Gebäudes. Das Erdgeschoss bestand aus einem durchgehenden offenen Büro. Eine Reihe von im Halbkreis angeordneten Bildschirmen stand auf den dazugehörigen Schreibtischen, doch es gab nur einen einzigen, ergonomisch geformten Hightech-Bürostuhl. Arbeitete etwa nur eine Person für Algorithmics, die genug verdiente, um einen derart verschwenderischen Lebensstil zu finanzieren?
»Thierry, finden Sie heraus, ob eine der Türen im Erdgeschoss offen ist. Sollten Sie eine entdecken, geben Sie mir bitte Bescheid. Gehen Sie nicht allein ins Haus.«
Francis stieg die Stahltreppe hinauf, die zu dem Balkon im ersten Stock führte. Jeder Schritt wurde von einem leisen Klacken begleitet, weshalb er äußerst behutsam ging, denn sollte sich tatsächlich jemand im Haus befinden, wollte er möglichst nicht bemerkt werden. Der einzelne Stuhl auf dem Balkon war perfekt, um Sonnenauf- und -untergänge zu beobachten, daran bestand kein Zweifel, doch es war der Blick ins Haus, der Francis den Atem raubte.
Er legte die Hände an die Scheibe, um das Gleißen der frühen Morgensonne auszublenden, und starrte fasziniert ins Innere. Er wüsste nicht einmal, wie er es beschreiben sollte. Als Kunstinstallation? Als Standbild? Er sah jede Menge ausgestopfte Tiere, aber nicht in Glaskästen, wie er sie aus dem Naturkundemuseum kannte, das er als Kind besucht hatte, sondern ganz offen, mitten im Raum. Jemand hatte eine Schlacht nachgestellt, Tier gegen Tier, versehen mit menschlicher Kleidung und im verkleinerten Maßstab nachgebauten menschlichen Waffen. Die Roundheads gegen die Cavaliers. Hunde gegen Katzen. Ein Hase, der es mit einem Mungo aufnahm. Füchse, die gegen Schlangen kämpften. Ringende Großkatzen. Verwundete Tiere, aufgespießte Tiere, enthauptete Tiere. Zähne und Klauen, rot von Blut. Das Schlachtfeld war übersät mit abgetrennten tierischen Körperteilen.
Der Anblick war gleichermaßen faszinierend wie pervers und zeigte eindeutig, wie verquer der Geist sein musste, der eine solche Szenerie erschaffen hatte. Francis’ Herz fing an zu hämmern, Furcht breitete sich in ihm aus. Nicht um sich selbst, sondern nacktes Entsetzen bei der Vorstellung, dass sich Marni irgendwo in diesem Haus befinden könnte, der Gnade der Kreatur ausgeliefert, die das hier zu ihrem Vergnügen erschaffen hatte.
»Putain!« Thierry, der neben Francis getreten war, schnappte nach Luft.
Francis legte einen Finger auf die Lippen, dann drückte er den Griff der Glastür herunter, durch die man vom Balkon ins Haus gelangte. Die Tür öffnete sich. Ohne zu zögern, trat er ein. Thierry folgte ihm.
Der Raum roch moderig und nach alten Pelzmänteln, Staubmäuse wuselten über den Fußboden. Seine Intuition sagte ihm, dass sie nicht allein im Haus waren. Es roch schwach nach Kaffee, und irgendwo verursachte ein offenes Fenster einen Luftzug. Francis streifte sich die Schuhe ab, um geräuschlos das Haus erkunden zu können. Sie schlichen durch den großen Raum und gelangten zu einem Treppenabsatz, von dem aus eine Treppe nach oben führte und eine andere nach unten.
»Sie gehen nach oben, ich sehe mich unten um«, flüsterte er Thierry zu. »Rufen Sie, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Thierry nickte. »Wir müssen sie finden. Ihr geht langsam die Zeit aus.« Er deutete auf Marnis Beutel, dann setzte er sich in Bewegung, um das nächste Stockwerk zu inspizieren.
Francis tappte geräuschlos auf Socken die Treppe hinunter. Zum ersten Mal während seiner Karriere bei der Polizei wünschte er sich, er trüge eine Waffe bei sich.