59
Marni
Im Krankenhaus aufzuwachen wurde langsam, aber sicher zur unschönen Gewohnheit. Marni öffnete blinzelnd die Augen und sah sich um. Sie lag im selben Zimmer wie beim letzten Mal. Thierry hielt ihre Hand und lächelte sie liebevoll an, als er merkte, dass sie bei Bewusstsein war.
»Bringst du mich nach Hause?«, fragte sie krächzend. Ihr Hals fühlte sich an, als hätte sie eine ganze Packung Rasierklingen verschluckt.
»Keine Chance, Kleines. Und wehe, du lässt dich noch einmal auf eigene Verantwortung entlassen.«
Er hielt ihr einen Plastikbecher an die Lippen. Das Wasser war lauwarm und abgestanden, aber es schmeckte trotzdem wunderbar. Sie nahm mehrere gierige Schlucke, bevor er den Becher zurückzog.
»Langsam«, sagte er.
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Zwei Tage. Du warst völlig unterzuckert, als sie dich hergebracht haben, außerdem hast du diverse Stich- und Schnittverletzungen. Die Messerspitze hat deine Milz erwischt.«
Noch während er sprach, merkte Marni, dass ihr ganzer Oberkörper schmerzte. Vorsichtig hob sie die Bettdecke an, aber sie trug ein Krankenhausnachthemd, weshalb sie die Verletzungen nicht sehen konnte. Ihr Rücken fühlte sich völlig zerfleischt an, ihr linker Arm pochte grauenvoll.
»Sie haben dich operiert«, sagte Thierry. »Ich glaube, es war mehr als knapp, aber das wollten sie mir gegenüber nicht zugeben.«
Marni mochte es nicht glauben, aber sein Gesicht war todernst. Er sah besorgt aus. Sie schloss die Augen.
»Mum, wie geht es dir jetzt?«
Sie hatte gar nicht gesehen, dass Alex hinter Thierry an der Wand saß.
»Komm her, Alex.«
Er trat an ihr Bett und umarmte sie vorsichtig. Marni zuckte zusammen.
»Ich könnte tausend Jahre schlafen.«
»Dann haust du diesmal also nicht ab?«, fragte Thierry.
Sie öffnete die Augen und schüttelte den Kopf, dann verzog sie die Lippen zu einem Lächeln. Die beiden hier zusammen zu sehen, war ausgesprochen tröstlich, und Alex’ warme Hand auf ihrer zu spüren, war das Schönste auf der ganzen Welt.
»Mum, wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Jetzt spielst du aber nicht mehr Teilzeit-Detective, versprochen?«
»Versprochen.«
»Ich hab Hunger«, sagte Alex. »Aber wenn ich zurückkomme, würde ich gern die ganze Geschichte hören, und zwar von dir persönlich.«
»Selbstverständlich.« Thierry grinste. »Jetzt, da du weißt, dass deine Mum okay ist, kannst du dich wieder den wichtigen Dingen zuwenden.« Er fischte etwas Kleingeld aus seiner Hosentasche. »Ich glaube, ich hab neben den Liften einen Snack-Automaten gesehen.«
Marni sah ihrem Sohn nach, der den Raum verließ, dann fing sie an zu sprechen.
»Auf keinen Fall darf Alex die ganze Geschichte erfahren.«
Thierry nickte. »Woran erinnerst du dich?«
»Ich war gefesselt. Steve und Frank haben gekämpft. Überall war Blut, so viel Blut.« Sie hielt die Luft an, dann stieß sie atemlos hervor: »Ist …?«
»Francis geht es gut. Steve weniger, aber er lebt. Was ist das bloß mit dir und den Messern?«
Er lächelte, wie er sie früher angelächelt hatte, bevor ihre Ehe in einem Sturm der Angst und gegenseitigen Schuldzuweisungen in die Luft geflogen war.
Ihre Augenlider wurden schwer, ihr ganzer Körper schien aus nichts anderem zu bestehen als aus Schmerz. Seufzend glitt sie zurück in die warme Umarmung des Schlafes.
Draußen war es schon dunkel, als sie wieder aufwachte. Die kleine Lampe an ihrem Nachttisch tauchte den Raum in dämmriges Licht. Ihr war kalt. Sie hatte die Bettdecke weggestrampelt, und das kurze Krankenhausnachthemd bedeckte sie kaum. Vorsichtig zog sie sich in eine sitzende Position hoch und schnappte vor Schmerz nach Luft.
Im selben Moment bemerkte sie eine dunkle Gestalt, die zusammengekauert in einem Sessel in der Ecke ihres Zimmers saß, und schrie erschrocken auf. Ihr Schrei ließ den, der da hockte, hochschrecken.
Panik durchflutete sie.
Das war doch nicht etwa …
»Thierry?«
Die Gestalt stand auf und trat ans Fußende von ihrem Bett.
»Ich bin’s, Francis.«
Marni spürte, wie sie sich entspannte. »Frank«, sagte sie erleichtert.
Er setzte sich auf den Stuhl, den Thierry neben ihrem Bett hatte stehen lassen.
»Thierry hat gesagt, du seist wach, aber als ich kam, warst du wieder eingeschlafen. Ich wollte dich nicht stören.«
»Seit wann bist du hier?«
»Ich bin so gegen sieben gekommen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Jetzt ist es kurz nach zehn.«
Er nahm ihre Hände in seine.
»Du hast mir das Leben gerettet, Marni. Wenn du nicht das Messer aus meiner Hand genommen und es auch benutzt hättest, wäre ich jetzt tot. Steven Harrington hätte mich umgebracht.«
Erinnerungen zuckten vor Marnis innerem Auge auf. »Aber du hast mir ebenfalls das Leben gerettet, Frank. Steve wollte mir soeben das Tattoo vom Rücken schneiden, als du eingetroffen bist.«
»Wir haben es gerade noch rechtzeitig geschafft.«
»Danke.«
»Du musst dich nicht bedanken, Marni. Ich habe dich im Stich gelassen. Mir hätte klar sein müssen, dass du noch immer in Gefahr warst.«
»Woher hättest du das wissen sollen? Sam Kirby saß in Untersuchungshaft.«
»Sie hat mir klar zu verstehen gegeben, dass die ganze Sache noch nicht vorbei war.«
Marni zuckte die Achseln. Es schmerzte höllisch.
»Werde ich mich dafür verantworten müssen?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort im Grunde gar nicht wissen wollte.
Francis runzelte die Stirn. »Wofür?«
»Ich habe Steve niedergestochen. Was, wenn er stirbt?«
»Herrgott, Marni, das war Notwehr. Natürlich wirst du deshalb nicht vor Gericht gestellt. Du wirst bei Stevens Verhandlung als Zeugin aussagen müssen, aber das ist alles.«
»Du glaubst, ihm wird der Prozess gemacht?«
»Bevor ich hergekommen bin, habe ich mit seinem Arzt gesprochen. Er ist zuversichtlich, dass er sich wieder erholt, also gehe ich davon aus, dass er vor Gericht kommt. Man wird ihn wegen Mordes anklagen – auch wenn er die Opfer nicht selbst getötet hat, war er es, der die Verbrechen in Auftrag gegeben und Sam Kirby für sich hat arbeiten lassen hat, was es in den Augen der Richter nur noch schlimmer machen wird. Beide werden für sehr lange Zeit hinter Gitter wandern.«
»Du hast den Fall gelöst.«
»Selbstverständlich. Was hattest du denn erwartet?«
Beide lachten, und dann, völlig unerwartet, hob Francis eine ihrer Hände an seine Lippen und küsste sie. Das Lachen blieb Marni in der Kehle stecken und wurde von etwas anderem, weitaus Überwältigenderem, ersetzt. Ihre Augen begegneten sich.
»Es gibt da so ein altes Sprichwort«, sagte Francis leise, ohne den Blick abzuwenden. »Wenn man jemandem das Leben gerettet hat, gehört man zusammen. Ich habe keine Ahnung, woher das Sprichwort stammt, aber ich denke, da ist etwas dran …«
»Dann glaubst du also, wir gehören zusammen?«
Er lächelte. »Könnte durchaus sein.«
»Wirklich?« Marni schürzte die Lippen. »Du gehörst zu mir?«
»Und du zu mir.«
»Das ist schön.« Sie lehnte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen.
»Was denkst du, Marni Mullins?«
»Ich denke darüber nach, welchen Teil deines Körpers ich zuerst tätowiere.«
Francis blickte sie überrascht an. »Nein, nein, so funktioniert das nicht.«
»Doch.«
»Nein.«
»Du gehörst mir. Ich werde dich tätowieren. Ich werde etwas Schönes für dich aussuchen.«
»Nein.«
Marni tauchte die Nadeln in die schwarze Tinte. Das hier würde sie sehr genießen. Er nicht, aber das war nun einmal der Preis, den man für ein Tattoo bezahlen musste.
»Bereit, Frank?«
»Bereit wie immer.«
Sie tätowierte die erste schwarze Linie auf die blasse Haut seines Rückens und lachte.
»Autsch!«
»Na, du tapferer Inspector, wie fühlt es sich an, tätowiert zu werden?«
»Du kannst jetzt aufhören. Mir war nicht klar, dass das so schmerzhaft sein würde.«
Sie setzte ihre Arbeit fort.
»Keine Sorge. Du steckst das weg wie ein Profi.«