58
Francis
Im Haus war es außergewöhnlich still. Rory wartete vorn auf Verstärkung, und Thierry war irgendwo im Obergeschoss. Francis hatte das Gefühl, komplett allein zu sein, nur das leise Summen der Klimaanlage durchbrach die Stille. Mit klopfendem Herzen ging er eine Treppe hinunter, um die Büroebene zu erkunden.
Die meisten Bildschirme waren abgeschaltet, aber einer war an und zeigte die Aufnahmen der Überwachungskameras vor dem Haus. Francis konnte Rory in der Einfahrt stehen und in sein Handy sprechen sehen. Am anderen Ende der Büroebene befanden sich mehrere Türen. Zwei von ihnen waren verschlossen, aber eine stand ein Stück weit auf. Er trat näher, um zu lauschen. Plötzlich zerriss der schrille Schrei einer Frau die Stille.
Marni!
Er war sich nicht sicher, ob sie es gewesen war, aber wer immer da geschrien hatte, brauchte Hilfe. Er stieß die Tür auf und fand sich an einem weiteren Treppenabsatz wieder. Von hier aus konnte er eine Frau stöhnen hören, dann die Stimme eines Mannes, aber er verstand nicht, was er sagte. Er zögerte. Er brauchte einen Plan, aber ohne eine Ahnung, was er unten vorfinden würde, war es schwierig zu überlegen, wie er vorgehen sollte. Er blickte die Stufen hinab und konnte unten eine weitere halb offene Tür erkennen. Wenigstens hätte er etwas Deckung, und er wäre in der Lage zu sehen, was vor sich ging, bevor er sich bemerkbar machte.
Verlier keine Zeit. Geh!
Er huschte die Treppe hinunter, so schnell er konnte, und betete zu Gott, dass man ihn nicht bemerken würde. Schon das Knirschen einer der Stahlstufen könnte katastrophale Folgen haben. Die Vorstellung, dass Marni diesem Irren, der das blutige Standbild der kämpfenden Tiere im ersten Stock zu verantworten hatte, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, ließ sein Herz rasen und stärkte seine Entschlossenheit. Er hatte sich noch nie zuvor in einer Situation wie dieser befunden. Die Festnahmen, bei denen er dabei gewesen war, waren stets sorgfältig geplant und nur mit voller Rückendeckung vorgenommen worden. Gott, hoffentlich hatte Rory wirklich per Handy Verstärkung angefordert!
Er schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, während er vor der unteren Tür stehen blieb, sich bekreuzigte und zum Zugriff bereit machte. Geräuschlos schlüpfte er in den Raum hinter der Tür.
Alles traf ihn gleichzeitig – Marni, an ein hölzernes Schrägkreuz gefesselt, die gegerbten, tätowierten Häute auf Drahtgestellen, ein Mann, der mit dem Rücken zu ihm stand und eine gebogene Klinge schwang, von der Blut tropfte.
»Stopp! Polizei!«
Der Mann drehte sich um und musterte ihn von oben bis unten.
Noch nie hatte sich Francis sehnlicher eine Waffe gewünscht. Wären doch nur Thierry und Rory bei ihm! Es war ein Fehler gewesen, sich aufzuteilen.
»Frank, bist du das?« Es war die Stimme der Verzweiflung, heiser und gebrochen.
»Ja, Marni.«
»Ach, wie süß«, sagte der Mann. »Ihr kennt euch ja. Nun, Frank, ich bin Steve. Erinnerst du dich? Wir sind uns in Marnis Studio begegnet.«
Er holte aus, die blutige Klinge sauste durch die Luft. Francis hatte mit einer Attacke wie dieser gerechnet, sprang zur Seite und ging hinter einer der Betonsäulen in Deckung. Steve knurrte wütend und änderte die Richtung, um Francis zu erwischen. Francis stürmte mit gesenkter Schulter gegen die Säule und stürzte sie um. Sie streifte Steves Hüfte, der eilig zur Seite sprang, sodass sie mit einem lauten Knacken auf dem Betonboden landete, ohne Schaden anzurichten. Das Silbergestell und seine kostbare Fracht schlitterten über den Boden und prallten gegen die gegenüberliegende Wand.
Marni verrenkte sich den Nacken, um mitzubekommen, was vor sich ging.
»Hilfe!«, kreischte sie.
Blitzschnell stürmte Francis zu Marni, um sie zu befreien, schnappte sich ein zweites Messer von einem niedrigen Tisch und schnitt eilig das Seil durch, mit dem einer ihrer Knöchel ans Kreuz gefesselt war, bevor Steve zu nahe kommen konnte. Wenigstens hatte er jetzt eine Waffe. Er richtete sich auf und hielt das Messer vor sich, während er in Verteidigungshaltung ging.
Brüllend vor Zorn griff Steve erneut an, diesmal von der Seite, mit der linken Schulter voran, das Messer in der rechten Hand. Francis machte einen Schritt schräg nach vorn, um Steve den Kopf in die Mitte zu rammen. Sie stießen zusammen und landeten auf dem Fußboden. Steve fiel das Messer aus der Hand, aber er trat mit den Füßen um sich und landete heftige Tritte in Francis’ Bauch, wobei er versuchte, ihn möglichst zwischen den Beinen zu treffen, um ihn außer Gefecht zu setzen. Francis schwang sein Messer, traf auf Steves Hosenbein und zerrte die Klinge mit Kraft so weit wie möglich nach unten, um maximalen Schaden anzurichten. Steve schnappte nach Luft und zog sich zurück, außer Reichweite. Francis musste das Messer aus Steves Wade ziehen, wenn er nicht riskieren wollte, es zu verlieren.
Beide keuchten vor Anstrengung. Es gelang Steve, sein Messer wieder zu fassen und sich aufzurappeln. Mit wildem Blick und geblähten Nüstern stürzte er sich auf seinen Gegner, der noch am Boden lag.
Francis nahm all seine Reserven zusammen und rollte sich herum auf alle viere. Steve warf sich auf den Rücken, und Francis spürte, wie das Messer durch sein Jackett schnitt. Völlig überraschend sprang er hoch, den Schmerz ignorierend, und stand vor Steve, der ihn perplex anstarrte. Francis nutzte den kurzen Vorteil des Überraschungsmoments und machte einen Schritt nach vorn, damit Steve nicht genügend Raum blieb, um auszuholen und ihm die Klinge in die Brust zu rammen. Dann fiel ihm das Messer in seiner eigenen Hand ein.
Benutz es! Nun setz das verdammte Ding endlich ein!
Aber er war nicht schnell genug. Steve hatte sein Vorhaben vorausgeahnt und stieß Francis kräftig gegen die Schulter. Francis’ Klinge fiel mit einem lauten Klappern zu Boden, gleichzeitig hörte er sein Schlüsselbein brechen. Sein rechter Arm war nun ein totes Gewicht, greller Schmerz schoss von seiner Schulter bis runter zum Handgelenk. Steve grinste aufgeregt und nutzte seinen Vorteil, indem er Francis mit dem Rücken gegen eine der leeren Betonsäulen drängte und ihm das Messer an die Kehle hielt.
»Willst du deine letzten Worte sprechen?«
Nichts lag Francis ferner, als eine Abschiedsrede zu halten. Er riss ein Bein hoch und rammte Steve das Knie in den Schritt. Das war zwar nicht die beste Taktik, aber immerhin hatte er die Klinge nicht mehr am Hals. Steve schnappte nach Luft und taumelte zurück, dann schaute er an sich herab und drückte die Hand auf seine blutgetränkte Baumwollhose, dort, wo ihn Francis zuvor mit dem Messer erwischt hatte. Sein Gesicht war grau, seine Augen blutunterlaufen.
Unbeholfen hob Francis mit der linken Hand das Messer auf, dann bückte er sich, um Marnis zweiten Fuß zu befreien, bevor er die Seile an ihren Händen durchschnitt. Ein Glück, dass das Messer so scharf war. Marni sackte zu Boden, kaum noch bei Bewusstsein.
»Fass sie nicht an!«, schrie Steve. »Sie gehört mir.«
Francis sah sich panisch um. Weder Marni noch er wären in Sicherheit, solange er Steve nicht unschädlich gemacht hatte. Ohne den Blick von dem anderen Mann zu wenden, fasste er das Messer mit seiner nutzlosen rechten Hand und zog sein Handy aus der Tasche, um die Schnellwahl für Rory zu drücken.
Besetzt.
Verdammt!
Er war ein ganzes Stück größer als Steve, ungefähr sieben, acht Zentimeter, was bedeutete, dass er eine längere Reichweite hatte. Nicht dass das viel wert war, jetzt, da er auf seine weitaus ungeschicktere linke Hand reduziert war. Allerdings war Steve schwerer als er und muskelbepackt, und er hatte einen niedrigeren Körperschwerpunkt. Wie könnte er auf Zeit spielen, bis Thierry eintraf? Der würde doch mit Sicherheit bald hier herunterkommen …
»Thierry?«, rief er.
Steve richtete sich wieder auf und näherte sich Francis in einem großen Bogen. Die Distanz zwischen den beiden Männern wurde immer geringer.
Stellte sich Francis ihm jetzt entgegen, würde er Marni schutzlos am Boden liegen lassen. Blieb er dagegen bei ihr, würde auch sie sich in Steves Reichweite befinden. Er rückte ein paar Zentimeter vor. Könnte er Steve von Marni fortlocken, oder wäre sie sein Hauptziel?
Seit sie auf den Boden gesackt war, hatte sie sich noch nicht bewegt. Er konnte sie nicht atmen hören, und es war zu riskant, sich umzudrehen, um nachzusehen, ob sich ihre Brust hob und senkte. Die langen Schnitte, die sich rechts und links von ihren Schultern über den ganzen Rücken zogen, bluteten noch immer – aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie sich eine rote Pfütze auf dem glänzenden Betonboden bildete. Sie brauchte dringend einen Notarzt.
Zu spät wurde ihm klar, was Steve vorhatte. Dadurch, dass er Thierry gerufen hatte, hatte Francis verraten, dass er nicht allein hier war, und das erwies sich als grundlegender Fehler. Steve lief nicht etwa davon, sondern sorgte stattdessen dafür, dass niemand hereinkommen konnte. Er knallte die Tür zu, drehte den Schlüssel um und steckte ihn in seine Tasche.
»Dein Eintreffen verändert alles«, stieß er wütend hervor und lehnte sich schwer atmend mit dem Rücken gegen die Tür, ohne das von Francis aufgeschlitzte Bein zu belasten. »Marni sollte die Einzige sein, die in diesem Raum umkommt, aber nun wirst auch du sterben.«
Blitzschnell ging Francis seine Optionen durch.
Lock ihn von der Tür weg. Ring ihn nieder. Nimm dir den Schlüssel.
Blieb ihm eine andere Wahl?
»Dann komm her, du Bastard!« Das war eine riskante Strategie, die ihn vielleicht das Leben kosten würde. Er musste darauf setzen, dass der Blutverlust Steves Reaktionen verzögern würde.
Leider war das nicht der Fall.
Steve stürzte sich auf ihn wie ein Besessener, die Klinge blitzte im grellen Licht. Er täuschte einen seitlichen Angriff an, Francis wich aus. Sie umkreisten einander, bis Francis nach vorn sprang und sich auf Steve stürzte.
»Billige Nummer«, knurrte Steve und ging hinter einem der Sofas in Deckung.
Francis rannte darauf zu, trat mit einem Fuß auf die Sofalehne und stieß sich vom Boden ab. Er hatte keinen Plan, aber wenn er nicht handelte, würden Marni und er sterben.
Ihre Körper prallten aufeinander, und beide gingen erneut zu Boden. Steve bekam Francis’ rechten Arm zu fassen und riss ihn nach hinten. Ein stechender Schmerz durchfuhr Francis’ Schulter. Ihm wurde schwindelig, aber es gelang ihm, Steves Arm mit dem Messer aufzuschlitzen. Steve ließ los und nutzte sein Gewicht, um Francis auf den Rücken zu drehen, dann setzte er sich rittlings auf ihn und drückte mit den Knien die Schultern des Inspectors auf den Beton, womit er dem ohnehin schon gebrochenen Schlüsselbein weiteren Schaden zufügte.
Francis wand sich unter ihm und versuchte, sich zu befreien. Mit dem linken Arm schlug er nach Steve, aber er konnte keinen richtigen Treffer landen.
Draußen wurde laut an die Tür gehämmert, Francis hörte aufgeregte Stimmen.
Steve erhöhte den Druck auf Francis’ Schultern und drückte die geschwungene Klinge gegen seine Kehle.
»Du bist selbst schuld«, knurrte er. »Du hast die Kardinalregel verletzt und bist ohne Verstärkung hergekommen.«
Der Türgriff ratterte.
»Chef, sind Sie da drin?«
Francis versuchte zu antworten, aber Steve ersetzte das Messer durch seinen Unterarm und drückte ihm die Luft ab. Ein ersticktes Ächzen war alles, was Francis herausbekam.
Von der Tür her hörten sie ein dumpfes Geräusch.
Steve fuchtelte mit seinem Messer herum, das ihm aus der Hand glitt und kurz auf Francis’ Brust landete, bevor er es wieder zu fassen bekam. Gleichzeitig spürte Francis, wie ihm sein Messer aus der Hand genommen wurde. Er drehte leicht den Kopf und sah Marni, die geräuschlos hinter Steves linker Schulter auf ihn zukroch, einen Zeigefinger auf den Lippen. Sie war leichenblass, ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Ihr ganzer Körper bebte, doch die Entschlossenheit in ihren Augen gab Francis Hoffnung.
Sie hob das Messer und machte sich bereit zuzustoßen. Im selben Moment spürte Francis, wie der Mann auf ihm das Gewicht verlagerte und seinem Blick folgte.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich das ein zweites Mal in meinem Leben tun müsste«, sagte Marni.
Ohne zu zögern stieß sie das Messer in Steves Brust, zog es ein Stück weit hinunter und wieder raus. Er rollte sich von Francis auf den Fußboden, um ihr zu entkommen, aber sie stürzte sich auf seinen Rücken und stach erneut zu. Steve drehte sich um und fing an, mit ihr zu ringen, doch in dem Moment rollte Francis gegen die beiden, um Marni von Steve zu schieben, bevor dieser mit seinem Messer nach ihr ausholen konnte. Der Fußboden war glitschig vor Blut. Francis verspürte einen entsetzlichen Schmerz und hörte das Übelkeit erregende Geräusch einer Klinge, die auf Knochen traf. Marni schrie.
Auf einmal flog die Tür auf, und Rory und Thierry stürmten ins Zimmer und rissen sie auseinander, wobei sie auf dem Blut ausrutschten. Thierry zog Marni in seine Arme, während Rory Steves Arm auf den Boden schlug, bis dieser das Messer losließ.
Francis’ Brust brannte, als er den Kopf hob und an sich herabblickte. Sein Hemd war blutgetränkt. Er rappelte sich so weit hoch, dass er sich mit dem Rücken gegen die Seite eines der Sofas lehnen konnte. Marni lag reglos in Thierrys Armen, die Augen offen, die Augäpfel nach oben gedreht. Steve hielt seinen Nacken umfasst, zwischen seinen Fingern spritzte Blut hervor. Marni musste ihn beim zweiten Mal am Hals erwischt haben.
»Chef?«, fragte Rory.
»Ich lebe«, flüsterte Francis heiser.