Montag, 16. Mai 1910, Vormittag
Der erste Kongresstag
Am nächsten Vormittag regnete es noch immer in Strömen. Carl betrat den Saal. Dicke Vorhänge sperrten das Tageslicht aus. Das Publikum lauschte gebannt den Ausführungen eines Referenten. Flüstern, Scharren von Schuhen, ein gelegentliches Husten, die unruhige Stille, die mit Vorträgen einherging. Anspannung hatte ihn erfasst. Kein Lampenfieber, dazu war er zu routiniert, aber es ging heute um viel, womöglich um die Zukunft der Dädalus-Werke.
Der Redner auf der Bühne erläuterte eine Erfindung, die das Fortkommen von landwirtschaftlichen Traktoren auf unbefestigtem Untergrund massiv verbessern sollte. Mit Hilfe eines einfachen Fahrzeugmodells demonstrierte er anschaulich die Fortbewegungstechnik. Anstelle von gewöhnlichen Rädern mit Gummireifen waren Zahnräder montiert. Über diese zog er eine Kette aus breiten Eisengliedern auf. Er setzte das Modell auf dem Rednerpult ab und bewegte es. Es sah aus, als wickle das Vorderrad eine eigene Straße für sich und das Hinterrad ab, die dann das Hinterrad wieder aufnahm und obenherum dem Vorderrad reichte, das sie erneut abwickelte. Die Zacken der Zahnräder griffen dabei präzise in die Glieder der Kette.
Bald war das Referat zu Ende, und Carl wurde von August Reichenbach, dem Kongressleiter, angekündigt: »Es ist mir eine Ehre, unseren nächsten Referenten vorstellen zu dürfen, meine Herren. Carl Lohser, Mitinhaber einer kleinen Automobilwerkstatt. Der Dädalus-Werke. Sohn des uns allen bekannten und geehrten Mitglieds der Orion-Gesellschaft, Köbi Lohser. Carl Lohser gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet der elektrisch betriebenen Automobile. Er ist die treibende Kraft hinter der Entwicklung des Dädalus-Modells Gans II sowie des Vorgängermodells Gans I.« Routiniert ließ Reichenbach die Informationen sacken. »Doch was die Dädalus-Werke von den anderen Dutzenden Schweizer Automobilherstellern unterscheidet, ist der Erfindergeist Carl Lohsers. Er entwickelt die Technik weiter. Nicht evolutionär wie die Konkurrenz, sondern revolutionär! Carl Lohser, meine Herren!«
Carl griff zur Kreide und schrieb drei Prozentsätze an die Wandtafel. »Ungeachtet der von Tieren gezogenen Fuhrwerke, Velocipisten und Fußgänger sind auf den heutigen Straßen achtunddreißig Prozent spritbetriebene Fahrzeuge anzutreffen. Zwanzig Prozent machen Dampfmaschinen aus, im Speziellen aus der Landwirtschaft und dem Schwerverkehr. Sage und schreibe zweiundvierzig Prozent sind elektrisch betriebene Automobile.«
Er ging auf die Vorteile der Elektroautomobile ein und wiederholte dabei beinahe bis aufs Wort, was er Mario Chiorazzo erklärt hatte. Carl erwähnte die Laufruhe und den Betrieb ohne Gestank und Lärm. Man brauche bloß einzusteigen und loszufahren, ohne das mühselige Ankurbeln des Motors. Ohne Getriebe und mit weniger beweglichen Teilen sei die Mechanik weniger kompliziert und weniger anfällig auf Defekte.
Es läuft gut, dachte sich Carl. Das Publikum hing ihm an den Lippen. »Die Beschaffung von Äthanol, Sprit oder Benzin an den Verkaufsstellen ist umständlich. Inzwischen aber ist jede Stadt und bald jedes Dorf an die Elektrizitätsversorgung angeschlossen. Viele Häuser haben einen privaten Stromanschluss, und es werden immer mehr. Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Verantwortlichen hierfür begrüßen, die beiden Herren Brown und Boveri. Ich habe erfahren, dass sie auch an diesem Kongress teilnehmen.«
Carl schirmte die Augen gegen das Scheinwerferlicht ab, um sie im Saal ausfindig zu machen. Sie saßen weit getrennt voneinander im Publikum, obwohl lange nicht alle Holzklappstühle besetzt waren. Sie gingen sich offenbar aus dem Weg. Besser, Carl ging nicht weiter auf die beiden ein.
»Das Elektromobil kann man einfach zu Hause laden. Über Nacht an den Strom angehängt, ist es am Morgen bereit für eine gemütliche Sonntagsausfahrt mit der Familie. Es frisst auch keinen Hafer und muss nicht gestriegelt werden.«
Hier hatte Carl bei den Vorbereitungen für den Vortrag eine kleine Pause für den Lacher eingeplant, der auch prompt folgte. Das war zwar kein Varieté, doch Carl beschloss, noch einen draufzugeben. »Dafür schmeckt aber die Salami nicht besonders.«
Der eine oder andere Rappen musste zuerst noch fallen, doch dann bestätigte ein erneutes Lachen Carl, dass es wirklich gut lief. Zufrieden fuhr er fort: »Das Elektroautomobil ist die Technik der Zukunft. Ich wage die Prognose, dass bis in hundert Jahren fünfzigtausend, womöglich sogar hunderttausend Autos auf den Schweizer Straßen fahren, und ich wäre nicht überrascht, wenn gegen hundert Prozent davon Elektroautomobile wären.« Carl ließ die Zahlen sacken. »Natürlich ist diese Technik heute noch lange nicht ausgereift«, sprach er dann weiter.
»Wem sagst du das?«, rief ein Zuschauer.
Unbeirrt fuhr Carl fort: »Die Reichweite mit einer Akkuladung beträgt zwischen achtzig und hundert Kilometern. Einfach weitere Akkus am Automobil anzubringen, macht es nur unnötig schwer und erhöht kaum die Reichweite.«
»Dann muss man wieder eine Nacht lang laden!« Wieder ein Zwischenrufer. Er erntete zustimmendes Gelächter.
Carl mochte solche Störenfriede an Vorträgen nicht. Such dir doch dein eigenes Publikum!
Er wollte gerade fortfahren, als er erneut unterbrochen wurde. »Lieber Schatz, ich komme schnell mal zu dir rüber, ich bin übermorgen da!«
Die Stimme kam Carl bekannt vor. Gleichzeitig erkannte er seinen Fehler. Gib den Leuten ein kleines Witzchen, und sie meinen, du wärst der Pausenclown, über den man laut spotten darf. Carl kämpfte seinen aufkommenden Groll nieder und nahm sich vor, wohlwollend zu reagieren.
»Ich bin die ganzen hundertachtzig Kilometer von meiner Fabrik im Aargau bis hier mit meinem Elektroautomobil gefahren. Trotz oder gerade wegen der zusätzlichen Übernachtung war das eine wunderbare Reise. Es war eine –«
»Ja, wir alle haben dein armes Automobilchen gesehen!«
Carl suchte das Publikum nach dem Witzbold ab. Es war Laurenz Palanti. Das Großmaul!
Reichenbach schaltete sich ein. »Meine Herren, bitte!«
Jetzt musste Carl sogar der Kongressleiter beistehen, weil er sein Publikum nicht im Griff hatte. Keine weiteren Improvisationen mehr. Er blickte auf seine Notizen und beschloss, das nächste Kapitel einzuleiten. »Die Nachteile des Elektroautomobils sind uns allen bekannt. Und hier ist auch der Punkt, an dem wir ansetzen können. Ich arbeite an einem Prototyp der Energierückgewinnung. Eine Rekuperation.«
Carl begab sich an die Tafel. Mit zügigen Kreidestrichen skizzierte er eine Achse mit zwei Rädern und in der Mitte eine kreisrunde Scheibe. Daneben fügte er ein quaderförmiges Kästchen hinzu, mit einem beweglichen Arm und einem kleinen Rädchen, das auf der Scheibe auflag.
»Wenn ich bremse, wird gleichzeitig dieser Generator aktiviert, der dann die Bremsenergie in Strom zurückverwandelt und in die Akkus zurückspeist.«
Schweigen im Saal. Die Zuschauer brauchten einen Moment, um zu verstehen. Gut, Carl hatte wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit!
»Ein Perpetuum mobile!« Wieder Palanti.
Ruhig bleiben, mahnte sich Carl.
»Leider nicht ganz, Herr Palanti. Aber elf bis dreizehn Prozent mehr Reichweite dürften damit möglich sein.«
Wie automatisch erläuterte Carl die technischen Details und die Möglichkeiten seiner Erfindung. Das Referat hatte er zu Hause eingeübt. Unzählige Male heruntergebetet. Das Publikum hörte nun wieder gebannt zu. Die namentliche Bloßstellung von Palanti hatte auch die Zwischenrufe verstummen lassen. Ein Blick in die Reihen verriet Carl, dass dessen feistes Grinsen einer hochroten Stirn gewichen war.
Carl stellte zudem fest, wie interessiert die Herren Brown und Boveri dem Referat horchten. Wenn auch eine große räumliche und offenkundig persönliche Distanz zwischen den beiden herrschte, so kamen sie ihm vor wie zwei Brüder unterschiedlicher Eltern. Sie saßen in derselben Haltung da. Beide hatten sich mit übereinandergeschlagenen Beinen im Stuhl nach vorne gebeugt, das Kinn in die Hand gestützt, während der Zeigefinger auf dem Schnurrbart ruhte.
Eine fruchtbare Zusammenarbeit der Dädalus-Werke mit der mächtigen BBC wäre ein wahres Erfolgskatapult für seine kleine Automobilfabrik. Carl musste im Laufe des Kongresses mit den beiden Großmogulen der Elektrizitätsindustrie ins Gespräch kommen.
Verstohlen blickte er auf seine Armbanduhr. Seine Referatszeit wurde langsam knapp. Er musste nun rasch zum nächsten Punkt überleiten. Wenn auch die Zeit nicht reichen würde, das Prinzip im Detail zu erörtern.
»So viel dazu. Bevor die Fragerunde eingeläutet wird, möchte ich Ihnen noch eine zweite Entwicklung aus unserem Hause vorstellen. Es handelt sich dabei um eine Reichweitenverlängerung für Elektromobile. Wenn eine größere Fahrt ansteht, als die Reichweite der Akkumulatoren zulässt, kann man sich eines raffinierten Geräts bedienen. Ein einachsiger Anhänger kann am Automobil montiert werden, auf dem sich ein Spritgenerator befindet. Dieser erzeugt Strom, um die Akkumulatoren während der Fahrt aufzuladen. Der Wirkungsgrad ist hier um einiges höher als bei einfachen Benzinmot–«
»Jetzt füllt der sogar noch Benzin in sein Elektrospielzeug. Gib es doch zu, das strombetriebene Automobil ist ein absoluter Pfupf!«, posaunte Palanti, erhob sich keuchend und machte sich wütenden Schrittes aus dem Saal, nicht ohne im Vorbeigehen drei freie Stühle umzuwerfen.
Carl ertappte sich, wie er mit offenem Mund auf der Bühne stand, und klappte diesen wieder zu. Es verwunderte ihn doch immer wieder, wie emotional einige Zeitgenossen beim Thema »Elektromobil oder Benzinautomobil« reagierten, als ob es sich um einen Diskurs zwischen Katholiken und Protestanten handelte.
»Ich hätte da eine Frage zu Ihrem Energierückgewinnungssystem, Herr Lohser.«
Carl schirmte seine Augen ab und blickte in die Reihen. Charles Brown hatte sich erhoben und winkte kurz mit der Hand.
»Ja bitte, Herr Brown.«
»Ich kenne den Sachverhalt nur zu gut, dass das Laden der Akkumulatoren nur bei einer bestimmten Drehzahl der Räder und somit des Generators effizient funktioniert. Bei einem Automobil wird aber bekanntlich bei ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unterschiedlich stark gebremst.«
Carl dankte Brown insgeheim dafür, dass er es war, der das Referat wieder in Schwung brachte. Wenn ein Genius vom Format eines Charles Brown sein Interesse an einer Technik kundtat, dann würde es sich wohl nicht bloß um einen Pfupf handeln.
Carl bestätigte Browns Einwand. »Bei anfänglichen Versuchen habe ich die Problematik der Drehzahlabhängigkeit ebenfalls feststellen müssen. Daraufhin führte ich einige Optimierungen durch und entwickelte eine Übersetzung, die dem entgegenwirkt.« Mit einigen Kreideskizzen an der Tafel erläuterte er Brown und dem Publikum das Prinzip.
Als Carl seine Ausführungen beendet hatte, meldete sich Reichenbach diskret zu Wort. Er danke Carl Lohser für die Vorstellung seiner zukunftsweisenden Entwicklungen, und man wolle nun zum nächsten Referenten übergehen, einem Chemiker, der –
Jemand unterbrach den Kongressleiter. »Ich hätte da noch ein paar weitere Fragen an Herrn Lohser.«
Carl, der gerade seine Unterlagen in seine Dokumententasche schob, blickte auf. Ein Mann um die fünfzig mit Glatze und Backenbart hatte sich zu Wort gemeldet. In der hintersten Stuhlreihe stand er stramm da. Seinem zackigen Deutsch zufolge musste er ein Bürger des nördlichen Nachbarstaats sein.
»Mit welchen Kosten muss für ein Fahrzeug wie dem Ihren gerechnet werden?«
Carl antwortete: »Die Dädalus Gans II ist noch ein Einzelstück. Bei der Serienanfertigung in unserer Manufaktur von, sagen wir, vierzig Exemplaren wird sich der Stückpreis auf rund sechstausend Franken belaufen.«
Der Deutsche hob die Augenbrauen, ob aus Anerkennung oder aus Skepsis, konnte Carl nicht sagen. »Das ist erstaunlich kostengünstig, Herr Lohser.« Er blickte Carl durchdringend an und wartete.
Carl erkannte, dass das bereits die nächste Frage war, und holte aus, dass es sein Bestreben sei, ein Automobil auch für mittelständische Familien zu bauen. Vielleicht in naher Zukunft sogar für den einfachen Arbeiter. Seine Vorbehalte gegen die Reichen und Bonzen ließ er dabei außen vor. Besser, bei diesem Publikum.
Der Deutsche schob nach: »Ein vergleichbarer elektrischer Kraftwagen der Firma Tribelhorn zum Beispiel wird für sechzehntausend Franken verkauft. Und der hat nicht die fortschrittliche Technik, die Sie uns versprechen.«
Der Deutsche war nicht unvorbereitet zu dem Referat erschienen. Carl blickte zu Reichenbach. Die ihm zugewiesene Zeit für seine Präsentation war bereits deutlich überschritten. Im Vorfeld hatte der Kongressleiter explizit darauf bestanden, dass die Zeiten zwingend einzuhalten seien. Die Zuschauer legten Wert auf ein straffes Programm. Niemand wolle länger auf die Erfrischungsgetränke und die Häppchen warten als nötig. Doch Reichenbach unterbrach den Deutschen nicht. Es musste sich bei diesem wohl um eine einflussreiche Persönlichkeit handeln.
»Wie gelingt es Ihnen, die Kosten so niedrig zu halten, Herr Lohser? Legen Sie etwa noch drauf?« Der Deutsche lachte nicht.
»Keineswegs. Ich gestalte sämtliche Bauteile der Gans II einfach und sehr rudimentär. Ein gewöhnlicher Schlosser, ob in Zürich, Bern oder Berlin, sollte das Fahrgestell nachbauen können. Ein Schreiner die Holzteile, ein gewöhnlicher Wagner die Räder, ein jeder Sattler kann die Sitze nähen. So ist es möglich, sämtliche Bauteile bei dem günstigsten oder gleich bei mehreren Handwerksbetrieben fertigen zu lassen und die Gesamtkosten für unser Produkt niedrig zu halten. Gleichzeitig können die Handwerksbetriebe weitere Arbeiter einsetzen. Ich schätze, dass sich die Automobilindustrie zu einem wachsenden Markt entwickeln wird. Und davon sollen alle profitieren.«
Carl ertappte sich dabei, wie er ins Schwärmen geriet. Er musste sich zügeln, da im Publikum ja Großindustrielle saßen, die sicherlich nichts über den Profit von Kleinbetrieben hören wollten.
Der Deutsche gab Reichenbach mit einem Nicken zu verstehen, dass er fortfahren könne. Dieser bedankte sich erneut bei Carl und kündigte hastig den nächsten Redner an: einen Chemiker, der ein Referat über eine Flüssigkeit namens Schwefelyperit hielt. Carl verlor bald den Faden, und seine Gedanken kreisten um die Fragen, die der Deutsche ihm gestellt hatte, und um den Deutschen selbst, der die Autorität besaß, das strikte Programm des Kongresses nach eigenem Ermessen zu dehnen, ohne dass sich jemand dagegen auflehnte. Was war das Ziel dieses Kongresses? Sicher, es war eine Möglichkeit, neue Technologien an den Mann zu bringen und Kontakte zu knüpfen, doch Carl wurde den Verdacht nicht los, dass noch mehr dahintersteckte.
Der Vortrag war trocken, der Redner, ein Wilhelm Lommel, verhaspelte sich in zu komplizierten Erläuterungen und machte den Eindruck, als wolle er die Angelegenheit nur schnell hinter sich bringen. Carl packte seine Mappe und stahl sich diskret davon.
Als er den Saal verließ, schnappte er noch auf, wie der Chemiker die haut- und atemwegeschädigenden Eigenschaften der nach Senf riechenden Substanz erwähnte.
***
Oberst Gerhard von Fürstenfeldt-Kamp war in seinem Element. Die leidige Angelegenheit mit dem französischen Agenten war erledigt, und er konnte sich seiner eigentlichen Aufgabe widmen. Leutnant Witt klopfte artig an, geleitete den Ingenieur in den Konferenzraum des Grandhotels und verließ ihn wieder. Der Mann machte einen angespannten Eindruck, als sie sich begrüßten und er ihm den Stuhl am großen Tisch anbot.
»Herr Lohser. Mit Ihrer Präsentation haben Sie bei uns großen Eindruck hinterlassen«, eröffnete Fürstenfeldt.
Das war nicht gelogen. Lohsers Referat hatte ihn in der Tat überrascht. Fürstenfeldts Aufgabe bestand darin, nach neuen Technologien Ausschau zu halten, die für das Deutsche Reich von Nutzen sein könnten, und dieser Lohser war offenbar ein Füllhorn an gewitzten Neuentwicklungen.
Seine wahren Ziele wollte Fürstenfeldt noch nicht offenbaren. Er wollte Lohser erst einmal auf den Zahn fühlen. Er entnahm einer silbernen Schatulle eine Visitenkarte und reichte sie seinem Gegenüber.
Gerhard von Fürstenfeldt-Kamp
ADLER Elektrizitätsgesellschaft, Stuttgart
Die Karte von Fürstenfeldts eigentlichem Auftraggeber, der Technischen Sektion, ließ er stecken. Die Schweizer reagierten bei zivilen Instanzen für gewöhnlich zugänglicher als bei militärischen.
»Ihre Nutzbremsung, die Reichweitenverlängerung und die vereinfachte Fertigung von Automobilen sind von großem Interesse für die ADLER Elektrizitätsgesellschaft«, sagte er.
»Ich fühle mich geschmeichelt, Herr von Fürstenfeldt«, erwiderte Lohser.
Er wirkte abwartend, doch allmählich löste sich seine Anspannung. Fürstenfeldt kannte den Typ eines Carl Lohsers. Er war kein Verkäufer. Von großem Genie zweifelsohne, aber im Handel unbeholfen. Lohser war gezwungen, einen Geldgeber für den Familienbetrieb zu finden. An diesem Punkt wollte Fürstenfeldt ansetzen.
»Aber nicht nur die. Der von Ihnen entwickelte Radnabenmotor scheint ebenfalls eine zukunftsweisende Technologie zu sein.«
Zeige, dass du dich auskennst, und zeige, dass du die Hausaufgaben gemacht hast, dann fühlt sich der Verhandlungspartner geschmeichelt. Eine kleine Fachsimpelei schafft Verbundenheit. Verbundenheit schafft Vertrauen.
»Ist dieser vergleichbar mit den Nabenmotoren der österreichischen Lohnerwerke?«
Fürstenfeldt kannte die Technik der Österreicher von Plänen, die der Technischen Sektion vorlagen. Der Prototyp, der »Semper Vivus«, wurde von einem jungen Tüftler namens Ferdinand Porsche mitentwickelt.
Lohser schien aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. »Die Technik der Motoren ist vergleichbar. Nur, dass meine Entwicklungen auf ein rein elektrisch angetriebenes Automobil abzielen.«
»Der Lohner-Porsche wird mit Sprit und mit Strom betrieben«, wusste Fürstenfeldt.
»Exakt. Während ein herkömmlicher Elektromotor wie der meiner Gans II eine Welle in Drehung versetzt und über Zahnräder die Hinterräder antreibt, könnten zwei Nabenmotoren direkt in den beiden Hinterrädern wirken. Damit können die Antriebswelle, das Getriebe und die mit Gelenken versehene Antriebsachse gespart werden. Der Nabenmotor erzeugt die Drehung genau da, wo sie gebraucht wird.«
»Weniger mechanische Teile führen zu weniger Reibungsverlusten und einer geringeren Störanfälligkeit. Ihr Fahrzeug verfügt nicht über diese Technik?«, fragte Fürstenfeldt.
»Noch nicht. Unser Radnabenmotor steckt zurzeit in der Entwicklungsphase. Ich kämpfe noch mit einigen technischen Hindernissen.«
Fürstenfeldt blätterte in seinen Notizen. »Herr Lohser, können Sie sich vorstellen, Ihre Technologien auch in größeren Fahrzeugen einzusetzen?«
»Der Elektroantrieb eignet sich gerade für größere Fahrzeuge. Das Gewicht der Akkumulatoren ist ihr Nachteil. Je größer das Fahrzeug ist, desto weniger fallen die Akkus – im wahrsten Sinne des Wortes – ins Gewicht.«
»Sehen Sie sich auch imstande, größere Fahrzeuge komplett zu entwickeln? Ich denke da an Lastkraftwagen, Omnibusse oder auch landwirtschaftliche Geräte.«
»Die Dädalus-Werke sind nicht für die Herstellung dieser Art von Fahrzeugen ausgelegt«, räumte Lohser ein.
»Ich denke da weiter, Herr Lohser. Wären Sie als Ingenieur dazu imstande, wenn Ihnen die erforderliche Infrastruktur geboten würde?«
»Unter diesen Umständen wäre dies denkbar.«
Fürstenfeldt faltete die Hände und blickte Lohser offen an. »Stellen Sie sich folgendes Arrangement vor: Sie entwickeln für die ADLER Elektrizitätsgesellschaft neue Technologien, und Ihnen werden eine Mannschaft gut ausgebildeter Fachkräfte sowie die erforderliche Infrastruktur zur Verfügung gestellt.«
»Das klingt sehr interessant, Herr von Fürstenfeldt.« Lohsers Haltung straffte sich. »Ich stelle mir vor, dieses Arrangement beinhaltet, dass ich im Deutschen Reich arbeiten müsste.«
»Ihr Arbeitsort wäre in Stuttgart. Dies ist mit der Eisenbahn gut zu erreichen. Eine zeitliche Begrenzung des Vertrags ist verhandelbar.«
Lohser sagte nichts. Vermutlich ging er in Gedanken die Möglichkeiten durch. Fürstenfeldt half ihm auf die Sprünge. »Ich schätze, dass Sie Ihren Familienbetrieb nur ungern verlassen. Ziehen Sie aber auch in Betracht, dass Ihr Honorar ausreichen wird, um für den Weiterbestand der Dädalus-Werke zu sorgen.«
Lohser sinnierte noch immer. Fürstenfeldt fuhr fort: »Sie könnten sich sogar jemanden leisten, der die Leitung des Betriebs in Ihrer Abwesenheit übernimmt. Zudem könnten ein paar von Ihren künftigen Entwicklungen in die Dädalus-Werke zurückfließen. Stellen Sie sich vor, welchen Wettbewerbsvorteil Ihnen das verschaffen wird.«
Fürstenfeldt griff in seine Dokumentenmappe und legte Lohser unvermittelt einen Vertrag vor die Nase. Sun Tzu sprach: »Greife ihn an, wo er unvorbereitet ist, tauche auf, wo du nicht erwartet wirst.« Diese Strategie hatte ihm schon in mancher Verhandlung beste Dienste geleistet. Zumindest beeindruckte sie den Verhandlungspartner und vermittelte Entschlossenheit. Selbstverständlich würde einer wie Lohser den Vertrag nicht ungelesen unterschreiben, aber er konnte nicht widerstehen und reichte dem Ingenieur die Feder. »Packen Sie die Gelegenheit beim Schopf, Herr Lohser!«
Carl Lohser lehnte sich zurück und stöberte im gut vierzig Blätter umfassenden Werk. Es schien, als läge es schwer in seinen Händen. Er überflog einige Klauseln. Dann blickte er Fürstenfeldt forschend an. Vermutlich suchte er nach einem Anzeichen, dass sein Gegenüber übergeschnappt war. Fürstenfeldt schenkte ihm ein freundliches Lächeln.
Lohsers erneute Anspannung löste sich wieder, als ob er erkannt hatte, dass er es doch nicht mit einem Verrückten zu tun hatte. Er blätterte weiter.
Fürstenfeldt schaute zum Fenster. Schräg hinter dem See waren Interlaken und die dunstigen Silhouetten der Berge zu erkennen. Lohser bedingte sich einen Tag Bedenkzeit aus, den Fürstenfeldt ihm gewährte. Dann verließ er den Raum.
Der Samen war gepflanzt. Jetzt brauchte er bloß noch zu keimen.
Die Suche nach neuen Technologien sollte lediglich der Deckung von Brechteslohs Mission dienen, indem sie die Anwesenheit der deutschen Delegation in den Augen der Nichteingeweihten auf diesem Kongress rechtfertigte. Dennoch steckte Fürstenfeldts gesamte Leidenschaft hinter dieser Aufgabe.
Die Technische Sektion war zuständig für die Anschaffung neuer Technologien, Kriegsausrüstung und Maschinerien für die deutsche Armee. Sie hatte auch immer einen Blick für die Errungenschaften anderer Armeen. Italien zum Beispiel bezog seit Neuestem die immer mehr aufkommenden Flugapparate in Übungen seines Heeres mit ein. Die Briten hatten bereits im zweiten Burenkrieg vereinzelte Truppen mit Automobilen verschoben, was sich als sehr effizient erwiesen hatte. Ebenfalls waren es die Briten, die einen Draht mit Dornen zur Absperrung verwendeten. Die Eisenbahn und Dampftraktoren wurden schon seit Längerem als Kriegstechniken eingesetzt wie auch elektrische Scheinwerfer, Zeppeline für den Bombenabwurf, Maschinengewehre und die drahtlose Telegrafie. Aber damit war das technische Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft. Fürstenfeldt wollte an diesem Kongress noch mit weiteren Referenten Gespräche führen. Mit Ketten versehene Fahrzeuge würden auf unbefestigtem Gelände nie mehr stecken bleiben, und auch für dieses Gas, den Schwefelyperit, sah er eine Einsatzmöglichkeit mit verheerenden Folgen für den Feind.
Aber dieser Lohser hatte es Fürstenfeldt besonders angetan. Er hatte bei ihm zwar einen gewissen Widerstand gespürt, doch durch geschicktes Taktieren ließe sich dieser schon noch überwinden. Die Möglichkeiten, wie seine Techniken im Kriegsfall eingesetzt werden konnten, waren beinahe grenzenlos. Er musste ihn einfach für die ADLER und somit für die Technische Sektion einnehmen.
Fürstenfeldt zog ein Papier aus seiner Mappe, das er schon mehrere Male studiert hatte. Es enthielt Lohsers Ergebnisse der Personenüberprüfung vom Deutschen Nachrichtendienst: »Carl Lohser, Geburtsdatum 04. Mai 1877, Größe: 182 Zentimeter, Lohser gehört keiner Partei an und ist in keinem Verein eingetragen. Keine Straftaten gemeldet«.
Und dann stand da noch: »Zivilstand: ledig«.
Der Generalleutnant hatte Fürstenfeldt gesteckt, dass Klemens über eine Tänzerin oder dergleichen verfügte, die inoffiziell als Begleitdame arbeitete. Ein hübsches Ding, das musste Fürstenfeldt schon sagen. Er hatte sie letzte Nacht im Salon beobachtet, wie sie sich erfolgreich an einen Fabrikanten herangeschmissen hatte. Ihr wahrer Wert lag für Klemens darin, an Informationen zu gelangen und Männer zu bestimmten Handlungen zu beeinflussen.
Zivilstand: ledig.
Für Fürstenfeldt war klar: Er musste diese Dame bei Lohser einsetzen.
So verließ er den Konferenzraum, klopfte bei Klemens’ Büro an und wurde hereingebeten. Gegenüber dem schweren Pult, an dem der Generalleutnant über Verträge gebeugt brütete, stand seit Kurzem ein einfacher Holztisch, an dem Klemens sich zwischen Bergen aus Akten Notizen machte.
»Ich benötige die Dienste dieser Begleitdame«, sagte Fürstenfeldt geradeheraus.
Klemens warf Brechtesloh einen vorwurfsvollen Blick zu, als ob er ihm damit zu verstehen geben wollte, dass es nicht dienlich war, wenn jeder das Geheimnis dieser Dame kannte. »Zurzeit wickelt sie einen Auftrag für mich ab«, sagte er dann.
»Dann ziehen Sie sie von diesem Auftrag ab.«
»Das geht nicht«, sagte Klemens.
»Worum handelt es sich dabei?«, wollte Fürstenfeldt wissen.
»Es geht um einen Herrn, den ich auf einen begründeten Verdacht hin beschatten lassen muss.«
»Auf welchen Verdacht hin?«
Klemens wand sich. Das Gespräch schlug eine Richtung ein, die ihm nicht behagte. »Spionage.«
»Werksspionage bei Ihren Betrieben?«, fragte Fürstenfeldt.
»Nein. Wir vermuten, dass sich ein zweiter französischer Spion auf dem Gelände aufhält.«
Nun schaltete sich Brechtesloh ein. »Sie erzählen uns erst jetzt von einem zweiten Spion?«
»Es ist eine vage Ahnung, mehr nicht.«
»Worauf gründet denn Ihre vage Ahnung?«, bohrte Brechtesloh nach.
Endlich wurde Friedrich Klemens gesprächiger. Einer seiner Lakaien sei bei den persönlichen Gegenständen des französischen Agenten auf eine handschriftliche Notiz gestoßen und habe diese mit einem Umschlag in Verbindung gebracht. Allem Anschein nach sollte dieser Umschlag einem »LDP« am 14. Mai übergeben werden. Gemäß Gästebuch war der einzige Hotelgast mit diesem Kürzel Laurenz Darius Palanti. Klemens bekräftigte, dass dies ein zureichender Hinweis sei, ihn beschatten zu lassen.
»Palanti? Das ist Unfug«, sagte Brechtesloh. »Wir haben ihn umfassend überprüft. Seine Interessen gelten allein einer profitablen Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich. Er würde nie die Hand beißen, die ihn füttert.«
»Falls Ihre Personenüberprüfung standhält«, sagte Klemens kleinlaut.
Brechtesloh überhörte es. »Was war in diesem Umschlag?«
»Tabellen mit Zahlen und Buchstaben. Nicu vermutet, es sind Chiffrekarten.«
»Chiffrekarten des französischen Nachrichtendienstes? Und Sie haben es nicht für nötig befunden, uns diese auszuhändigen?« Brechtesloh hob die Augenbrauen und die Stimme. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Werden Sie auf Ihre alten Tage hin …« Er brach ab, räusperte sich und fuhr in gemessenerem Tonfall fort: »Oberst, beschaffen Sie sich umgehend die Chiffrekarten bei Klemens’ Mitarbeiter. Die Dame wird von Palanti abgezogen und Ihrer Zielperson zugeteilt.«
»Jawohl, Generalleutnant!« Fürstenfeldt verließ das Büro, und noch bevor die Tür den Schall aussperrte, hörte er Brechtesloh sagen: »Herr Klemens. Wir müssen uns ernsthaft über unsere Zusammenarbeit unterhalten.«
Fürstenfeldt fand, dass Brechtesloh Klemens unrecht tat. Immerhin hatte Klemens wertvolle Dienste für ihre Mission geleistet. Er war einflussreich, ambitioniert und, was am meisten zählte, deutschgesinnt. Er hatte Brechtesloh den Zugang zu den richtigen Amtsinhabern eröffnet. Freilich hatte er keinen Sinn für nachrichtendienstliche Belange bewiesen, und er war auch kein Soldat, aber Brechtesloh hatte auch keinen Haudegen aus der alten Eidgenossenschaft gesucht. Der Generalleutnant hatte jemanden gebraucht, der ihm einen Weg durch die Schweiz ebnete. Klemens seinerseits würde bei ihrem Arrangement auch nicht leer ausgehen. Er selbst war einer der Partner mit den lukrativsten Verträgen. Ein Heer musste versorgt werden. Leicht zu transportierende, haltbare und nahrhafte Verpflegung war gefragt. Exakt das, was Klemens’ Fabriken herstellten.
Der Schweizer Preuße leitete die »Klemens Schokolade« in der dritten Generation. Sein Großvater hatte das Unternehmen 1847 in Fribourg von null auf aufgebaut. Sein Vater hatte es zu einer Fabrikkette erweitert. Sehr viel konnte Friedrich bisher nicht zur Firmenentwicklung beitragen, wenngleich er einen Liefervertrag mit der Schweizer Armee für die Militärschokolade zustande gebracht hatte, was besser klang, als es tatsächlich war. Er musste sich den Markt mit einigen Mitbewerbern wie Lindt, Tobler, Frey und Suchard teilen. Am Ende war es kaum mehr von Bedeutung.
Die Schweizer Schokoladenindustrie war dermaßen reglementiert, dass kein großes Wachstum eines einzelnen Betriebs mehr möglich war. So hatte Klemens sein Angebot diversifiziert, indem er weitere Lebensmittelbetriebe aufgekauft hatte, die über die Schokoladenproduktion hinausgingen. Ein Milchpulverbetrieb in Biel, eine Mosterei im Kanton Thurgau und eine Kirschbrennerei im Fricktal. Dennoch blieb er mit seinen bisherigen Leistungen hinter seinen Ahnen zurück. Nun, im Alter von siebzig Jahren, wollte er der Welt noch etwas hinterlassen, und zwar mehr als bloß eine Bronzestatue vor der Hauptfabrik. So setzte er alles daran, den Generalleutnant bei seinem Unterfangen zu unterstützen und als Gegenleistung den Liefervertrag für die Verpflegung des deutschkaiserlichen Heers abzuschließen. Klemens würde seine Fabriken ausbauen müssen, und »Klemens Schokolade« würde einen Wachstumsschub erfahren wie nie zuvor. Getreu Klemens’ Motto: »Das Leben muss wie ein Vektor sein, kraftvoll ausgerichtet auf ein Ziel.«
Fürstenfeldt stieg die Treppen ins Dachgeschoss empor und polterte an die Tür der Kammer von Klemens’ Schergen. Der Große öffnete ihm mit verschlafenem Blick.
»Herr Oberst«, empfing er ihn und nahm, so gut es unter der niedrigen Dachschräge möglich war, Haltung an.
Fürstenfeldt trat ein. Die Luft roch ranzig, obwohl das Giebelfenster geöffnet war. Auf dem zweiten Bett lag der Rumäne und schnarchte. Auf der Brust hielt er ein aufgeschlagenes Buch. Er hatte gelesen, wer hätte das für möglich gehalten?
»Weck den auf!«
Der Große trat unsanft gegen die Matratze. »He! Besuch.«
Der Rumäne schrak hoch. Während er sich noch den Schlaf aus den Augen rieb, trat Fürstenfeldt ans Fenster. Eine prächtige Aussicht auf den See, man überblickte von hier aus sogar über die Bäume hinweg das gesamte Seetal. Natürlich!, konstatierte Fürstenfeldt. Er riss sich von der Aussicht los. »Erstens. Palanti ist nicht der Spion. Also lasst ihn zufrieden!«
»Aber –«, versuchte es der Rumäne.
»Nicht! Der! Spion! Klar? Also lasst von ihm ab, bevor ihr noch etwas Dummes anstellt! Was wir hier jetzt nicht gebrauchen können, ist jemand, der Dummheiten anstellt.«
»Wir tun nur unsere Arbeit.«
Fürstenfeldt maß ihn mit einem langen Blick. »Ich denke, ich habe mich klar ausgedrückt.«
»Jawohl!«, antwortete der Große für sie beide.
»Zweitens. Klemens hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass Sie im Besitz von Chiffrekarten sind.«
»Ja, ich. Ich bin im Besitz.« Der Rumäne griff nach dem Stapel Bücher auf dem Nachttischchen. Nahm ein Buch nach dem anderen und warf es aufs Bett. Als er damit durch war, öffnete er die Schublade und wühlte hastig darin herum, sein Gesicht schien sich zu erhitzen.
Ernsthaft? Hat er die Codekarten verschlampt?
Der Rumäne blickte unter das Bett, steckte die Hände unter die Matratze, wurde unruhiger. Er durchwühlte den Wäschestapel im Schrank. Dann blieb er mit einem vorwurfsvollen Blick auf den Großen gerichtet stehen.
»Was schaust du mich so an?«, fragte dieser.
»Wo hast du das Buch?«
»Was soll ich denn mit einem Buch?«
»Das rote Gedichtbuch des Franzosen.«
»Ihnen ist schon klar, wie wichtig für uns die Codes sind?«, machte Fürstenfeldt ihm Beine.
»Aber gewiss.«
»Ich hab sie nicht«, sage der Große.
Der Rumäne überlegte. »Das muss der Spion gewesen sein. Palanti ist hier eingebrochen.«
»Vergessen Sie diesen Palanti!«, sagte Fürstenfeldt. »Finden Sie die Karten!« Damit verließ er die Kammer.
Sie hatten es vergeigt. Schwachköpfe! Alle beide!
***
Carl begab sich auf sein Zimmer, zog sich die Leinenhosen und die bequemen Schuhe an und verließ das Grandhotel durch den Hinterausgang. Hinter dem Hotel gab es einen steilen Aufstieg, der im Zickzack den Hügel hinaufführte. »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper« war Carls Mantra, als er den Pfad emporrannte.
Die Deutschen wollten ihn. Nicht nur das Rekuperationssystem oder den Reichweitenverlängerer. Auch nicht nur das Konzept der vereinfachten Bauteile. Nicht nur den Radnabenmotor, oder was Carl sonst noch entwickelte. Sie wollten das ganze Paket. Die Deutschen wollten ihn als Person!
Carl rannte zu schnell, zu verbissen. Noch ein paar Meter und dann noch ein paar, trieb er sich an. Er schlug ein ums andere Mal mit den Schuhen an vorstehenden Wurzeln an und hastete wie ein Besessener.
Einerseits war dieses Arrangement die perfekte Gelegenheit, die Schulden der Dädalus-Werke zu tilgen. Mehr noch, er könnte dadurch die Fabrik vergrößern und ihr Angebot erweitern. So wie Fürstenfeldt ihm versprochen hatte, könnte er die Techniken, die er entwickelte, für die Dädalus-Werke verwenden. Ihm sollte sogar noch eine Mannschaft zur Verfügung gestellt werden. Bald könnte sein »Automobil für das Volk« mehr sein als ein bloßer Traum. Es würde ihm Tür und Tor öffnen, eine günstige Massenproduktion zu realisieren.
Er keuchte. Musste seinen Schritt verlangsamen.
Andererseits aber: Das Arrangement würde eine Abwesenheit von mehreren Jahren bedeuten. Es bot sich ihm ein Abenteuer an, gewiss, und sein Vater könnte in der Zeit die Dädalus-Werke leiten. Aber war es die einzige Lösung – die Fabrik verlassen, um sie zu retten? Carl war noch nicht überzeugt. Was, wenn sich ihm am Kongress noch andere Möglichkeiten eröffneten? Bessere? Beispielsweise durch Brown und Boveri. Oder durch jemanden der anderen einhundertzwanzig Mitglieder der Orion-Gesellschaft. Carl musste sich bei Fürstenfeldt mehr Bedenkzeit ausbedingen. Am besten bis nach dem Kongress, damit er alle sich ihm bietenden Optionen prüfen konnte.
Carls Ausdauer schwand. Er hatte sich verausgabt. Er hielt an und stützte sich an einer Föhre ab, rang wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.
Fürstenfeldt war ein ausgeschlafener Kerl. Geübt in Verhandlungen. Er hatte ein Interesse, ihn so schnell wie möglich an sich zu binden, bevor Carl noch ein besseres Angebot unterbreitet wurde. Er würde auf den einen Tag Bedenkfrist bestehen und morgen einen Entscheid verlangen. Womöglich unter der Androhung, sein Angebot zurückzuziehen. Carl musste standhaft bleiben. Er war am längeren Hebel, schließlich hatte Fürstenfeldt durchblicken lassen, dass sein Interesse an Carl aufrichtig war.
Selbst schuld, wenn er sein Angebot zurückzieht.
Carl musste nur geschickt verhandeln, auch wenn das Verhandeln nicht gerade seine Stärke war. Aber Probleme zu lösen, war seine Stärke, und hier handelte es sich schließlich um ein Problem. Kein technisches, aber eines hatten alle Probleme gemein: Zur Lösung brauchte es Informationen. Und zu Fürstenfeldts Angebot lagen Carl noch viel zu wenige Informationen vor. Er musste sich zuerst über die ADLER Elektrizitätsgesellschaft erkundigen. Beim Diner heute Abend würde er herumfragen, wer Fürstenfeldt war. Welchen Ruf er genoss.
Allmählich beruhigte sich sein Atem wieder. Er schaute auf, und die Aussicht, die sich ihm bot, war phantastisch. Hinter sich, längs über den See, sah er Interlaken und sich auftürmende Regenwolken. Quer über den See lag Brienz mit seinen pittoresken Chalets. Das Dorf war vom Hotel her gar nicht zu sehen.
Er rannte weiter. Der Pfad wurde flacher. Unter ihm zog die Aare eine braune Spur von Sedimenten weit in den türkisfarbenen See. Die gute alte Aare, an der er aufgewachsen war, an deren Ufern er als Kind schon gespielt hatte und noch heute laufen ging. Kaum zu glauben, dass es derselbe Fluss war, der unter ihm in den See mündete.
Im Polytechnikum wurde den Studenten beigebracht, dass, wenn zwei Flüsse sich vereinten, der folgende Fluss den Namen des wasserreicheren Zuflusses erhielt. Bei der Aare verhielt es sich anders. Beim aargauischen Koblenz mündete die Aare in den Rhein. Sie führte aber mehr Wasser als der Rhein. Per Definition mündete also der Rhein in die Aare. Nicht »Vater Rhein«, sondern »Mutter Aare« wäre folglich durch Basel geflossen. Köln an der Aare hätte es heißen müssen. Die Aare mündete bei Rotterdam in die Nordsee. Ein interessanter Gedanke. Carl fragte sich, wieso sich wohl der Rhein durchgesetzt hatte.
Plötzlich blieb er stehen. Eine andere Erinnerung ergriff ihn, die sich ebenfalls an der Aare abgespielt hatte. Es war vor gut einem Jahr gewesen, als er geschäftlich in Aarau zu tun gehabt hatte. Er hatte nach erfolgreichen Kundengesprächen noch etwas an der Promenade spazieren gehen wollen und war Heléne begegnet. Im Grunde genommen war es nicht gerade eine Begegnung. Als er sie aus einiger Entfernung erkannt hatte, blieb er stehen und beobachtete, wie sie sich mit zwei Kindern abgab, einem Jungen und einem Mädchen. Heléne war Mutter geworden. Beide hatten ihren blonden Krauskopf geerbt. Carl riss sich von dem Anblick los und ging davon, noch bevor sie ihn entdecken konnte. Sie hatte zufrieden gewirkt mit ihren Kleinen. Wie hätten wohl Carls Kinder ausgesehen?
Carl und Heléne waren sich auf einem Tanzfest begegnet. Sie hatten etwas zusammen getrunken, und Heléne hatte ihn schließlich zum Tanz aufgefordert. Carl hatte sich bis auf die Knochen blamiert, sein Rhythmusgefühl entsprach viel mehr dem eines Mathematikers denn dem eines Tänzers. Aber es war ihm einerlei. Heléne hatte so herzhaft gelacht, dass er erst mit seinen Tanzversuchen aufhörte, als ihm die Luft ausging. Anschließend gingen sie spazieren. Unter denselben Weiden an der Aarepromenade, wo er sie sieben Jahre später mit ihren Kindern sehen sollte.
In den Tagen nach dem Tanzfest hatten sie sich immer wieder getroffen und wurden schließlich ein Paar. Sie war die Liebe seines Lebens, er wusste es von Anfang an. Es war so leicht, er war bereit, alles mit ihr zu teilen. Nach wenigen Monaten entschied er, ihr den Antrag zu machen, noch nie war er sich in etwas so sicher gewesen. Er wollte mit ihr Kinder haben, sein Leben mit ihr verbringen und mit ihr alt werden, zögerte aber noch einige Zeit, bis er sich getraute, sie zu fragen. Sie bejahte, ohne nachdenken zu müssen, und stieß einen Jauchzer aus. Nie war das Leben besser als in diesem Augenblick! Sie beschlossen, ihr Geheimnis noch etwas für sich zu behalten.
Doch es kam nie dazu. Helénes bürgerliche Eltern führten eine Stofffabrik und hatten andere Pläne mit ihr. Sie wollten ihre Tochter wenn möglich über Stande verheiraten. Da konnte Carl nicht mit Bert Iten aus dem Hause einer Maschinenfabrikdynastie mithalten. Es folgte die Vermählung, die Helénes Familie tatsächlich den erwarteten Auftrieb bescherte.
Carl scharrte mit seinen Schuhen in den braunen Tannnadeln auf dem Hügel über dem Brienzersee. Es schmerzte noch immer, selbst nach fünf Jahren. Sie war ihm entrissen worden.
Heléne hatte sich besser in ihr Schicksal gefügt als er. Bestimmt hatte auch sie anfangs unter dieser grausamen Entscheidung gelitten, musste aber schneller als Carl damit klargekommen sein. Seine Versuche zur Kontaktaufnahme wurden verhindert. Seine Briefe blieben unbeantwortet. Sie hatten sich nie aussprechen können. Er hatte nie erfahren, wie es ihr ergangen war. Die Erinnerungen an sie schnürten ihm noch lange die Kehle zu. Er lernte sie mit der Zeit zu verdrängen. Richtig verarbeitet hatte er all dies wohl nie. Dachte auch sie noch mit Wehmut zurück? Er bereute es noch heute, nichts unternommen zu haben. Anstatt um sie zu kämpfen, hatte er nur mit ohnmächtigem Unglauben zugeschaut. Er hätte mit ihr durchbrennen sollen!
Doch war es nicht besser so? Vernünftiger? Nur, dass er auf der Strecke geblieben war.
Wie ließ man seine Liebe los? Geschah es einfach so, indem man sie und die Erinnerungen nach und nach verblassen ließ? Was, wenn sie nicht verblassten, wie es bei Carl der Fall war? Es gab keine Lehrbücher dazu. Keine Tabellen oder Graphen, in denen man herauslesen konnte, wie man jemanden losließ. Keine Konstruktionspläne, auf denen man Gedanken neu ordnete oder wie schlecht funktionierende Teile ersetzte. Doch wenn er so darüber nachdachte, gelangte Carl immer wieder zum selben Schluss: Er wollte seine Erinnerungen an Heléne gar nicht loslassen. Da lag der Hund begraben.
***
Amanda hatte die perfekte Gelegenheit verpasst, diesen Palanti loszuwerden.
Er hatte am Vormittag die Referate verlassen, noch bevor sie zu Ende gewesen waren. Irgendetwas musste ihn dermaßen aufgebracht haben, dass er wutentbrannt am Salon und an ihr vorbeigestampft war und sie nicht einmal bemerkt hatte. Sie hatte sich gehütet, ihm nachzugehen, solange er in dieser Verfassung war. Als sie nach dem Mittagessen aber noch immer nichts von ihm gehört hatte, beschloss sie, ihn zu suchen. Sie fand ihn im Park unter einem schmiedeeisernen und von gelben Rosen umrankten Bogen auf einer Bank sitzen. Er hatte sich wieder beruhigt und kasperte mit einer üppigen Dirne in eng geschnürtem Mieder herum.
Hat der sich eine Neue geschnappt? Nicht mit mir, mein Lieber!
Gewiss, aus rein persönlicher Sicht war ihr Palanti herzlich egal. Aber sie würde ihren Auftrag auf keinen Fall an eine andere verlieren. Es galt nun, ihn zurückzuerobern, und es würde ein Leichtes sein, denn sie hatte einen Trumpf im Ärmel: Sie wusste, was Palanti wirklich wollte. Und so wie die billige Dirne ihn mit devotem Hundeblick ansah, wusste diese das nicht. Amanda besuchte die Stallungen und fand etwas ganz Besonderes. Etwas, was Palanti große Freude bereiten würde. Nebenbei schonte es auch ihre Hand.
Mit resoluten Schritten stampfte sie zum Rosenhain. »Hier steckst du also, Laurenz, du ungezogener Bengel!«
Palanti erschrak.
Zu seiner Begleitung sagte sie: »Du, verzieh dich! Das ist mein Junge.« Um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen, ließ Amanda die Reitgerte durch die Luft zischen, was bei der Dirne Wirkung zeigte. Sie raffte ihre Röcke und suchte das Weite. Palanti seinerseits war aufgesprungen wie eine gespannte Feder und stand mit Glanz in den Augen da. Fasziniert betastete er die lederne Rute und sagte: »Nicht hier. Ziehen wir uns in mein Gemach zurück!«
Hätte sie es doch bloß gut sein lassen, so vieles wäre ihr erspart geblieben. Als sie fertig waren, war Palanti zufrieden eingeschlafen. Amanda hatte sein Zimmer verlassen und war die Treppe zum Vestibül hinabgestiegen.
»Fräulein Amanda!«
Zwei Stockwerke über ihr sah sie Nicus Gesicht mit dem schmalen Schnauzer über das Treppengeländer gebeugt. »Warten Sie, ich muss Ihnen etwas mitteilen.«
Während sie seine hastigen, durch einen Teppich gedämpften Schritte näher kommen hörte, setzte sie ihren Weg langsam fort. Eine alte Gewohnheit, Treppen, wenn möglich, zu meiden – noch aus der Zeit, als sie Reifröcke und Korsetts trug. Gleichzeitig kamen sie auf sicherem Boden in der hohen Eingangshalle an. Nicu betrachtete sie unverhohlen von oben bis unten.
»Was ist denn so dringend?«
Er senkte den Blick. »Fräulein Amanda, Klemens möchte Sie sprechen.«
»Worum geht es?«
»Das will er ihnen selber erklären.«
Amanda wollte sich auf das Gespräch vorbereiten können und nicht vor Tatsachen gestellt werden. »Kommen Sie, Nicu, klären Sie mich auf.« Sie sah ihm tief in die Augen.
Bei ihm hatte sie so leichtes Spiel, nach nur einem Augenblick packte er aus. »Er meint, Palanti ist nicht der Spion.«
»Wieso plötzlich?«
»Wegen den Deutschen. Sie sind überzeugt, dass aufgrund ihrer eigenen Personenüberprüfung Palanti nicht in Frage kommt.« Nicu straffte sich. »Aber wenn Sie mich fragen, ist das erst recht ein Beweis, dass Palanti ein ausgefuchster Spion ist. Wer sonst kann einer Überprüfung der Deutschen standhalten?«
»Meinen Sie?« Amanda war wenig überzeugt.
»Ich weiß es, Fräulein Amanda. In den Sachen vom Franzosen habe ich Codekarten gefunden, um Telegramme zu verschlüsseln. Spionagezeugs, Sie wissen schon. Sie waren für Palanti vorgesehen. ›LDP‹.«
Amanda ließ Nicu zurück und traf Klemens in seinem Büro an. Er erklärte ihr, wie von Nicu bereits angekündigt, dass sie von Palanti ablassen sollte. Als ob dies das Einfachste der Welt wäre. Schalter ein, Schalter aus.
»Und da nun Ihre Kapazitäten damit wieder frei sind, habe ich eine neue Zielperson für Sie«, sagte er. Er weihte sie in die Details ihres neuen Auftrags ein, und Amanda gewann den Eindruck, als stehe er nicht mit voller Überzeugung dahinter. Es schien ihr, als müsse er sich jemandem beugen. Steckten da die Deutschen dahinter? Waren sie mehr als gewöhnliche Gäste auf diesem Kongress?
»Carl Lohser. Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Klemens.
»Der junge Tüftler.«
»Loten Sie seine Schwächen aus. Wie sieht seine familiäre Lage aus? Was sind seine Vorlieben im Schlafgemach?«, erklärte er ihr ihre Arbeit. »Entlocken Sie ihm seine dunkelsten Geheimnisse. Finden Sie Wissenswertes über seine Manufaktur heraus. Technische Einzelheiten seiner Erfindungen. Kurz: Suchen Sie nach etwas, womit man ihm Druck machen kann.«
»Verstanden, Herr Dr. Klemens.«
»Sie werden weiterhin mir Bericht erstatten«, betonte er, und mit den Worten »Das ist dann alles« entließ er sie wieder.
Zumindest handelte es sich dieses Mal nicht um einen bewaffneten Spion. Amanda war wieder auf sicherem Terrain. Aber sie hatte jetzt ein Problem: Ein Stelldichein ließ sich nicht so schnell wieder einstellen. Sie konnte Palanti ja kaum sagen, dass ihr Auftrag bei ihm beendet sei und sie bei jemand anderem Kontakt aufbauen müsse. Man musste einen Abbruch sehr sorgfältig aufgleisen, sich Zeit lassen, Gelegenheiten abwarten. Wie ärgerlich, dass sie die beste Gelegenheit eben gerade vertan hatte. Sie hätte Palanti sich einfach mit der Dirne beschäftigen lassen sollen. Zurückweisungen, Eifersucht und Verlangen entfachten mächtige Empfindungen, mit denen man nicht leichtsinnig umging. Sie bargen die Gefahr, dass das Ganze auf ein Drama biblischen Ausmaßes hinauslief. Das Spiel mit dem Feuer hatte seine Regeln.
Aber Klemens verließ sich auf sie. Sie hatte seinen Auftrag unmöglich zurückweisen können. Wie hätte sie dagestanden? Mehr noch, wie hätte er vor den Deutschen dagestanden, die ja offenkundig dahintersteckten? Klemens musste von Amanda erwarten können, dass sie sich um die Details kümmerte.
Wenn hier doch bloß nicht ein solcher Zeitdruck herrschen würde. Lohser war jetzt der dritte Auftrag innerhalb von drei Tagen. Bei den Aufträgen, die sie vor dem Kongress erledigt hatte, waren ihr immer mehrere Tage Zeit geblieben, die Sache sauber abzuschließen. Ein klärendes Gespräch, ein inszenierter Streit. Einige verloren auch ganz von selbst das Interesse an ihr, denn Amanda konnte sich auch langweilig geben, wenn es sein musste. Wenn ihre Zielperson in einer anderen Stadt wohnte und sie nicht zu befürchten hatte, ihr so bald wieder über den Weg zu laufen, konnte sie es sich auch erlauben, einfach ohne Nachricht aus deren Leben zu verschwinden. Aber hier in der Abgeschiedenheit des Grandhotels Giessbach war es beinahe unumgänglich, dass der Verlassene ihr allenthalben begegnete. Auch dann, wenn sie mit ihrem neuen Auftrag unterwegs war. Ja, er könnte auch plötzlich vor ihrer Zimmertür stehen.
Sie ging ihre Optionen durch. Sie konnte dafür sorgen, dass Palanti sein Interesse an ihr verlor und er sie von sich aus freigab. Nach ihrer Darbietung an diesem Vormittag würde ihr dies aber kaum mehr gelingen.
Option Nummer zwei: die Ehefrau – nein, es war keine Option, an sein Gewissen zu appellieren, was wohl seine Frau von ihrem Techtelmechtel halten würde. Es war zwar der wunde Punkt bei den verheirateten Freiern, aber in die Ecke gedrängt reagierten sie bisweilen unerwartet heftig. Zudem widersprach es dem Verhaltenskodex einer jeden Kurtisane, das Thema Ehefrau anzusprechen.
Option Nummer drei: eine Konfrontation zwischen Palanti und Lohser. Es war Lohsers Referat gewesen, das Palanti wutentbrannt verlassen hatte. Die beiden waren folglich nicht gerade die besten Freunde. Wenn sie ihre Karten geschickt ausspielte, könnte sie Palanti so dazu bringen, sie gehen zu lassen. Ob Lohser als Sieger oder Verlierer daraus hervorging, war einerlei. So oder so wäre es eine Gelegenheit, eine Bindung zu ihm aufzubauen, was sie in die Lage brächte, ihm Vertraulichkeiten zu entlocken. Ein kalter Schauer lief Amanda über den Rücken. Ein niederträchtiger Gedanke. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie wünschte sich, sie wäre jetzt zu Hause und hätte mit alldem nichts zu tun.
Dabei schien dieser Carl Lohser gar kein übler Zeitgenosse zu sein. Sie hatte ihm gerne zugesehen, wie er behände an seinem Automobil herumgeschraubt hatte. Und wie er respektvoll mit dem Mechaniker und Mustafa umging. Er schien wie sie nicht so recht an diesen Ort passen zu wollen, der durch die Anwesenheit der Patrons und leichten Mädchen von Dekadenz und Profitgier regelrecht durchwirkt war. Unter anderen Umständen hätte sich Amanda sogar darauf gefreut, den adretten Herren kennenzulernen.
Sie machte sich auf den Weg zum Salon.
»Sie lächeln.« Es war Mustafa, der an sie herantrat. »Was hat denn Ihnen den Tag versüßt?«
Hatte sie wirklich gelächelt? Amanda wurde schlagartig wieder ernst.
»Im Grunde genommen ist mir gar nicht nach Lächeln.«
»Was plagt Sie denn? Erzählen Sie es einem gelangweilten Barmann.«
»Sie wissen schon, dies und das.«
»Das kenne ich. Dies und das hat mir auch schon den Schlaf geraubt«, kommentierte er, was ihr ein erneutes Lächeln entlockte.
»Wie geht es Ihrer Hand?«, fragte er mit einem anzüglichen Augenzwinkern.
»Bringen Sie mir wieder einen köstlichen Lindenblütentee?«
»Mit Freuden, Fräulein Amanda.«
Als er mit der dampfenden Teekanne zurückkam, wirkte Mustafa, als schien er regelrecht mit einer Entscheidung zu ringen. »Der Mann, den Sie vorgestern begleitet haben, Sie wissen schon, der mit der Narbe«, begann er.
Trusseau! Er interessierte sich für Trusseau! Amandas Gedanken überschlugen sich, und sie spürte, wie sie sich versteifte. Er wusste etwas! Wusste er von ihren Verstrickungen in seinen Tod? Es erforderte all ihre Kraft, eine ausdruckslose Miene zu wahren.
»Es … Es ist mir beinahe schon peinlich, Sie mit einer solchen Lappalie zu belästigen. Er hat eine Flasche Bordeaux auf sein Zimmer genommen und sie bis heute nicht bezahlt. Wissen Sie, wann er abgereist ist?« Mustafa sah sie forschend an.
Amanda zwang sich ein Lächeln ab. »Sie wissen doch, Mustafa, die Diskretion.«
»Ach ja, die Diskretion.«
»Unglück macht Menschen, Wohlstand macht Ungeheuer.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte er.
»Na, der reiche Schnösel, der Ihnen eine Flasche Rotwein abgeluchst hat.«
»Da haben Sie wohl recht.«
Mustafa begab sich nachdenklich zum Tresen. Wie gerne hätte Amanda ihm alles offenbart. Ihm erzählt, wie Trusseau mit ihr umgegangen war, wie er zu Tode gekommen war und wie sie sich dabei fühlte. Sie hätte ihm erzählt, welche Probleme ihr bevorstanden, nun, da sie Palanti loswerden musste, um sich um einen anderen zu kümmern, einen guten Mann, der es im Grunde gar nicht verdient hatte, ausgehorcht zu werden. Amanda wünschte im Moment nichts sehnlicher, als Mustafa um Rat zu fragen, was sie in ihrer Lage tun sollte. Freilich, er war ein neugieriger Zeitgenosse, aber auch ein guter Zuhörer. Selbst wenn er sich über ihre Diskretion amüsierte, wusste er ganz genau, wann Zurückhaltung angebracht war. Dennoch war da noch etwas. Es schien Amanda, als ob er ihr etwas über Trusseau verschwieg. Was auch immer das sein mochte.
Mustafa kam zurück an ihren Tisch unter dem Puttenengelchen an der Decke und stellte einen Teller mit drei Keksen neben die Teekanne. »Woher haben Sie den Spruch?«, fragte er.
»Welchen Spruch?«
»Den mit dem Wohlstand, der Ungeheuer macht.«
»Das ist ein Zitat aus ›Die Elenden‹«, klärte Amanda ihn auf.
»›Les Misérables‹«, überlegte Mustafa. Amanda meinte die Rädchen in seinem Hirn drehen zu hören.
Wie von einer Hornisse gestochen, verließ er den Salon.
***
Es war zum Mäusemelken. Nicu hatte gesucht und gesucht, aber die Chiffrekarten waren nicht mehr aufgetaucht. Es blieb nur ein Schluss: Der Spion musste sie aus seiner Kammer entwendet haben. Alle konnten sagen, was sie wollten. Aber Nicu war noch immer davon überzeugt, dass Palanti der Spion sein musste. Wie würden sie ihn bewundern, wenn er ihnen den Beweis auf den Tisch knallen konnte. Er, der Einzige, der Palantis Charade durchschaut hatte und standhaft geblieben war.
Dieser Palanti war gerissen. Nicu hatte noch immer nichts gegen ihn in der Hand. Es sei denn, dieser Barmann Mustafa steckte mit Palanti unter einer Decke. Es war naheliegend. Mustafa hatte einen französischen Ausdruck benutzt, ein Zeichen, dass er Umgang mit einem Franzosen pflegen musste. Nicu hatte in seiner Kindheit ja auch Deutsch gelernt, indem er den Schweizern beim Reden zugehört und einige Redensarten übernommen hatte. Mustafa würde ihn zum französischen Spion führen, da war sich Nicu sicher. Dann war Palanti entlarvt.
Er wollte sich den Barmann etwas genauer unter die Lupe nehmen und brachte sich im Flur vor dem Salon in Stellung. Amanda saß da, in ihrer ganzen Vollkommenheit. Mustafa unterhielt sich mit ihr, und sie lachte.
Dann plötzlich stürmte Mustafa an Nicu vorbei. Nicu folgte ihm unauffällig bis zu einer Tür, auf der »Bibliothek« geschrieben stand. Mustafa trat schnurstracks ein. Nicu blieb stehen und ließ einen Moment verstreichen, bevor er ihm durch die Tür folgte. Die Hotelbibliothek war größer, als man erwartet hätte. Mehrere voll bestückte Regale ragten in den Raum hinein. Neben dem Eingang stand ein Tisch mit einem alten Männlein, das ihn misstrauisch beäugte. Nach einem Augenblick senkte es den Kopf wieder und trug den Roman des ihm gegenüberstehenden Kongressteilnehmers in das Bibliotheksbuch ein.
Nicu begab sich zu den Regalen, wo drei weitere Männer im Angebot stöberten. Einer von ihnen war Mustafa, der wirkte, als suche er nach einem bestimmten Buch.
Nicu positionierte sich so, dass es aussah, als überschaute er ebenfalls das Angebot. Zwischen den Regalböden und Büchern hindurch beobachtete er, wie Mustafa fündig wurde und sich ein schmales Buch unter sein Gewand in die Hose steckte. Es war schnell gegangen, aber Nicu hatte den Titel gerade noch entziffern können. »Les Misérables«. Danach tat Mustafa so, als ob er weitersuchen würde, und ging uninteressiert die restlichen Regale durch. Als er fertig war, begab er sich am Bibliothekar vorbei zur Tür.
»Sind Sie nicht fündig geworden, Herr Mustafa?«, fragte der Bibliothekar mit dünner Stimme.
»Leider nicht.«
»Kann ich Ihnen womöglich helfen?«
»Danke, das wird nicht nötig sein.« Damit verließ er den Raum.
Nicu eilte ihm nach. Er durfte seine Spur nicht verlieren. Gerade als er im Begriff war, den Raum zu verlassen, hielt ihn der Bibliothekar auf und linste über seine Brillengläser. »Bitte entleeren Sie Ihre Säcke hier auf den Tisch!« Im Reich der Bücher hatte er das Sagen. Nicu zögerte.
»Das ist reine Routine, nichts Persönliches, Herr …«
»Butoi«, gab ihm Nicu Auskunft.
»Herr Butoi.«
Von wegen, nichts Persönliches. Trotz seines feinen Anzugs sahen alle nur Nicus Vergangenheit auf der Straße. Es hatte keinen Zweck, sich der Durchsuchung zu widersetzen, er wollte nicht zu viel Aufsehen erregen. Schließlich handelte er nur auf Verdacht. Er entleerte die Hosensäcke, legte Taschentuch, Münzen, ein Klappmesser, ein Stück Schnur und einen schönen Kiesel auf den Tisch. Dabei konnte er sich eine schnippische Bemerkung nicht verkneifen: »Sehen Sie, kein Buch geklaut.«
Als er die Bibliothek verließ, gab es von Mustafa keine Spur mehr.
Aber immerhin: »Les Misérables«. Mustafa hatte ein französisches Buch entwendet. Nicus vager Verdacht erhärtete sich. Er würde den Mann weiterhin im Auge behalten.
Nicu hatte in seinem Leben schon öfter erlebt, dass jemand wie er als zweitrangig angesehen wurde. Der Bibliothekar hatte ihm erneut bewiesen, dass sein gepflegter Schnurrbart, das mit Pomade sorgfältig geglättete Haar und der teure Anzug nicht verbargen, dass er von der Straße kam. Was musste er denn noch tun? Musste er geschwollen dahinreden wie die geschniegelten Patrons, oder fehlte ihm dieser herablassende Tonfall, der die Oberschicht auszumachen schien?
Als Nicus Eltern und er in der Schweiz angekommen waren, hatten sie sich in Aussersihl im Westen Zürichs niedergelassen. Das Quartier wurde auch »Chreis Cheib« genannt, in Anlehnung an die Kadaver, die vor der Erstellung der billigen Wohnsiedlungen hier verscharrt worden waren. Der erhoffte Wohlstand stellte sich nicht ein. Die Gastarbeiterfamilie Butoi blieb in diesem Elendsviertel stecken. Nachts drangen gegrölte Lieder durch die Fenster der Wohnung wie auch manches Streitgespräch.
An einem Sonntagabend Ende Juli 1896 – Nicu war fünfzehn Jahre alt, und ihm sprossen die ersten Brusthaare, während der Stimmbruch noch auf sich warten ließ – war er mit seinen beiden portugiesischstämmigen Kumpels José und Julio auf dem Nachhauseweg von einem gewinnbringenden Raubzug durch die Beizen. Die Arbeiter hatten gerade ihren Lohn erhalten und mussten dies gehörig begießen. Plötzlich erschallten wütende Stimmen die Langstraße hoch. Lauter als das gewohnte Gegröle der Betrunkenen. Bedrohlicher.
Die Jungen fürchteten zuerst, es ginge ihnen an den Kragen, weil sie doch einige Geldbeutel aufgeschnitten hatten. Doch es war etwas anderes. Rufe hallten durch die Gassen. Schritte rennender Massen. Dann und wann durchrissen von zerberstendem Glas. Es lag diese Spannung in der Luft, wie sie nur bei Krawallen herrschte, wenn Dutzende ihrem Zorn Ausdruck verliehen. Aus Neugier machten die jungen Taschendiebe kehrt, um nachzusehen, was da vor sich ging. Dutzende von Männern waren damit beschäftigt, ein italienisches Restaurant zu verwüsten. Fensterscheiben wurden eingeworfen, Stühle landeten auf der Straße, das gesamte Inventar wurde kurz und klein geschlagen. Einige machten sich mit Grappa- und Chianti-Flaschen unter den Armen davon. Vier Italiener, die augenscheinlich zum Restaurant gehörten, wurden verprügelt.
Die Jungen beratschlagten sich, ebenfalls hineinzugehen und etwas abzustauben. Vielleicht war die Kasse noch aufzufinden oder auch nur ein Sack Maisgries für Polenta. Die Entscheidung wurde ihnen aber schnell abgenommen, als einer der Randalierer sie entdeckte und rief: »Hier sind noch drei! Gebt den Tschinggen auf den Grind!«
Plötzlich kamen eine Handvoll Männer auf sie zu. Die Jungen gaben Fersengeld. Durch die gewundenen Gassen und Passagen hatten sie die Verfolger bald abgehängt. Danach trafen sie noch auf weitere Unruheherde, die ein ähnliches Schauspiel boten.
Die Randalierer waren Schweizer! Zürcher! Es mussten Hunderte sein, die sich in den Wirtschaften zusammengerottet, sich Mut angesoffen hatten und über die italienischen Bewohner Aussersihls hereinbrachen. Sie verwüsteten Wohnungen und Ladenlokale. Sie verprügelten und beschimpften alles, was wie ein Italiener aussah. Der Rumäne Nicu und die beiden Portugiesen hatten keine Lust, jedem, der auf sie zukam, zu erklären, woher sie stammten. Sie beschlossen, sich in Sicherheit zu bringen.
Die italienischstämmigen Gastarbeiter, die immer zahlreicher geworden waren, waren einigen Zürchern schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Sie gaben ihnen die Schuld, dass das Stadtviertel verfiel. Dazu kam, dass sie für weniger Lohn arbeiteten und bei jeder Gelegenheit als Streikbrecher bereitwillig zur Verfügung standen.
Ein elsässischer Scherenschleifer, der reichlich über den Durst getrunken hatte, hatte sich dermaßen über die Italiener aufgeregt, dass er einen Gehstock nahm und zwei davon niederschlug. Ein dritter, ein italienischer Maurer, setzte sich mit einem Küchenmesser zur Wehr. Der Elsässer starb kurz darauf an den Verletzungen.
In den Wirtshäusern hatte sich tags drauf, ein Sonntag, eine leicht geänderte Geschichte herumgesprochen, nämlich die, dass ein Italiener einen Zürcher erdolcht hatte. Einfach so, hieß es. Das erhitzte die Gemüter so arg, dass sich eine gewaltbereite Gruppe von an die dreihundert Personen zusammenrottete und durch die Straßen zog. »Man muss etwas gegen die täglich vorkommenden ›Excesse‹ der italienischen Messerhelden unternehmen«, hieß es.
Am Montagabend dann versammelten sich sogar an die zehntausend Einwohner Aussersihls und Wiedikons auf den Straßen, unter ihnen auch eine große Zahl an Schaulustigen. Weitere italienische Wirtshäuser und Unterkünfte wurden verwüstet. Die gerade mal fünfundsiebzig Polizisten, die im Einsatz waren, kamen bald selbst in ernsthafte Bedrängnis, sodass das Militär einschreiten musste. Mehrere Personen trugen erhebliche Verletzungen davon. In der Kaserne wurden über hundert Randalierer unter Arrest gestellt.
Für den Dienstagabend wurden zweihundert Polizisten, zwei Füsilier-Bataillone und eine Abteilung der Kavallerie aufgeboten. Doch strömte wiederum eine Meute von um die fünftausend Menschen zusammen und belagerte diesmal die Militärkaserne, in der die Verhafteten untergebracht waren. Erst am Mittwoch war der »Italienerkrawall« beendet, wie er in den Zeitungen genannt wurde. Wenn er auch im Grunde ein Krawall der Aussersihler war. Bei den Verhören gaben viele Angeklagte zu Protokoll, »aus Dummheit zu dem großen Haufen hinzugekommen und zu Ausschreitungen mitgerissen« worden zu sein.
Aus Angst vor weiteren Krawallen, die zu Schäden an den Wohnungen führen könnten, kündigten viele Vermieter den Italienern die Unterkunft. Ebenfalls aus Angst vor den Krawallmachern entließ mancher Baumeister all seine italienischen Gastarbeiter.
Ein paar Tage später versammelten sich viele Schaulustige, und die drei Jungen mischten sich unter die Leute auf der Suche nach etwas, das sie abstauben konnten. Die Leute beobachteten die lange, traurige Prozession von vierhundert Italienern, die all ihre Habseligkeiten gepackt hatten und einen bereitstehenden Sonderzug bestiegen. Sie reisten nach Italien ab – um nie wieder zurückzukehren.