Montag, 16. Mai 1910, Abend
Der erste Kongresstag
An diesem Abend kam Carl deutlich früher vor dem Speisesaal an. Die Türen waren noch nicht geöffnet. Vermutlich wurden in diesem Moment gerade vom Servicepersonal die Tische gedeckt. Carl konnte sich aber auch vorstellen, dass alles schon seit Stunden bereitstand und die Türen aus Prinzip noch nicht geöffnet wurden. Dahinter sah er eine gewisse Absicht, wenn er sich so umblickte, denn er war keineswegs der Erste hier. Der Wartebereich schien sogar recht beliebt zu sein. Die Kongressteilnehmer hatten sich zu zweit oder in kleinen Gruppen zu Gesprächen zusammengefunden. Gewiss wurde bei derlei Gelegenheiten so manches Geschäft in die Wege geleitet.
Er stellte sich an einen Stehtisch, und eine Bedienung reichte ihm ein Gläschen Weißen.
Nun müsste er mit den anwesenden Personen ins Gespräch kommen. Wie bewerkstelligte man dies, ohne dass man sich der Lächerlichkeit preisgab? Eröffnete man das Gespräch mit einem Hinweis auf das Wetter? Oder kam man direkt zur Sache? Ging man auf eine Gruppe zu und beteiligte sich an ihrem Gespräch? Oder wartete man gar, bis jemand auf einen zukam? Was, wenn niemand kam?
Gut zehn Schritte von Carl entfernt stand Charles Eugene Lancelot Brown und unterhielt sich mit zwei Kongressteilnehmern. Mit ihm müsste Carl ins Gespräch kommen. Das konnte doch nicht so schwierig sein, schließlich hatte Brown schon nach dem Referat mit Carl gesprochen. Brown musste Carls Blick gespürt haben, er schaute in seine Richtung. Dann entschuldigte er sich bei seinen Gesprächspartnern und kam mit vorgestreckter Hand auf Carl zu.
»Guten Abend, Herr Lohser. Wahrlich inspirierend, Ihr Fachvortrag heute!«
»Herr Brown. Sie machen mich verlegen«, sagte Carl.
»Sie beschreiten da neue Wege, weit abseits ausgetretener Pfade. Eine Strategie, die ich, wann immer möglich, ebenfalls anstrebe. Was inspiriert Sie, woher nehmen Sie Ihre Ideen?«
Inzwischen hatten sich auch Walter Wyss und Zahnlücke Kandlbaur mit Weißweingläsern und Zigarren bewaffnet zu Carl und Brown gesellt.
»Ich liebe es, in historischen Unterlagen zu schmökern«, antwortete Carl. »Vor zwei-, dreihundert Jahren hatten die Menschen noch ein komplett anderes Denken. Zahnräder und derlei Mechanismen waren noch anders aufgebaut als heute.«
Es stellten sich drei weitere Männer zu ihnen. Nun, da Brown sich mit ihm unterhielt, interessierte man sich plötzlich für Carl.
»Faszinierend!«, ermunterte Brown Carl weiterzusprechen.
»Da Vinci, Leibniz oder auch Johann Bessler haben mit ihrem Erfindergeist großartige Leistungen erbracht.«
»Bessler? Glauben Sie denn an Perpetuum mobiles?«, fragte Kandlbaur, und Carl hätte nicht sagen können, ob er einfach nur damit prahlen wollte, etwas über Johann Bessler zu wissen, oder Carl denunzieren.
»Nein, als jemand, der die Grundlagen der Physik kennt, glaube ich nicht an Perpetua mobilia«, gab Carl zurück. Nicht erbost über die provokative Frage, aber ihm war einfach danach, die korrekte Pluralform deutlich zu betonen. »Das Drehen eines Rades oder das Ausschlagen eines Pendels kann nicht dauernd aufrechterhalten werden ohne zusätzliche Zufuhr von Energie.«
Er wandte sich wieder Brown zu. »Mich interessieren die Mechanismen und wie sie aufgebaut wurden. Bessler als gelernter Uhrmacher hatte neben seinem angeblichen Perpetuum mobile noch eine Reihe anderer Erfindungen gemacht, deren Pläne ich studieren durfte. Dabei konnte ich die eine oder andere Erkenntnis in meine Entwicklungen einfließen lassen. Zum Beispiel ist die Überlastsperre in meiner Nutzbremsung –«
»Was war denn das für ein Perpetuum mobile?«, wollte Wyss wissen. Er stützte sich auf seinen Gehstock mit Messingknauf und blickte gebannt zu Carl hoch.
Das war der Grund, wieso Carl nicht gerne über Bessler sprach. Wenn Bessler auch ein genialer Erfinder gewesen war und Carl zu seiner Arbeit inspirierte, so wollten die Zuhörer doch stets nur etwas über das Perpetuum mobile erfahren. Zu einem ungestörten Gespräch mit Brown würde es hier nicht mehr kommen. Carl musste zusehen, sich beim Diner neben ihn zu setzen. So begann er halt, über das Besslerrad zu dozieren.
Im Jahre 1715 präsentierte Johann Ernst Elias Bessler ein dreieinhalb Meter hohes Rad, das sich unablässig drehte. Tage, Wochen, ja, sie würde sich sogar ewig drehen, diese Wundermaschine, hieß es. Das Rad klickte und klackerte, war aber mit Leinwand bezogen, sodass man sein Inneres nicht sehen konnte. Bessler wollte den geheimen Mechanismus nur gegen die damals aberwitzige Summe von hunderttausend Thalern offenbaren. Das Besslerrad wurde im Schloss des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel aufgebaut, und man ließ es von anerkannten Fachleuten prüfen. Sie versiegelten den Raum, und als sie nach zwei Monaten zurückkehrten, fanden sie das Rad noch immer in Bewegung. Den Mechanismus bekamen aber auch sie nicht zu Gesicht. Bessler wurden Ruhm und Ehre zuteil. Als dann aber neue Begutachter hinzukamen, die etwas zu neugierig wurden, zerstörte er sein Rad in einem Wutanfall. Einige Zeit später gestand eine ehemalige Magd Besslers, das Rad sei aus dem Nebenzimmer mittels eines verborgenen Seilzugs angetrieben worden. Damit war es um Besslers große Zeit geschehen.
»So schnell kann es gehen, und dein Ruf ist versaut«, sinnierte Wyss.
»Klingt für mich etwas zu banal, die Behauptung der Magd«, meinte Brown.
»In einer Gesellschaft, in der es reichte, eine berühmte Person mit einer banalen Geschichte über einen Seilzug in Verruf zu bringen, war es auch möglich, die Leute mit einem ausgeklügelten Mechanismus an ein Perpetuum mobile glauben zu lassen. Bessler war ein genialer Gauner mit der Begabung, die Leichtgläubigkeit der Leute auszunutzen, um Berühmtheit und Reichtum zu erlangen.«
»Was meinen Sie, Carl, wie hat das Besslerrad funktioniert?«, fragte Brown.
»An den besagten Antriebsriemen aus dem Nebenzimmer glaube ich nicht. Das hätte den Fachleuten, die das Rad untersucht hatten, doch zuerst auffallen müssen. Aber ein Gedanke fasziniert mich: Was hätten die Leute vor zweihundert Jahren von einer Dampfmaschine oder einem Elektromotor gehalten?«
»Sie verstanden das Prinzip nicht. Sie hätten es für ein Perpetuum mobile gehalten!«, stieg Brown in Carls Überlegung mit ein.
»Sie meinen, Bessler hatte den Elektromotor erfunden?« Kandlbaur war skeptisch.
»Nur ein Gedankenspiel. Was braucht es für einen einfachen Elektromotor? Kupferdraht, Magnete, nichts, was es zu der Zeit nicht schon gab.«
»Außer Strom«, sagte Zahnlücke.
»Ich mache Ihnen aus einer Kartoffel, einem Kupferstab und einem Zinkstab in zwei Sekunden eine Batterie.«
»Bessler hätte nur regelmäßig seine Kartoffeln austauschen müssen«, rundete Wyss die Überlegung ab.
»Interessanter Gedanke!«, meinte Brown. »Nun, ich denke, wir sollten langsam.«
Carl hatte gar nicht bemerkt, dass sich in der Zwischenzeit die Türen zum Speisesaal geöffnet hatten und die Männer hineinströmten. Sie gerieten in ein Gedränge. Es schien, als wollte jeder einen strategisch geschickten Platz am Table d’Hôte ergattern. Für Carl erübrigte sich die Jagd, da er schon in der Gesellschaft Charles Browns war.
Als er die Anstehenden betrachtete, fielen ihm sofort die herausgeputzten Damen auf, die in der Herde der älteren Männer herausstachen wie Pfauen unter Löwen. »Ich dachte, Frauen ist die Teilnahme am Kongress untersagt?«, wandte er sich an Brown.
»Den Ehefrauen«, präzisierte dieser. »Doch man beschloss, dass an den offiziellen Anlässen ein wenig weibliche Gesellschaft nicht schadete.«
»Sind denn das alles … Sie wissen schon …« Carl stockte. »Bezahlte?«
»Begleiterinnen. Sie lockern die Stimmung auf und lassen die Männer auch über andere Dinge sprechen als bloß übers Geschäft.«
»Sind es nicht die Damen, die aus den Herren das Beste herauszuholen vermögen?«, philosophierte Wyss. Es war Carl gar nicht aufgefallen, dass er sich hinter ihnen angestellt hatte.
»Und auch das Schlechteste!« Kandlbaur hatte sich ihnen ebenfalls angeschlossen.
Der Strom floss langsam ab und ergoss sich in den Speisesaal. Plötzlich ging alles schnell. Carl verlor Brown aus den Augen, und als dieser sich irgendwo hingesetzt hatte, war nur noch der übernächste Platz frei. Sie würden sich kaum mehr persönlich unterhalten können, aber Carl war zuversichtlich gestimmt, dass sich ihm wieder eine Gelegenheit bieten würde. Er setzte sich auf den erstbesten freien Stuhl.
***
Amanda hatte sich sorgfältig zurechtgemacht. Sie trug das Azurblaue in Kombination mit einer Stola und einer dazu passenden Hutkreation aus Paris. Sie erreichte die ausgelassen plappernden Kongressteilnehmer, die auf Einlass in den Speisesaal warteten. Streifte durch die Grüppchen, die sich unterhielten und sich am Weißwein labten. Dabei musste sie immer in Bewegung bleiben, denn wo sie auch stehen blieb, wurde sie angesprochen. Mal anzüglich, mal anständig. Ohne Begleitung unterwegs, rechneten sich einige bei ihr Chancen aus.
Endlich hatte sie Lohser ausgemacht. Ein paar Männer hatten sich um ihn geschart und lauschten seinen Ausführungen. Es kam Amanda vor, als spreche ein junger Professor vor Studenten, die doppelt so alt waren wie er.
Ihr Ziel war einfach. Sie musste es so einfädeln, dass sie beim Diner nebeneinandersaßen. So hätten sie genügend Zeit, zwanglos miteinander ins Gespräch zu kommen.
Als sich die Türen zum Speisesaal öffneten, versuchte sie, im Gedränge an Lohser dranzubleiben. Ihr Plan sah vor, ihn rechtzeitig zu überholen, sodass er sich zu ihr setzen würde und nicht sie sich zu ihm. Es sollte wie ein Zufall wirken. Aber es klappte nicht. Nachdem sie sich gesetzt hatte, machte Lohser unvermittelt kehrt und steuerte auf einen Stuhl auf der anderen Tischseite zu.
»Nett, dass du mir einen Platz freigehalten hast, mein Täubchen.« Palanti ließ sich neben Amanda nieder und verschwendete keine Sekunde, um ihr Knie unter dem Tisch zu betatschen. Sie wischte seine Hand weg.
Immerhin war Lohser noch in Sichtweite, so musste sie halt improvisieren.
***
Carl ließ seinen Blick schweifen. Walter Boveri suchte sich einen Sitzplatz weit weg von Brown und setzte sich an einen Tisch, an dem bereits Bossard, Reichenbach und Züst saßen.
»Da ist Julius Maggi!« Wyss hatte sich neben Carl niedergelassen und richtete ungeniert seinen krummen Zeigefinger auf einen Mann mit Brille und ungesund rotem Kopf einen Tisch weiter. Mit seiner beachtlichen Körperfülle bereitete es ihm Mühe, sich auf den Stuhl zu setzen. Zwyssig schwamm in seinem Kielwasser mit und redete ohne Unterlass auf ihn ein.
»Hoffentlich tun die hier nicht dieses Maggi-Zeugs in die Suppe«, sagte Kandlbaur.
Die brünette Dame im blauen Kleid, die Kandlbaur gegenübersaß, kicherte über den seichten Witz. Es musste wohl zu ihren Pflichten gehören mitzulachen. Aber es war ein schönes, helles Lachen. In den Ohren von Carl klang es wie das Klingeln von Glöckchen. Er erkannte sie als die Dame, die er bei seiner Ankunft in der Giessbachbahn gesehen hatte. Sie unterhielt sich mit Palanti neben ihr. Worum es dabei ging, konnte Carl bei dem lauten Geschnatter um ihn herum nicht verstehen. Er beschloss, seinem Gegenüber zuzuhören, einem Herrn Egloff, der etwas über die Gewinnmaximierung beim Verpachten von Grundeigentum an Landwirte erklärte.
Die Serviererinnen tischten Kürbiscremesuppe mit Trüffel auf. Sie trugen traditionelle Berner Trachten, mit dem Unterschied, dass diese körperbetonter und deutlich kürzer ausgefallen waren.
Die brünette Dame warf Carl einen kecken Blick zu, während sie mit abgespreiztem kleinem Finger den Suppenlöffel an ihre Lippen hielt.
Nach und nach verstummten die Gespräche, als sich jeder über seinen dampfenden Teller hermachte. Carl nutzte die Gelegenheit, um die Frage in die Runde zu werfen, die ihn so sehr beschäftigte. »Weiß jemand, wer dieser Deutsche Gerhard von Fürstenfeldt ist?«
Die Antwort blieb aus. Mehr als gelegentliches Schlürfen war nicht zu vernehmen.
»Herr Lohser, sagen Sie, welcher Partei gehören Sie an?«, fragte ihn stattdessen Wyss.
»Ich habe mich nie besonders für Politik interessiert«, gestand Carl.
»Aber Sie haben sicher eine Vorstellung davon, wie die es in Bern besser machen könnten.«
»Ich sehe die Politik in etwa so wie ein undiszipliniertes Pferdegespann. Eines der Pferde zieht nur nach links, ein anderes stets nach rechts. Ein Pferd bleibt stur am selben Ort stehen, ein weiteres will zur saftigsten Wiese hin, und das letzte versucht sogar, sich in die Lüfte zu erheben. Die Kutsche schlenkert so hin und her, anstatt dass alle Pferde gemeinsam der Zukunft entgegentraben.«
»Hört, hört! Der Lohser ist ja doch ein Politiker.« Palanti schnalzte mit der Zunge. »Geht es deiner elektrischen Kutsche inzwischen wieder besser?«
»Waren Sie der Tüftler, der sein Elektromobil repariert hat?« Das Interesse der hübschen Dame schien aufrichtig zu sein. »Mich fasziniert, dass man Strom für unterwegs mitnehmen kann. Strom ist ja überhaupt etwas sehr Faszinierendes.«
»Ja, das erzeugt Spannung, nicht wahr?«, ergänzte Wyss mit einem Grinsen.
»Schön, wenn es ein wenig knistert!«, frotzelte Kandlbaur.
Palanti wollte noch einen draufgeben. »Ich habe gelesen, dass Frauenärzte ein elektrisches Gerät verschreiben, das vibriert. Frauen, die unter Hysterie leiden, können sich damit massieren.« Dann ergänzte er in schlüpfrigem Tonfall: »Und zwar da unten!«
»Im Ernst?« Zahnlücke legte den Suppenlöffel in den leeren Teller.
»Dann braucht es uns Männer bald nicht mehr«, überlegte der Greis.
»Herren! Wir sind hier am Essen!«, empörte sich Carls linker Sitznachbar.
Das Chateaubriand war etwas zu blutig, die Tischgespräche blieben fortlaufend seicht. Als das Geschirr des Hauptgangs abgetragen wurde, vernahm Carl den Ausruf des Mannes, der Palanti gegenübersaß: »Bei Glühbirnen?« Es war Gregor Rhynegger, der Rotfuchs.
»Glühbirnen bieten sich geradezu an. Sie werden inzwischen in jedem Haushalt gebraucht«, erklärte Palanti. »Technisch eignen sie sich hervorragend dazu, Schwachstellen einzubauen, damit sie früher durchbrennen. Stell dir nur vor, wie die Verkaufszahlen steigen, wenn die Lebensdauer verkürzt würde.«
»Besteht dann nicht die Gefahr, dass der Kunde die Glühbirnen beim Konkurrenten kauft?«
Palanti meinte: »Nicht, wenn die Konkurrenz auch Schwachstellen einbaut. Man muss sich halt absprechen.«
Carl konnte nicht glauben, was er da hörte, aber Palantis Zuhörerschaft lauschte gebannt seinen Erläuterungen. »Nach ein paar Jahren kann man dieselben Glühbirnen so fertigen, dass sie ein paar Wochen später durchbrennen, und man verkauft sie als revolutionäre Neuentwicklung. Man muss sehen, die Kaufkraft der Konsumenten ist in den letzten Jahren rapide angestiegen. Sie kaufen inzwischen mehr, als sie tatsächlich brauchen. Man muss sich schon etwas einfallen lassen, wenn man noch mehr verkaufen will.«
Palanti bemerkte Carls empörten Blick und rief schräg über den Tisch: »Lohser, du als Tüftler. Baust sicher auch die eine oder andere Schwachstelle in deine Automobile. Mehr Verdienst bei den Reparaturen.«
Hatte Carl richtig gehört? »Diese Anschuldigung weise ich entschieden von mir. Produkte müssen so konstruiert werden, dass sie so lange wie möglich halten, ob das nun Automobile oder Glühbirnen sind. Qualität ist schließlich eine Frage des Berufsstolzes.«
Palanti lächelte süffisant. »Die Leute kaufen nicht, was das Beste ist. Die Leute kaufen, was man ihnen sagt, das sie kaufen sollen.« Er nippte an einem Gläschen Grappa. »Du verstehst nicht, wie die Wirtschaft funktioniert, Lohser. Ihr Antrieb ist die Kaufkraft. Und mehr Käufe steigern die Kaufkraft. So einfach ist das. Oder siehst du das anders?«
Carl ließ ihn links liegen. Es hatte keinen Wert, dagegen zu argumentieren.
Palanti wandte sich wieder an sein kleines Publikum. »Man könnte sogar sagen, man steigert mit Schwachstellen in den Glühbirnen den Wohlstand, weil Wohlstand direkt mit einer gesunden Wirtschaft einhergeht.«
Carl schüttelte den Kopf. Im Grunde genommen müsste er doch heute Abend besserer Laune sein. Sein Referat am Vormittag war gelungen, er hatte ein Angebot für eine interessante Anstellung in Deutschland erhalten, und er hatte sich mit Charles Brown unterhalten. Aber irgendetwas hatte ihm die Laune derart vermiest, dass er den Drang verspürte, einfach aufzustehen und davonzugehen. Es konnte nicht allein an diesem Ekel von Palanti liegen, der gerade ein zweites Mal versuchte, seiner Sitznachbarin unter dem Tisch an die Beine zu fassen. Es war etwas anderes: die Erkenntnis, dass hier in diesem Raum lauter Palantis saßen – mit ein paar Ausnahmen vielleicht.
***
Palanti tastete unter dem Tisch erneut nach Amandas Knie. Sie musste schon entschiedener zupacken und ihre Beine von ihm wegdrehen. Lohser hatte sie beobachtet, wandte den Blick aber sofort wieder von ihr ab.
Die beiden mussten sich ja ziemlich auf dem Kieker haben. Palanti, wie gewohnt redselig und niveaufrei, hatte sich zum Ziel gesetzt, Lohser bloßzustellen. Er nutzte dessen Schwäche aus, die darin bestand, konsequent an seinen Grundsätzen festzuhalten. Lohser war niemand, der sich darin hervortat, mit unanständigen Witzen um sich zu werfen oder andere der Lächerlichkeit preiszugeben, und es war ihm deutlich anzusehen, wie ihm das Treiben hier überdrüssig wurde. Amanda wagte die Prognose, dass er den Saal bald verlassen würde.
Acht Mädchen in züchtigen Berner Trachten nahmen vor der Fensterfront Aufstellung und stimmten ein Lied an, das als »Das Giessbachlied« angekündigt wurde.
Von jenem Berge herüber,
Was blitzt so silbern, so hell?
Die Tannen, die hangen kühn drüber,
Was rauschet und stürzet so schnell,
Was rauschet und stürzet so schnell?
An einem der hinteren Tische vernahm Amanda eine lallende Stimme: »Ich will jetzt die mit den Zöpfen!« Olaf Inderbitzin, offenbar stark alkoholisiert, war aufgesprungen, und zwei seiner Tischnachbarn hielten ihn an den Hemdsärmeln zurück. Er zeigte auf eine der Sängerinnen, ein vielleicht vierzehnjähriges Mädchen, das mit weit aufgerissenen Augen zurückstarrte.
»Nein! Lasst mich!«, rief er aus. Er rupfte am Tischtuch, und etliche Weingläser kippten um. Mehrere Köpfe drehten sich ihm zu, einige lachten, tuschelten, zeigten sich aber mehrheitlich unbeeindruckt.
Die beiden Männer zur Rechten und zur Linken Inderbitzins hatten sich ebenfalls erhoben. Einer legte kameradschaftlich einen Arm über Olafs Schultern und redete eindringlich auf ihn ein. Schließlich ließ sich Inderbitzin von der Aussicht auf ein weiteres Gläschen Schnaps dazu überreden, sich wieder hinzusetzen. Dem Mädchen liefen Tränen über die Wangen, aber es sang tapfer weiter.
Es stürzet mit donnernder Stimme,
Es brauset der Giessbach herab,
Er kämpfet, dass Ruhm er erringe,
Zur Ruhstatt im See und im Grab,
Zur Ruhstatt im See und im Grab.
***
Carl wurde es zu viel. Er tupfte sich den Mund ab, faltete unter mühsam aufrechterhaltener Beherrschung die Serviette und verließ den Saal. Wie passte sein Vater in all das hier? Köbi mit seinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit hätte doch nicht still neben einem Palanti dasitzen und dessen Geschwafel unkommentiert lassen können.
Als er den Balkon erreichte, sog er die frische Luft in sich auf. Die hübsche Begleitdame stand an der schmiedeeisernen Brüstung und sah mit einem anrührenden Ausdruck der Sehnsucht zu den Giessbachfällen hoch. Sie hatte eine Stola aus feiner Spitze eng um ihre Schultern gerafft, obwohl es gar nicht kalt war. Es wirkte, als umarme sie sich selbst. Als ob sie sich Trost spenden müsste. Carl hatte sie gar nicht den Saal verlassen sehen.
»Ich habe gehört, dass man sich nicht davor zu fürchten braucht, dass die Welt untergeht.« Sie wies zum Kometen hoch, der über ihnen seine Bahn zog. »Doch ein wenig sorge ich mich schon.«
»Das brauchen Sie nicht, Fräulein …«
»Amanda.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Er hatte etwas Intensives.
»Das braucht Sie nicht zu ängstigen, Amanda. – Carl.«
»Höchst erfreut, Carl!« Amanda knickste und schlug ihre Augen nieder. Sie tat dies mit einer Anmut, die Carl rührte.
Als sie sich erhob, warf sie ihm erneut einen tiefen Blick zu. Er dauerte eine Sekunde länger, als es schicklich gewesen wäre. Dann, mit einem leichten Zucken des Mundwinkels, wandte sie sich wieder dem Himmelskörper zu. Sie hatte ihre Hände auf der Balustrade gefaltet und drückte ihren Rücken durch. Sie sah reizend aus. Carl musste sich zwingen, sie nicht anzustarren.
»Aber was ist denn mit dem Cyanid im Schweif, von dem die Zeitungen schreiben?«
»Das ist völlig unbedenklich. Sehen Sie es so: Es hat schon mancher Komet die Erde besucht, und man hat noch nie von einem Menschen gehört, der davon vergiftet wurde.«
Sie überlegte. »Welch bestechende Antwort. Ihnen gelingt es, alle Bedenken kurz und prägnant vom Tisch zu fegen.«
»Tatsächlich sind es die Zeitungen und die religiösen Fanatiker, die diese Angst schüren.«
»Ich verstehe. Die einen wollen ihre Auflage erhöhen, und die anderen sorgen für Zuwanderung zu ihrer Kirche.« Es war, als spräche sie Carls Gedanken fertig aus. Er musste sie wohl falsch eingeschätzt haben. Ehrlich gesagt hatte er zu Beginn den Eindruck gehabt, sie wäre etwas … einfach gestrickt.
»Ich habe Ihnen noch lange bei der Reparatur zugeschaut. Es hat mich an einen Pflegevater erinnert, der oft an Dampfmaschinen herumgewerkelt hat. Gelegentlich durfte ich ihm dabei helfen, Schrauben zu lösen oder ihm Werkzeug zu reichen. Überall hatte ich danach Flecken von Öl und Ruß. Seine Frau schimpfte zuerst mit ihm und danach mit mir. Ich habe ihr aber angesehen, dass sie es nicht so richtig ernst gemeint hat.«
Carl musste sie anschauen. Sie erwiderte seinen Blick. Wieder nur kurz, aber mit einer Intensität, die darin begründet lag, dass sie ihm offen und tief in die Augen sah, als blicke sie durch sie hindurch geradewegs in die Seele hinab. Sie hatte sich wie eine Bürgerliche herausgeputzt und zurechtgemacht, was Carl sehr gefiel, und dennoch hatte sie etwas Bodenständiges an sich.
Dann stahl sich bittersüße Melancholie in ihre Worte: »Es war die schönste Zeit meines Lebens.«
Die schönste Zeit in Carls Leben war zusammen mit Heléne gewesen, überlegte er.
»Ah, da bist du ja, mein Täubchen.« Palanti betrat den Balkon, legte einen Arm um Amandas schlanke Taille und zog sie an sich. Der Platzhirsch verteidigte sein Revier. Vorbei die traute Zweisamkeit, jäh gebrochen von diesem Ignoranten. Sie gehörte zu ihm. Carl hatte verstanden. Gerade als er sich diskret zurückziehen wollte, versuchte sie, sich aus Palantis Griff zu winden. »Ich bin nicht dein Besitz, Laurenz.«
»Das wollen wir mal sehen.« Palanti drückte ihr einen Kuss auf.
»Haben Sie nicht gehört, was die Dame gesagt hat, Palanti? Sie will das nicht«, ging Carl dazwischen.
»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Lohser!«
»Es wurde gerade eben zu meiner Angelegenheit.«
»Wir können auch die Fäuste sprechen lassen.«
Bluffte Palanti jetzt?
»Überlegen Sie sich gut, was Sie sich wünschen.« Carl hatte sich seit seiner Schulzeit nicht mehr geprügelt, er hatte gelernt, Konflikten mit Vernunft zu begegnen. Dennoch baute er sich mit geballten Fäusten vor Palanti auf. Er überragte ihn um gut einen halben Kopf. Spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Diesem Großmaul würde er auf der Stelle eine reinhauen, wenn es darauf hinauslief. Carl wartete nur noch darauf, dass der andere den Erstschlag führte.
Palantis geringschätziger Ausdruck bekam Risse.
Zu seiner sichtlichen Erleichterung näherten sich Stimmen. Bossard und fünf weitere Mitglieder kamen witzereißend nach draußen. Eine blonde Kurtisane hatte sich dem Dogen an den Hals geworfen und lachte laut auf.
Palanti schnippte seinen angerauchten Stumpen hinunter zu den Tischen, die unter ihnen auf der Terrasse standen, und stapfte davon. »Die ist es nicht wert! Da gehe ich lieber noch einen trinken.«
Amanda und Carl sahen sich an. Der Zauber war verflogen. Carls Stimmung ruiniert. Es lag nicht nur am Auftauchen Palantis und dem Groll, den er in Carls Bauch entfacht hatte. Da war noch etwas anderes. Jemand anderes, der auf dem Balkon aufgetaucht war. Zumindest in Carls Kopf.
Heléne.
***
Männer träumten davon, den edlen Ritter zu spielen und der holden Maid in Nöten zu helfen. Und das machte sie beeinflussbar. Genauso verhielt es sich mit Carl Lohser und seinen starken Prinzipien.
»Danke. Der hat mich schon mehrmals bedrängt«, meinte Amanda.
Jetzt nimm dir aber auch die Trophäe, die du gewonnen hast, Lohser!
»Am besten machen Sie sich auf direktem Weg in Ihr Zimmer.« Damit ließ Lohser Amanda stehen. Der Fisch hatte sich von der Angel losgerissen und schwamm davon. Sie musste ihn bei anderer Gelegenheit wieder einfangen.
Amanda begab sich zum Haupteingang. War es das gewesen? War sie Palanti nun endlich los? Nein, sie hatte sich zu früh gefreut. Kaum dass sie das Vestibül betreten hatte, klammerte sich seine fleischige Hand an ihrem Arm fest. »Kommst du auf mein Zimmer, mein Täubchen?«
»Lass mich in Ruhe, Laurenz!«
»Aber wir hatten es doch immer gut zusammen. Denk an letzte Nacht.«
»Ich will das nicht mehr.«
Palanti änderte seine Strategie. »Ich war doch eben sehr unartig. Du musst mich bestrafen«, raunte er leise, darauf bedacht, dass ihn niemand außer ihr hören konnte.
»Hör zu! Du hast mich auf unverschämte Art und Weise bedrängt. Ich werde dich nicht länger begleiten.«
»Machst du etwa Schluss mit mir? Du bist doch meine Mätresse.«
»Ich bin keine Mätresse. Eine Mätresse gehört einem mächtigen Mann –«
»Ja, so ist es doch«, unterbrach sie Palanti.
»– während ich komme und gehe, wie ich es will! Das sind die Regeln.«
»So einfach geht das nicht, mein Täubchen. Wie stehe ich denn bei den anderen da als der Zurückgelassene?«
»Daran hättest du vorher denken sollen.«
Sie würde es schaffen. Sie konnte hier und jetzt einen Schlussstrich ziehen und sich voll und ganz dem neuen Auftrag widmen.
Palanti packte sie an beiden Schultern und wirbelte sie herum, sodass sie in einer Nische gegen eine Säule prallte. Amanda stellte fest, dass die Säule nicht aus Stein war, sondern nur mit einer Marmormaserung bemalt. Komisch, was einem in einer solchen Situation alles durch den Kopf ging.
Sie musste ihn besänftigen, nicht dass er ihr noch Gewalt antat. »Ich kann dir den Kontakt zu einer anderen Begleiterin knüpfen. Du darfst sie sogar aussuchen. Dann werde ich überall herumerzählen, du hättest mich verlassen.«
»Ich wollte diese Karte gar nicht ausspielen.« Seine Stimme hatte einen bedrohlichen Tonfall angenommen.
»Wovon sprichst du?«
»Es tut mir genauso leid wie dir.« Palantis Lippen berührten beinahe ihr Ohr. »Ich weiß, was hier gespielt wird. Ich weiß alles.«
Er hielt inne, erwartete, dass sie gestand.
Doch sie schwieg.
»Ich werde dich auffliegen lassen. Werde allen in der Gesellschaft erzählen, womit du dein Geld verdienst. Es wird sich schnell herumsprechen unter den Geschäftsleuten, du wirst schon sehen.«
Er wusste es. Amanda musste besonnen bleiben. Wie viel wusste er?
»Nochmals: Wovon sprichst du?« Ihre Stimme zitterte.
Wieder näherte er sich ihrem Ohr. Für Vorbeigehende mussten sie in der Ecke aussehen wie ein schmusendes Paar.
»Ich habe Augen im Kopf. Glaubst du, ich sehe nicht, was hier läuft? Klemens hat dich angestellt, um mich auszuhorchen. Süß zu tun, bis ich einknicke, damit er sich meinen Betrieb unter den Nagel reißen kann. Ich weiß alles über dich!«
Amanda tat weiterhin, als verstünde sie nicht, innerlich aber drehte sich alles. Palanti zog vielleicht die falschen Schlüsse, doch dabei kam er der Wahrheit verflixt nahe.
»Du machst die Beine breit, um den anständigen Herren die Geschäftsgeheimnisse zu entlocken, aber nicht mit mir, mein Täubchen!«
Er stieß sie gegen die Wand, um seine Worte zu bekräftigen.
»Du hast mir kein einziges Betriebsgeheimnis entlockt. Ein Geheimnis werde ich dir aber anvertrauen: Du wirst nie wieder einen Auftrag erhalten, mein Täubchen. Und Klemens auch nicht.« Wieder hielt er einen Augenblick inne. »Es sei denn, du tust, was ich dir sage. Danach werde ich vielleicht – nur vielleicht – dein Geheimnis für mich behalten. Aber gib dir Mühe!«
An diesem Abend hatte Palanti sich einen Schoppen für Kleinkinder vom Zimmerservice bringen lassen. Er war mit Bier gefüllt, sodass durch die Löcher im Schnuller Schaum drang. Amanda musste ihm ein Leinentuch als Windel umbinden. Er verlangte von ihr, ihn wie ein Kind zu halten und ihm das Fläschchen zu geben.
Mit einer Mischung aus gespielter Scham und einem frechen Glanz in den Augen nässte er die Windel ein, sodass sie dem unartigen Balg den Hintern versohlen musste. Sie schlug härter zu als jemals zuvor.
***
Carl hatte keine Lust, sich zurück in den Saal in die Reihen der Orion-Gesellschaft zu setzen. Allein schlurfte er die überdachte Wandelhalle zum Kurhaus entlang.
Von einer ungeahnten Melancholie erfüllt, dachte er an die Freuden der Vergangenheit. Wo wäre er heute, wenn er Heléne geheiratet hätte? Er hätte sich die letzten Jahre vermutlich nicht dermaßen in die Arbeit gestürzt. Hätte nicht nächtelang experimentiert, gezeichnet und konstruiert. Vielleicht wäre eine Gans II nie zustande gekommen. Er wäre nicht an den Kongress als Gastredner eingeladen worden. Aber in diesem Augenblick hätte Carl alles für ein einfaches Leben mit Heléne eingetauscht.
Carl schüttelte den Kopf. Hätte er das wirklich? Liebte er sie tatsächlich noch, oder vermisste er sie einfach als die Person, die er früher einmal geliebt hatte? Mehr noch, trauerte er bloß den schönen Zeiten nach, die er mit ihr gehabt hatte? Er konnte gar nicht sagen, wie viel die Heléne in seinem Kopf noch mit der Heléne der Gegenwart zu tun hatte. Sie, die im wirklichen Leben ihren eigenen Weg gegangen war und wahrscheinlich mit ihrer frisch gegründeten Familie das Glück gefunden hatte. Eine arrangierte Hochzeit musste nicht zwingend heißen, dass man nicht glücklich werden konnte.
Carl machte kehrt, um sich an die Bar zu begeben. Nicht um seinen Kummer im Alkohol zu ertränken, sondern um Mustafa zu fragen, ob er etwas über die Deutschen und Fürstenfeldt wusste.
Was Mustafa unter vorgehaltener Hand berichtete, gefiel Carl ganz und gar nicht. Er hatte dem Barmann von dem Angebot erzählt, ein Team in Stuttgart leiten zu können, um technische Entwicklungen auszuarbeiten, und dass er durchaus in Erwägung zog, das Angebot anzunehmen. Viel brauchte Mustafa gar nicht zu sagen, es reichte ein einziges Stichwort, welches das Angebot der Deutschen in ein komplett anderes Licht rückte: Kriegsindustrie.
»Generalleutnant Brechtesloh hat das Sagen, der Preuße. Oberst von Fürstenfeldt arbeitet für ihn«, enthüllte Mustafa, während er ein Glas mit einem Tuch sauber rieb. Erstaunlich, was ein Barmann so alles erfuhr, wenn er den Gästen zuhörte, ging es Carl durch den Kopf.
Nun war Carl doch bereit für ein Glas Absinth. Mustafa schenkte ihm ein, und Carl tröpfelte an der carafe fontaine etwas Wasser über den Zucker. Es schmeckte zu stark.
Was Mustafa Carl hier erzählte, bedeutete, Fürstenfeldt wollte ihn Kriegsmaschinerie oder Waffen entwickeln lassen. Carls Werke sollten doch aber den Menschen dienen und nicht ihnen Leid zufügen.
»Wie ist Fürstenfeldt mit Ihnen in Kontakt getreten?«, wollte Mustafa wissen und stützte sich auf den Tresen. Sein Interesse an diesem Thema schien größer zu sein, als man es von einem Barmann erwarten würde.
»Er hat sich nach meinem Referat zu Wort gemeldet. Am Nachmittag ließ er mich durch einen einschüchternden Mann zum Gespräch holen«, antwortete Carl.
»Worum ging es bei den anderen Referaten?«
Carl erläuterte ihm die Themen. Über den Kettenantrieb wollte Mustafa mehr wissen, und Carl erklärte, dass dieser die Fortbewegung von Fahrzeugen im Gelände ermöglichen sollte. Als Carl das Referat über die Chemikalie Schwefelyperit erwähnte, schien Mustafa regelrecht alarmiert zu sein.
»Die Flüssigkeit soll nach Senf riechen und habe starke Nebenwirkungen. Sie schädigt Haut und Atemwege. Wieso sich Fürstenfeldt dafür interessierte, kann ich nicht sagen. Denken Sie, man kann aus dieser Substanz Sprengstoff herstellen? Oder Treibstoff?«
Mustafa dachte nach. »Womöglich ist er ja gerade an den Nebenwirkungen interessiert.«
Carl konnte nicht folgen.
»Kampfstoff«, ließ Mustafa ihn an seinen Überlegungen teilhaben. »Haben Sie schon einmal von chemischer Kriegsführung gehört, Carl? Man bekämpft den Feind mit Säure oder Giftgas, während dieser noch mit dem Gewehr übers Schlachtfeld stürmt. Es würde ihn völlig unvorbereitet treffen. Verheerende Verluste, endloses Leid.«
Carl nahm einen gehörigen Schluck aus seinem Glas. Mustafa führte weiter aus: »Eine Armee mit diesen Stoffen wäre der gegnerischen um Längen überlegen. Ein kriegsentscheidender Vorteil. An Grausamkeit kaum zu überbieten.«
»Meinen Sie nicht, dass Sie hier zu weit gehen?« Carl war skeptisch.
»Sie lesen doch die Zeitung, Carl. Sicherlich ist Ihnen dabei nicht entgangen, dass Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Begriff sind aufzurüsten.«
Carl bestätigte mit einem Kopfnicken.
»Zu einer Aufrüstung gehört auch immer die Suche nach neuen Technologien der Kriegsführung. Es werden enorme Anstrengungen und Unsummen von Geld aufgewendet, um der eigenen Nation jeden nur erdenklichen Vorteil zu verschaffen.«
»Und da bin ich hineingeraten«, sagte Carl mehr zu sich selbst.
»Sehen Sie sich vor!«
Als Carl den Salon verließ und in die Empfangshalle hinaustrat, ließ ihn Mustafas Einschätzung nicht mehr los. Waren die Deutschen tatsächlich hier, um nach neuartigen Kriegstechniken Ausschau zu halten? Er studierte das Plakat, das bei der Rezeption an der Wand angebracht war.
Montag, 16.05.1910, Fortschritt der Technik:
Der Niedergang des Dampfantriebs
Kettenantrieb: Lösung für Landwirtschaft und Bau
Weiterentwicklung des Elektroantriebs mit Carl Lohser
Schwefelyperit und seine Anwendungsmöglichkeiten mit Wilhelm Lommel
Elektrifizierung bei Eisenbahnen, ein erster Erfahrungsbericht von Walter Boveri
Aviatik: Luftschiffe und Flugapparate
Wenn man wollte, könnte man einige Techniken tatsächlich für den Kriegseinsatz missbrauchen. Carl las weiter.
Dienstag, 17.05.1910, Vormittag
Podiumsdiskussion: Elektrischer Antrieb versus Verbrennungsmotor
Carl fühlte sich bei diesem Punkt unangenehm daran erinnert, was ihn morgen erwartete. Er würde sich vor Publikum eine Diskussion mit Palanti liefern müssen. Dabei stand viel auf dem Spiel. Wenn er sich geschickt anstellte, konnte er den ein oder anderen Industriellen auf seine Seite ziehen.
Dienstag, 17.05.1910, Nachmittag, Fortschritt der Medizin:
Neurasthenie: Symptom der Moderne?
Hydrotherapie: Das Heilmittel gegen Neurasthenie, Dr. Leonard Blumer
Radioaktivität: Strahlende Zukunft für die Medizin
Das Programm vom Mittwochnachmittag wirkte für Carl sogar richtig befremdlich. Interessierten sich die Kongressteilnehmer tatsächlich für derlei Themen?
Mittwoch, 18.05.1910, Fortschritt der Gesellschaft:
Arbeiterbewegung: Umgang mit Arbeiterstreiks, mit Nationalrat Erich Züst
Eugenik: Erkennen von Untermenschen und Kretins/Mit gezielter Zucht zu einer besseren Gesellschaft
Kolonialismus: Eine Insel für die Schweiz?
Für den Abend des 19. Mai war die Schlussfeier anberaumt, sodass jeder seinen Rausch noch ausschlafen und am 20. Mai sich nüchtern auf die Heimreise machen konnte.
Carl zog sich in sein Zimmer zurück. Für den kommenden Tag musste er ausgeruht sein. Wieso hatte er sich bloß dazu überreden lassen, an der Podiumsdiskussion teilzunehmen?
Bald fiel er in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von einem Heer von Elektromobilen, alle vom Typ Gans II. Jedes transportierte deutsche Soldaten, die auf dem Trittbrett standen oder sich auf dem Dach hockend ans Blech krallten. Allesamt trugen sie Pickelhauben und schwenkten bedrohlich ihre Gewehre.
Plötzlich erschien auf dem Schlachtfeld das französische Heer auf Pferden. Die Deutschen begannen mit teuflischen Fratzen zu lachen. Ein Lachen im Gleichschritt. Ha! Ha! Ha! Ha!
Schüsse wurden abgegeben, und die Franzosen fielen. Einer nach dem anderen.
Carl erkannte, dass er sich mitten auf dem Schlachtfeld befand, vermochte sich aber nicht zu rühren. Konnte sich weder in Sicherheit bringen noch ins Geschehen eingreifen. Hilflos musste er mitansehen, wie die schnabelförmige Fronthaube der Gans II sich zu einem kantigen Hakenschnabel des Reichsadlers verformte. Senfgelber Nebel und Tod lagen in der Luft.