KAPITEL 11

Mittwoch, 18. Mai 1910, früher Morgen

Der dritte Kongresstag

»Lass mich machen. Ich habe eine verdammte Wut im Bauch!« Nicu ging auf Mustafa zu, der an einen Holzstuhl geschnürt war, und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Mustafa fixierte ihn mit einem trotzigen Blick.

Klemens hatte sie angewiesen, Mustafa im hintersten Kellerraum des Kurhauses zu vernehmen. Die Wände waren massiv und würden Schreie ausreichend dämpfen. Dann hatte er sich zurückgezogen. Wieder einmal ließ er seine beiden Handschuhe die Schmutzarbeit erledigen.

»Arbeitest du für die Franzosen?«, fragte Nicu.

Mustafa schwieg.

Eine weitere Ohrfeige. »Los, sag schon, arbeitest du für die Franzosen?«

Ohrfeige. »Wie ist dein richtiger Name?«

Fritz schritt ein. »Willst du ihn jetzt die ganze Nacht über langweilen?«

Nicu ballte die Faust und langte zu. Der Schlag in die Magengegend ließ Mustafa die Luft entweichen, und er krümmte sich, soweit es die Fesseln zuließen. »Arbeitest du für die Franzosen?«, wiederholte Nicu. Er schlug weiter zu, immer weiter. Es tat gut. Er ließ seinem Zorn freien Lauf. Mustafa hatte sie so lange an der Nase herumgeführt. Er hatte den harmlosen Barmann gemimt, während sie auf der Suche nach dem Spion gewesen waren. Er stand die ganze Zeit vor ihrer Nase.

»Bist du LDP

Mustafa hatte ihn und Fritz gefesselt im Keller liegen gelassen. Wer wusste, wie lange sie noch so dagelegen hätten, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, sich zu befreien?

»Was weißt du?«

Mustafa hatte sich mit Amanda unterhalten, sie hatte gelacht und sich zu ihm herübergebeugt.

»Wo ist das Notizbuch?«

Mustafa keuchte, er litt zusehends unter den Schlägen, schwieg aber weiter.

»Los, sprich! Dann findet das hier ein Ende«, herrschte Nicu ihn an. Nach und nach schmerzten seine Arme. Nicu kamen die Worte seines Vaters in den Sinn, die er zu sagen pflegte, wenn er ihm eine Kopfnuss gegeben hatte: »Es schmerzt mich genauso wie dich, mein Junge.«

»Mach du weiter!«, wandte er sich an Fritz, der ihm bis jetzt nur belustigt zugesehen hatte. Fritz ließ sich kein zweites Mal bitten und knallte dem Spion die Holzfällerfaust mitten ins Gesicht.

»Sprich!«, sagte er dabei. Er schlug zu. »Sprich!« Und wieder: »Sprich!«

Nicus Wut war verflogen. Was taten sie hier?

»Sprich!«

Mustafas Gesicht blutete bereits.

Fritz war deutlich ausdauernder als Nicu. Nicht dass es ihm sichtlich Freude bereitete, jemandem Schmerzen zuzuführen, doch zeigte er eine gewisse Hingabe bei dieser Tätigkeit. Mustafa keuchte, stöhnte und schrie unter Schmerzen, doch sagte er kein Wort. Fluchend trat Fritz in den Flur hinaus, und Nicu hörte ihn im Nebenraum, der als Abstellkammer diente, rumpeln. Als er kurz darauf wieder erschien, führte er ein Eisenrohr mit sich, das gut einen halben Meter maß. Damit zertrümmerte Fritz dem Barmann ein Knie.

Nun ging er zu weit. Nicu musste eingreifen. »Was ist los mit dir, du taube Nuss?« Er entrang Fritz das Rohr und schleuderte es in den hinteren Teil des Raumes, wo es mit einem lauten Klang in der Finsternis versank. »Du schlägst ihn noch tot, bevor er ausgepackt hat.«

Als die Morgendämmerung allmählich durch das verstaubte Kellerfenster drang, wurde die Kellertür aufgerissen, und Klemens trat ein. »Hat er geredet?«, fragte er zur Begrüßung.

Nicu schüttelte den Kopf.

»Dann muss ich den Generalleutnant in Kenntnis setzen.«

Keine Viertelstunde später traten Witt und der Oberst ein. Klemens glänzte erneut durch Abwesenheit.

***

Oberst Gerhard von Fürstenfeldt-Kamp war erneut eine verschlüsselte Nachricht ins Netz gegangen. Sie musste irgendwann seit seiner letzten Kontrolle von auswärts hereingekommen sein und bestand bloß aus sieben Zeichen. Er schätzte, dass es die Antwort des Deuxième Bureaus auf Mustafas Anfrage vom Vortag war. Er war aber auch dieses Mal nicht imstande gewesen, sie zu entschlüsseln, so ganz ohne Codekarte. Hilfe kam von unerwarteter Seite.

Gemeinsam mit Witt betrat er den Kellerraum, in dem sie den gefangen genommenen Agenten vernahmen. Fritz wandte sich an Fürstenfeldt und raunte ihm unter vorgehaltener Hand zu: »Frag den Spion, was ›VDG 8 19.‹ zu bedeuten hat!«

Hatte er gerade eben Fürstenfeldt geduzt? Ungehalten gab der zurück: »Warum sollte ich?«

»So lautete die Notiz, die Nicu beim Telegrafen gefunden hat.«

»Damit kommt ihr erst jetzt?«

Fritz zuckte die Schultern.

»Und was hat das zu bedeuten?«

»Was weiß ich, darum sollst du ja fragen.«

Eine Abkürzung, zwei Zahlen und ein Punkt also. Je nach Schreibweise waren das sieben Zeichen, genau wie die hereingekommene Nachricht vom Deuxième Bureau in Paris. Da könnte etwas dran sein.

Der Spion saß vor ihnen an einen Stuhl geschnürt und hatte sich bis jetzt geweigert, den Mund zu öffnen. Fürstenfeldt indes war zuversichtlich, dass Witt ihn dazu bewegen konnte, etwas gesprächiger zu werden. Das primäre Ziel der Folter war, zu der Wahrheit zu gelangen, die der Befragte nicht ohne Weiteres preisgeben wollte. So weit ganz simpel. Doch damit hatte sich auch schon alles erschöpft, was simpel war. Ein erfolgreiches Verhör war eine regelrechte Kunstform. Es war nicht bloß damit getan, dem Befragten Schmerzen zuzufügen. Es reichte nicht, ihm in Aussicht zu stellen, dass er nur auszupacken brauchte, um die Pein zu beenden. Es steckte mehr dahinter. Viel mehr. Eine komplette Wissenschaft.

Fürstenfeldt wusste, dass Witt dies in Ostafrika am eigenen Leibe erfahren hatte, denn auch er lag einst auf der Planke. Diese Erfahrung machte ihn später zu einem erfolgreichen Vernehmer. Nur wer den Pfad einmal selbst gegangen war, wusste, wie der Befragte richtig zu führen war. Der Vernehmer ging mit dem Vernommenen eine Verbindung ein. Er führte ihn auf den Pfad der Wahrheitsfindung, der eben und kurz sein konnte oder aber beschwerlich und endlos. Dem Befragten wurde dabei stets das Ziel ihres gemeinsamen Weges vor Augen gehalten: die Wahrheit.

Entgegen der landläufigen Meinung fühlte sich ein guter Vernehmer tatsächlich in den Vernommenen ein. Nicht um die Schmerzen und Ängste mitzuempfinden – dies wäre bloß hinderlich für die Ausübung seiner Aufgabe –, sondern um die empfindlichen Punkte auszumachen, an denen er ansetzen konnte.

Der vorliegende Fall gestaltete sich etwas schwieriger. Der Spion war zwar Klemens’ Männern in die Fänge geraten, die ausnahmsweise nicht als komplette Einfaltspinsel gehandelt hatten, doch es gab drei Gründe, warum er für eine Befragung kaum mehr empfänglich war. Als Erstes war davon auszugehen, dass er in seiner Ausbildung als Spion auf peinliche Befragungen vorbereitet wurde. Ein Hindernis, das es zu überwinden galt. Zweitens hielt ein guter Spion an seiner Überzeugung fest, ansonsten wäre er nie Spion geworden. Für diese Überzeugung war er bereit, bis zum Letzten zu gehen, womöglich dafür zu sterben. Damit konnte man umgehen. Wozu einer zu gehen bereit war und wie weit er dann letztendlich ging, waren zwei Paar Schuhe. Der Schwierigkeitsgrad für eine erfolgreiche Befragung erhöhte sich damit aber wesentlich. Das dritte Problem sah Fürstenfeldt als das größte: Klemens’ Barbaren hatten den Spion bereits so übel zugerichtet, dass er sich beinahe vollständig von seiner Umwelt abgekapselt hatte. Ein Blick in die geschwollenen, aber leeren Augen verriet ihm, dass der Gefangene bloß noch auf die endgültige Erlösung wartete. Und wenn man seine Verfassung in Betracht zog, spielte die Zeit für ihn. Kurz, er war kaum mehr imstande, den Pfad der Wahrheit zu gehen.

Nicu und Fritz hatten keinen Schimmer, wie eine Befragung durchgeführt werden musste. Doch anstatt die Hände davon zu lassen, waren sie mit Übereifer hineingeprescht und hatten beinahe alles ruiniert. Man lernte dies nicht auf der Straße. Da lernte man höchstens dreinzuschlagen, was die beiden ja auch getan hatten.

Er und Witt wurden viel zu spät herbeigezogen. Doch sie hatten eine Aufgabe, die nicht damit getan war, zu behaupten, sie sei aussichtslos. Aussichtslose Situationen waren die besten Herausforderungen.

Die beiden Lakaien beobachteten Witt mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu, wie dieser um den zu Befragenden herumging und überlegte, welche Verhörtaktik er anwenden sollte. Ihm oblag die Wahl der Qual. Schließlich wies er den Rumänen an: »Du, hol mir einen Putzlappen und eine Gießkanne mit Wasser!«

Fürstenfeldt wusste, worauf dies hinauslief. Witt hatte die tormento de toca gewählt, eine Methode, die bereits die Spanische Inquisition angewandt hatte. Diese Taktik zur Wahrheitsfindung unterschied sich dahingehend von anderen Verfahren, dass sie beim Befragten keine Schäden hinterließ. Zumindest keine körperlichen. Im vorliegenden Falle war dies zu bevorzugen. Weitere körperliche Verletzungen hätten ihm zu früh den Rest gegeben.

Nach einer Weile erschien der Rumäne wieder in der Tür mit den geforderten Gegenständen. Witt wies Fritz an, den Befragten mitsamt Stuhl auf den Rücken zu legen, den Lappen über Nase und Mund zu spannen und den Kopf festzuhalten.

Mit der Gießkanne sorgte Witt dafür, dass der Lappen stets mit Wasser benetzt blieb. Der Spion keuchte und versuchte erfolglos, sich seiner Lage zu entwinden. Nach exakt fünfunddreißig Sekunden stellte Witt die Kanne ab und wies seinen Assistenten an, den Lappen zu entfernen.

Der Befragte hustete und spuckte.

»Du hast eine neue Nachricht von zu Hause erhalten. Was bedeutet ›VDG 8 19.‹?«, fragte Fürstenfeldt ruhig. Der Befragte schwieg. Der Rumäne verließ den Raum. Witt gab seinem Assistenten ein Zeichen, und der Vorgang wurde wiederholt.

Die toca war in Intervallen durchzuführen. Das Heimtückische an dieser intensivierten Verhörtaktik war, dass dem Körper des Befragten vermittelt wurde, er würde ertrinken, obwohl er gar nicht ertrinken konnte, solange alles korrekt durchgeführt wurde. Es wurden schlicht Urängste wachgerufen, selbst bei jemandem, der genau wusste, dass das Ertrinken nur simuliert war. Eine rein nervliche Angelegenheit, aber mit einer aussichtsreichen Erfolgsquote.

Die Kehrseite war, dass mancher Befragte dadurch in bleibenden Wahnsinn verfiel.

***

Sechs palavernde und wild gestikulierende Wissenschaftler bestiegen ein Projektil, das auf das Kommando eines Offiziers hin von zwölf Mädchen in eine Kanone geladen und dem Mond mitten ins rechte Auge gefeuert wurde.

Carl wollte sich die Filmvorführungen an diesem Morgen keinesfalls entgehen lassen. Schon des Öfteren hatte er das Wanderkino besucht, wenn es in der Kantonshauptstadt haltgemacht hatte. Dieses dreizehnminütige Kulissenspektakel von Georges Méliès mit dem Namen »Le Voyage dans la Lune« hatte er jedoch noch nie gesehen.

Im Saal war ein Filmvorführraum eingerichtet worden. Man konnte noch immer den Maskenball von letzter Nacht riechen, die olfaktorischen Hinterlassenschaften aus Alkohol, kaltem Rauch und Festivitäten, die überall gleich stanken und auch nach stundenlangem Lüften noch wahrnehmbar waren. Nur wenige verkaterte Seelen saßen in den Reihen vor der Leinwand, auf die der »Cinématographe« den Film projizierte. Die übrigen lagen noch mit einem Brummschädel in den Federn. Carl ging es auch nicht viel besser. Wie viele Halleyschoppen hatte er in sich hineingeschüttet? Der letzte war zu viel gewesen, so sagte man – vermutlich schon der zweitletzte. Sein Mund fühlte sich an wie mit Watte gefüllt, obwohl er bereits zwei Tassen Kaffee getrunken hatte. Auf ein Frühstück hatte er bereitwillig verzichtet. Die Filmvorführung kam ihm sehr gelegen, um die Zeit zu überbrücken, bis es ihm wieder besser ging.

Carl wurde es ganz warm, als er an das Liebesspiel mit Amanda in der Gans zurückdachte. Sie war wundervoll gewesen, er hatte ihren Duft eingesogen und seine Hände über ihre sanften Kurven gleiten lassen. Doch als es vorüber war – seine Reaktion auf den Spiegel, er hatte selbst nicht gewusst, wie ihm geschah. Plötzlich vermochte er nicht mehr zu sprechen und zog sich zurück wie die Muschel ihre Weichteile in die harte Schale. Eine Dame wie Amanda wies niemand zurück. Wie sie sich wohl fühlen musste! Er hatte ihr wehgetan. Wenn sie doch nur wüsste, was er für sie empfand.

Die Gelehrten trafen auf dem Mond auf ein Heer zappelnder Bewohner, die sich ganz einfach mit einem Schlag mit dem Regenschirm besiegen ließen. Danach gelang es ihnen, die Kapsel vom Rand des Mondes zu kippen, und sie kehrten zur Erde zurück.

Seit dem Vorfall mit Amanda drehte sich in Carls Kopf immer wieder dieselbe Frage: Wäre es nicht das einzig Vernünftige, noch heute nach Hause zurückzukehren? Seine Arbeit hier war getan. Er hatte keine Pflichten, kein Referat, keine Diskussionsrunde mehr. Zudem hatte er genug gesehen von diesem Pfuhl. Vertreter des Deutschen Heeres bedrängten ihn, und Palanti hatte er ernsthafte Verletzungen zugefügt. Freilich hätte er noch mehr mit den Mitgliedern ins Gespräch kommen und Kontakte knüpfen sollen. Doch ließe sich dies nicht auch von zu Hause aus bewerkstelligen? Es wäre am Ende sogar noch leichter, da in seiner vertrauten Umgebung weniger Ablenkungen vorhanden waren. Sein Vater würde es verstehen. Wie es ihm wohl ergangen war die letzten Tage? Ob sich sein Zustand in der Zwischenzeit gebessert hatte? Er brauchte Carl doch.

Der Film endete, und der Vorführer legte eine neue Rolle ein. »El Hotel Electrico«, verkündete eine zitternde Schrift auf der Leinwand. Ein Ehepaar betrat die Eingangshalle eines Hotels, wo es aufgefordert wurde, sich zu setzen, während die Gepäckstücke selbstständig in das Hotelzimmer glitten. Wie von Zauberhand öffneten sich die Koffer, und deren Inhalt kroch und hüpfte in die Schubladen einer Kommode. Faszinierend, diese Tricktechnik. Die Illusion war perfekt, es blieb einem nichts anderes übrig, als zu glauben, dass die Kleidungsstücke sich selbst zusammenfalteten und einräumten.

Carl war dermaßen gebannt, dass er zusammenzuckte, als sich eine feine Hand auf seine Schulter legte. Amanda. Sie setzte sich neben ihn, ohne ihren Blick von der Leinwand zu lösen. Die Feier der letzten Nacht musste spurlos an ihr vorübergegangen sein, sie sah aus wie aus dem Ei gepellt. Amüsiert schaute sie der Bürste zu, die sich von selbst durch das Haar der Darstellerin kämmte, ohne von einer Hand geführt zu werden. Sie musste Carls Blick gespürt haben, denn sie lächelte und legte ihre Hand auf seine, als sei sein Fehlverhalten letzte Nacht nie geschehen. Carl freute sich aufrichtig, sie zu sehen, und war erleichtert, sie nicht vergrault zu haben.

Du siehst phantastisch aus. Carl sprach es nicht aus. Er sah sie bloß an, während sein Herz den Csárdás klopfte.

Endlich blickte sie ihn an, und Carl nahm ihr Parfüm wahr. Amanda flüsterte: »Habe ich etwas Falsches gesagt letzte Nacht?«

Carl war wie vom Donner gerührt. »Nicht doch! Ich war es, der sich falsch verhalten hat.« Es schmerzte ihn, dass sie die Schuld bei sich suchte.

»Es …«, begann Carl. Er war nicht gut in solchen Dingen. »Eine alte Geschichte. Schon beinahe nicht mehr wahr.« Stammelte er etwa?

»Es hat etwas mit dem Spiegel in deinem Automobil zu tun, nicht wahr? Eine verflossene Liebe?«

Am Schaltpult in dem elektrischen Hotel legte ein Betrunkener den falschen Schalter um, was Blitze an einem Stromgenerator verursachte. Als Folge wuselte das gesamte Mobiliar durch die Lobby und verursachte ein Chaos unter den Hotelgästen und Angestellten. Die Zuschauer im Vorführraum lachten, ihre Zahl hatte in der Zwischenzeit zugenommen. Carl war nicht nach Lachen zumute.

Nach einer Weile des Schweigens sagte Amanda etwas, was er nicht erwartet hätte. »Er hieß Emil. Meine verflossene Liebe«, begann sie. »Ich bin mit dreizehn von zu Hause abgehauen. Emils Eltern hatten mich später als Haushaltshilfe eingestellt. Doch ich durfte mich bei ihnen wie eine Tochter fühlen.« Amanda nestelte an ihrer Stola. »So kam es, dass Emil und ich ein Paar wurden. Ich dachte, ich wäre im Himmel angekommen, als wir zusammen waren. Doch wie es so läuft, nach einiger Zeit hatte ihn ein anderes Mädchen um den Finger gewickelt. Emil und ich verkrachten uns so heftig, dass ich die Familie verlassen musste.«

Carl hatte ihr aufmerksam zugehört. Amanda hatte Ähnliches durchgemacht. Sie konnte ihn verstehen. So begann er, ihr flüsternd von seiner Liebschaft mit Heléne zu erzählen, während auf der Leinwand Filmaufnahmen von einem Übungsmanöver der deutschkaiserlichen Armee flackerten. Carl erzählte, wie sie im Winter zusammen auf dem Kachelofen heißen Kakao getrunken hatten. Wie Heléne ihm eine Mütze gestrickt hatte, die erst nach Ostern fertig wurde. Wie sie zusammen an Sommerabenden auf frisch gemähten Wiesen gelegen und einander Gedichte vorgelesen hatten. Er erzählte ihr, wie ihre Eltern eine Hochzeit mit einem anderen arrangiert hatten, wie Heléne sich viel zu bereitwillig in ihr Schicksal gefügt und Carl vergessen hatte.

Er endete mit den Worten: »Das ist jetzt fünf Jahre her.«

»Eine lange Zeit. Hast du denn seither niemanden gefunden?«

»Bekanntschaften, aber nicht die Liebe.«

Sie schaute ihn forschend an. »Der Schminkspiegel. Es war ihrer, nicht wahr?«

Carl nickte.

»Er ist ein Teil von ihr, an dem du festhältst. Sie wird dich nie gehen lassen, wenn du sie nicht gehen lässt. Wirf alles weg, was dich an sie erinnert, sonst wird sie dir immer im Weg stehen, wann immer du versuchst, dein Glück zu finden.«

Auf der Leinwand hatte ein neuer Film begonnen. In einem Kunstatelier mischte ein Künstler die Farbe, während sein Modell sich auszuziehen begann. Die Frau stellte sich in Pose, und er begann, sie mit ausladenden Pinselstrichen auf ein großes Papier zu malen. Der Film flackerte stark, die Bilder waren nicht so klar und scharf wie die eines Meisters wie Georges Méliès.

»Glaube mir, ich kenne mich in Liebesdingen aus. Ich habe sie mein Leben lang studiert.«

Die Frau im Evakostüm näherte sich dem Künstler und öffnete seine Hose. Carl schüttelte den Kopf. »Dreht sich denn die Welt hier nur um das eine?«

»Was meinst du?«

»Na, das hier.« Carl zeigte empört auf die Leinwand.

Amanda lachte und winkte mit dem Programmzettel, der auf den Stühlen lag. »Was denkst du, was ›Herrenvorstellung mit pikantem Programm‹ bedeuten soll?«

»Lass uns einen Kaffee trinken gehen«, schlug Carl vor.

***

Sie hatten sich gestern in seinem Automobil geliebt. Amanda spürte, wie sie lächelte. Er hatte etwas an sich. Seine Kultiviertheit und diese menschliche Wärme hatten sie in ihren Bann geschlagen. Eine alte, längst tot geglaubte Regung machte in ihrem Innersten auf sich aufmerksam. Vielleicht war es die Art, wie er sie ansah. Wie er sich zwang, sie nicht anzustarren. Wie er ihren schlanken Hals betrachtete. Wie er einen verstohlenen Blick von ihren Fesseln erhaschte. Sie hatte seine Blicke auf ihrer Taille gespürt. Er schaute sie nicht lüstern an, sondern bewundernd, wie ein Kunstbegeisterter eine antike Alabasterstatue. Unter seinem Blick fühlte sie sich schön. Aber auf eine erregende Art und Weise auch als etwas Verbotenes.

Sie war es gewesen, die ihn geküsst hatte. Aber es war nicht ihre Absicht gewesen, gleich im Automobil aufs Ganze zu gehen. Es hätte gesittet im Bett seines Hotelzimmers geschehen sollen. Eines hatte zum anderen geführt. Die Dinge hatten sich verselbstständigt.

Und es hatte sich so gut angefühlt!

Danach aber war Carl ihr plötzlich fern gewesen. Erneut war er ihr entronnen. Er verließ das Automobil, galant, aber bestimmt. Es tat ihr weh. Aber warum? Was war es, das sich in ihr Bahn brach?

Sie hatte ihn diesen Morgen wieder aufsuchen müssen. Sie durfte ihn nicht verlieren. Gewiss, ihres Auftrages wegen musste sie an ihm dranbleiben. Aber was der Wahrheit viel näher kam: Sie wollte ihn nicht verlieren.

***

Carl und Amanda ergatterten im Restaurant einen Platz am Fenster mit einer großartigen Aussicht auf die Wasserfälle. Unten im Taleinschnitt, da, wo der Giessbach ein kleines Becken bildete, bevor er einen Bogen zum See hin vollführte, waren Zimmermänner damit beschäftigt, eine Plattform aus Balken und Bohlen zu errichten.

»Da entsteht gerade die Bühne für die Veranstaltung heute Abend«, kommentierte Amanda.

Reichenbach hatte es vor drei Tagen angekündigt. Waren tatsächlich erst drei Tage vergangen? Carl musste nochmals nachrechnen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, gleichzeitig war die Zeit wie ein Zug an ihm vorbeigerast.

Heute war also der Kongressabend anberaumt, die Orion-Gesellschaft würde den angeblichen Weltuntergang feiern, während die Erde den Schweif des Kometen durchquerte.

»Es ist ein Riesenspektakel geplant«, versprach Amanda. »Das darfst du auf keinen Fall verpassen, du wirst mich heute Abend tanzen sehen.« Sie blickte ihn mit ihrem kecken Seitenblick an.

Carl hätte am liebsten diesen Augenblick eingefroren, als plötzlich der Concierge aufgeregt winkend in das Restaurant stürmte. »Carl Lohser? Ist hier ein Carl Lohser?«

Carl schoss aus seinem Stuhl hoch. »Ja, hier.«

»Ein Telefonat für Sie. Eine Frau Gisela ist am Apparat. Kommen Sie mit!«

Gisela, Vaters Haushälterin. War Vaters Krankheit schlimmer geworden? War er am Ende sogar … Es war nicht auszudenken.

Carl eilte in großen Schritten hinter dem Concierge an die Theke und ergriff den Hörer aus schwarzem Ebonit, hielt ihn sich ans Ohr und beugte sich zur Sprechmuschel hinab.

»Gisela. Hier ist Carl!«, rief er aufgeregt.

»Ja. Hier ist Gisela. Grüezi, Carl.« Sie wirkte unruhig. Oder lag es bloß daran, dass ihr generell das Telefonieren nicht geheuer war?

»Carl, wie geht es dir?«, fragte Gisela.

»Gut. Ist etwas mit Vater?«

Ein Rascheln. Dumpf, als ob sie sich den Hörer an die Brust presste. Ein Murmeln, es klang wie: »Carl ist in der Leitung.«

Mit wem sprach sie? »Gisela. Was ist da los bei euch? Geht es Vater gut?« Seine Stimme zitterte.

Er hatte gar nicht bemerkt, wie Amanda hinzugekommen war. Sie nahm seine freie Hand und drückte sie sanft.

Ein Ächzen und Husten war zu vernehmen, doch es klang lange nicht mehr so rasselnd wie letzte Woche. »Carl. Wie läuft es da oben?«

»Gut, gut.« Carl war erleichtert, seinen Vater zu hören. Wenn es Köbi bis zum Telefonapparat im Wohnzimmer geschafft hatte, bedeutete dies, dass es ihm schon besser ging.

»Aber wie geht es dir?«

Köbi schilderte, wie Gisela ihn beinahe erdrückt hatte mit ihrer Fürsorge. »Ich habe diese Zwiebelwickel nicht mehr ausgehalten. Ich rieche wie ein Küchenknecht.« Er habe nur noch einen einzigen Ausweg gesehen, nämlich, so schnell wie möglich wieder gesund zu werden.

Die Anspannung fiel von Carl ab, und er schmunzelte.

Amanda flüsterte ihm ins Ohr: »Ich muss noch für heute Abend üben.«

Carl nickte ihr zu, und sie verabschiedete sich mit einem Schmatzer auf die Wange, sodass ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Der Concierge übersah die Zutraulichkeit mit professioneller Diskretion.

»Und wie schlägst du dich da oben?«, fragte Köbi.

Carl berichtete seinem Vater, dass sein Referat ein großer Erfolg gewesen sei.

»Ich hoffe, du hast die Herren nicht mit zu vielen technischen Details gelangweilt.«

»Sie konnten mir gut folgen.«

»Vergiss nicht, das sind Geschäftsmänner. Keine Techniker. Hast du auch bilaterale Gespräche geführt?«

»Gewiss doch. Die Herren Boveri und Brown haben großes Interesse gezeigt.«

»Ach, die beiden. Sprich doch noch mit Erich Züst, der ist Nationalrat.«

»Ja, ich weiß.« Ausgerechnet der.

»Und mit Max Bossard musst du dich auch gut stellen. Dem Dogen.«

War das der Grund für seinen Anruf? Carl vorzuschreiben, wie er seine Aufgabe zu verrichten hatte? Vater musste es tatsächlich wieder besser gehen.

»Glaube mir, ich habe alles im Griff.« Carl fand, dass es besser war, das Duell, den Steinschlag und seinen Verdacht auf Sabotage unerwähnt zu lassen. Vorerst zumindest.

»Hör ruhig auf deinen alten Herren.«

»Tu ich.« Da hatten sie es wieder, diese Vater-Sohn-Situation. Carl schürzte die Lippen. Ausgerechnet was den Fernsprecher betraf, war sein Vater nicht altmodisch. Er wusste ihn geschickt einzusetzen, um seinen Jungen zu kontrollieren.

Köbi musste Carls Verstimmung erahnt haben. Sein Ton wurde sanfter. »Wie kommst du zurecht in der Welt der Orion-Gesellschaft?«

»Einige dieser Leute sind recht eigenwillig.«

Köbi lachte, was einen Hustenanfall auslöste »›Eigenwillig‹ ist gut. Man muss ja nicht bei jedem Unsinn mitmachen.«

Sollte Carl ihn gerade zur Rede stellen, bei welchem Unsinn er sich denn früher beteiligt hatte? Er entschied sich dagegen, so etwas besprach man nicht am Telefon. Er würde ihn zu Hause fragen.

Vielleicht.

»Ich bin stolz auf dich, Sohnemann.« Dies kam jetzt völlig unvermittelt für Carl.

Nach Vaters Anruf konnte Carl unmöglich verfrüht nach Hause zurückkehren. Zudem wollte er Amanda eine Freude machen und ihr beim Tanzen zusehen. Er würde bis morgen bleiben und konnte sich auch wieder auf das Knüpfen von Geschäftskontakten konzentrieren. Und was sprach dagegen, sofort damit zu beginnen? Er hatte drei Kongressteilnehmer vor dem Haupteingang beobachtet, die sich mit grobem Schuhwerk und Wanderstöcken gerüstet versammelten: Rotfuchs Gregor Rhynegger, der Schlachtereibesitzer Bänzli sowie Nationalrat Züst. Jeder von ihnen trug ein Körbchen mit Wurst, Käse und Brot bei sich.

Noch bevor sie das Kurhaus passierten, hatte Carl aufgeholt. »Guten Tag, meine Herren. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich Ihnen anschließe?«

»Herr Lohser, kommen Sie auch mit auf die ›Wanderung‹?« Rhynegger betonte das Wort Wanderung so, als würde er es in Gänsefüßchen setzen.

»Nun ja, es ist ja auch gesünder zu wandern, anstatt mit dem Automobil zu fahren.« Dieser Einstieg in die Thematik war jetzt etwas plump geraten, erkannte Carl. Rhynegger ging nicht darauf ein. Stattdessen deutete er auf Carls leere Hände. »Haben Sie kein Fresspäckchen erhalten?«

»Ich habe nicht vor, allzu weit zu gehen«, sagte Carl.

Rhynegger wandte sich an Bänzli. »Der Lohser sagt, er wird nicht weit wandern.«

Bänzli lachte. »Ja, da hat er recht, ich nämlich auch nicht.« Er keuchte und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Ist so schon weit genug.«

Schnell hatten sie die Halde über den Zickzackweg erklommen, und die Pension Beau Site lag vor ihnen. Das Grüppchen steuerte schnurstracks darauf zu. Die hatten tatsächlich nicht vor, weit zu gehen, wurde Carl klar. Obwohl das Beau Site angeblich für die Dauer des Kongresses geschlossen war, herrschte hier reger Betrieb. In der Gaststube hatten sich schon gut ein Dutzend Männer versammelt. Carl erkannte Bundesrat Zobrist, die Brüder Eduard und Arthur Bally und Olaf Inderbitzin. Die Unterhaltungen verliefen mit gedämpften Stimmen.

Bänzli raunte Carl zu: »Friedrich Klemens persönlich hat mich hierzu eingeladen. Wie ich zur Neutralität der Schweiz stehe, hat er gefragt.« Er schmunzelte verschwörerisch.

Rhynegger fügte hinzu: »Mich hat er gefragt, wie ich zum Deutschen Reich stehe. Ich habe gesagt, meine Geschäfte sind grenzübergreifend, man arrangiert sich.«

»Und Sie, Lohser? Hat Klemens auch persönlich bei Ihnen angefragt?«, wollte Bänzli wissen.

»Mir ist es so wie Ihnen ergangen«, flunkerte Carl. »Sind wir einmal gespannt.« Er hatte keine Ahnung, worum es hierbei ging, doch die Neugierde packte ihn, und so reihte er sich in aller Selbstverständlichkeit hinter den Anstehenden vor dem Speisesaal ein.

An der Tür stand einer von Klemens’ Leibgardisten mit einer Liste in der Hand. Jeder, der eintreten wollte, musste seinen Namen angeben, selbst der Bundesrat. Carls Name würde nicht auf der Liste stehen. Er beschloss, doch besser zum Hotel zurückzukehren. So trat er wieder aus der Kolonne und drängte sich beim Ausgang an Generalleutnant Manfred Brechtesloh vorbei.

»Herr Lohser, haben Sie es eilig?«, rief ihm dieser hinterher.

»Ich dachte, hier könne man in aller Ruhe zu Mittag essen«, antwortete Carl.

Bossard häufte am Buffet ungeheure Mengen auf seinen Teller. Carl, der neben ihm stand, nahm sich etwas Salat. Es waren einige, die zum Mittagessen im Grandhotel geblieben waren. Sicherlich konnte ihm der Doge Auskunft geben, worum es sich bei der Versammlung im Beau Site handelte. »Was ist denn das für eine Veranstaltung, die gerade stattfindet?«

»Diesen Vormittag finden keine Veranstaltungen statt. Wenn Sie sich bemüßigen würden, einen Blick ins Tagesprogramm zu werfen, würden Sie sehen, dass für heute freies Wandern anberaumt wurde.«

Carl gefiel der belehrende Tonfall Bossards nicht, er schluckte seinen Kommentar aber hinunter. »Ja von den ›Wanderungen‹ habe ich gehört. Sie nehmen nicht daran teil?«

»Was soll diese Frage, Lohser? Sehe ich aus, als ob ich wandere?« Er deutete auf seine Wampe und schaute empört zu Carl hoch.

»Herr Bossard, ich … Es war nicht meine Absicht –«

Bossard unterbrach ihn und drohte mit einem Finger, der von Bratfett glänzte. »Hören Sie, Lohser! Sie mögen vielleicht der Sohn von Köbi sein, aber ich mag Sie nicht.« Damit drehte er Carl seinen feisten Rücken zu und trottete mit dem Teller zu einem Tisch, an dem bereits Zwyssig, Kandlbaur, Wyss und noch weitere zu Mittag aßen.

Unter Bossards glühendem Blick, der besagte: »Komm mir bloß nicht zu nahe«, setzte sich Carl möglichst weit von ihm weg an einen freien Platz neben Boveri und stocherte in seinem Salat. Carl hatte wirklich ein Gespür für Fettnäpfchen. Doch es machte den Anschein, dass der Doge der Orion-Gesellschaft keine Ahnung vom Treffen in der Pension Beau Site hatte.

Boveri vertraute Carl an, dass er den Kongress noch an diesem Nachmittag verlassen werde. »Auf mich wartet zu Hause eine Menge Arbeit.«

»Ich habe mit demselben Gedanken gespielt«, sagte Carl.

Dann betrat Charles Eugene Lancelot Brown den Restaurantbereich. Man sah ihm schon von Weitem die ausschweifungsreiche Nacht an, die hinter ihm lag. Er richtete seine Brille auf der Nase, überblickte das Buffet und entschied sich für eine große Tasse schwarzen Kaffees. Müde wankte er zu den Tischen und setzte sich gegenüber von Carl hin.

»Was für eine Nacht«, sagte er. Er versuchte sich an einem Lächeln, nippte an der Tasse und gelangte offenbar zu dem Schluss, dass das Gebräu noch zu heiß war. »Kaffee ist das Einzige, was jetzt noch hilft.«

Carl musterte Boveri zu seiner Linken. Boveris Miene war irgendwo beim Übergang vom Erstaunen zur Empörung erstarrt. Seine Augen fixierten seinen verkaterten Geschäftspartner, der geistesabwesend einen unsichtbaren Punkt auf dem Tischtuch betrachtete, und Carl fragte: »Wie geht es Ihnen?«

Brown hob den Blick und erkannte erst jetzt den Mann neben Carl. »Ach so. Du bist auch da, Walter? Da ist er wieder, dieser vorwurfsvolle Blick. Ohne den würde ich dich kaum wiedererkennen.« Er schnaubte humorlos. »Ich schätze, meine Darbietung gestern hat dir nicht gefallen. Aber weißt du was? Es war ein Riesenspaß. Ja, es gibt noch Leute, die wissen, was Spaß ist. Nicht so wie du mit deinem Stock im Allerwertesten und deinen Zahlen. Immer deine Zahlen!« Er blickte Boveri herausfordernd an. »Du strafst mich mit Schweigen? Mir soll’s recht sein. Ich weiß genau, was in dir vorgeht: Du denkst, ich werfe ein schlechtes Licht auf unseren Betrieb. Schade unserem Ansehen. Du schämst dich für mich. Aber ich schäme mich auch für dich! Nie bist du ausgelassen, nie ein Lächeln oder ein nettes Wort. Nie siehst du großzügig über die Eigenart einer Person hinweg, wenn sie dir nicht in den Kram passt. Aber das war nicht immer so. Du hast dich verändert.«

Die Gespräche im Saal waren verstummt, und alle lauschten seiner Rede. Vielleicht war es ihm entgangen, vielleicht war es ihm aber auch egal.

»Weißt du nicht mehr, was wir vereinbart haben, als wir noch jung waren und uns mit eigenen Kräften die Möglichkeit erarbeiteten, die BBC zu gründen? Wir haben vereinbart, du leitest das Geschäft, und ich widme mich am Konstruktionstisch neuen Entwicklungen. ›Jedem sein Pläsierchen‹, haben wir gesagt. Aber der Betrieb ist gewachsen, Arbeiter wurden angestellt und mehr Arbeiter und noch mehr. Die Presse hat sich für uns interessiert, und plötzlich musste ich mich zurückhalten. Ich musste immer aufpassen, wie ich nach außen wirken könnte. Nicht, weil es mir peinlich war. Oh nein! Sondern, weil es dir peinlich war! Du hast dich für das Unikum von Baden, das mit seinem Hochrad auf dem Schulhausplatz Kunststücke vorführt, geschämt.«

Er versuchte erneut, an seiner Tasse zu nippen. »Ich hätte alles werden können, Musiker, Bildhauer, Maler, ich wäre immer ein großer Mann geworden! Viel zu lange habe ich mich deinen Erwartungen gebeugt, habe die Entwicklungsarbeiten sträflich vernachlässigt, um mit dir den Betrieb zu leiten. Aber ich kann so mein Potenzial nicht voll ausschöpfen. Ich will nicht zu einem solch bornierten Bünzli werden wie du! Die Leute mögen mich so, wie ich bin. Aber mögen sie dich auch?« Seine Stimme war laut geworden. »Ja, ich weiß, ich weiß, ich bin noch immer etwas betrunken!« Er blickte sich um und erkannte, dass alle Blicke im Saal auf ihn gerichtet waren.

Er knallte die Tasse auf den Tisch. Kaffee tropfte auf das weiße Tuch, und Brown erhob sich unter großen Anstrengungen vom Stuhl. Mit gemäßigterer Stimme fügte er hinzu: »Das musste mal gesagt werden.«

Er wankte einige Schritte davon, blieb stehen und drehte sich nochmals um. »So, jetzt kannst du beruhigt sein. Ich werde dir weitere Peinlichkeiten ersparen und reise ab nach Hause. Dann kannst du hier ungestört deinen trockenen Geschäften nachgehen.«

Damit zog er von dannen.

***

»Meine Herren. Ihr alle lest die Zeitung«, eröffnete Reichenbach. Der Kongressleiter hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft, die sich im Speisesaal der Pension Beau Site eingefunden hatte. Fürstenfeldt bewunderte sein Talent für feurige Ansprachen, schon seit er ihn das erste Mal hatte reden hören.

»Mütterchen Russland liegt im Krankenbett. Geplagt von inneren Entzündungen. Diagnose: Sozialismus. Das Volk erhebt sich. Droht mit erhobener Faust dem Zaren Nikolaus II. Wird der Zar der Entzündung Herr werden? Oder wird die Entzündung sich auch auf ihn, den Kaiser und Autokraten aller Russen, ausbreiten und ihn in die Knie zwingen? So ist Mütterchen Russland gelähmt vom Fieber. Unfähig, die Decke des Krankenbetts zurückzuschlagen, geschweige denn, über seinen Vorgarten zu wachen.«

Reichenbach wartete das zustimmende Gemurmel seiner Zuhörerschaft ab und fuhr dann fort: »Das Britische Imperium andererseits plagt ein wucherndes Geschwür. Chronischer Hochmut ist die Diagnose. King Georg V. und sein Volk halten sich für die vorherrschende Weltmacht. Halten sich regelrecht für unsterblich. Der König lehnt sich zurück und sieht, dass es gut ist, sein Reich, und ruht sich in seiner unendlichen Herrlichkeit auf seinen Lorbeeren aus. Diese Erkrankung zeigt sich nicht in Unwohlsein, und so sieht man sich auch nicht genötigt, eine Medizin dagegen zu nehmen. Man bemerkt zudem nicht, wie sie blind macht. Blind gegenüber den brodelnden Hexenkesseln von chronischen Volksaufständen und Unruhen, die in den zahllosen Kolonien zum Himmel dampfen. Blind gegenüber dem Rost, der sich unaufhaltsam durch die einst so stolze Kriegsflotte frisst wie der Holzwurm durch Tante Ernas Kommode.«

Beifall erscholl.

»Meine Herren, sehen Sie es mir nach, Sie würden mich korrigieren, wenn ich behaupten würde, ein Flickenteppich sei eine Krankheit. Doch für eine Großmacht ist es eine ernsthafte Krankheit, ein Flickenteppich aus vielen verschiedenen Völkern zu sein. Dies trifft auf die kaiserliche und königliche Donaumonarchie Österreich-Ungarn zu. Die Volksgruppen sprechen unterschiedliche Sprachen und sind untereinander verfeindet. Kaiser Franz Ferdinand hat größte Mühe, sein Reich zusammenzuhalten, und was tut er? Er gliedert auch noch Bosnien in das Habsburgerreich ein. Wir alle wissen, dass die bosnischen Serben nicht gerade seine besten Freunde sind. Hoffen wir, dass Österreich-Ungarn nicht den Flickenteppich-Symptomen erliegt.«

Reichenbach leerte ein Schnapsglas mit einem einzigen Schluck. »Frankreich indes zieht sich geschüttelt von fiebrigen Angstanfällen zurück in seine Ecke und befestigt panisch seine Ostgrenze mit Verteidigungsanlagen. Aber verwechseln wir nicht Defensive mit Passivität. So mancher, der mit dem Rücken zur Wand stand, hat rotgesehen und sein Heil im blinden Angriff nach vorne gesucht. Wobei Frankreich vorne ist, das wissen wir nur zu gut, meine Herren. Vorne ist da, wo das Deutsche Kaiserreich liegt. Und – das dürfen wir keinesfalls vergessen – vorne ist da, wo die Schweiz liegt!«

Wieder ließ er seine Worte einen Moment lang sacken und fragte anschließend mit ruhiger, eindringlicher Stimme: »Sollte sich unsere kleine Insel inmitten des brodelnden Meeres namens Europa isoliert halten und der Dinge harren, die noch auf uns zukommen?« Er blickte von einem Gesicht zum nächsten. »Oder sollten wir uns nicht besser mit einem unserer Nachbarn verbünden? Aber mit welchem bloß?«

Er legte mit gekünstelter Geste den Zeigefinger seiner linken Hand auf die Oberlippe und mimte den Denkenden. »Inmitten des kränkelnden Europas befindet sich ein kerngesundes Reich, ein vereintes Volk. Vereint vor vierzig Jahren durch den Visionär und ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck. Es wird von einem vitalen Kaiser regiert. Es wächst und gedeiht prächtig. Schon jetzt ist sein Bettchen zu klein, sind seine Hosen zu eng. Es will sich auftun, sich ausbreiten nach West und Ost. Wenn wir auf ein Pferd setzen wollen, dann nicht auf einen lahmen Gaul, der im Stroh liegt und den Fliegen beim Kreisen zusieht, sondern auf einen tänzelnden, vor Kraft strotzenden Hengst mit wallender Mähne, der kaum noch hinter der Startlinie zu bändigen ist. Er wartet auf den Startschuss, um seine Kontrahenten im Staube keuchend hinter sich zu lassen.«

Zustimmende Rufe erschallten. Applaus brandete auf. Fürstenfeldt spürte, wie sich ihm angenehm prickelnd die Haare auf den Armen aufstellten.

Reichenbach überbrüllte seine Zuhörerschaft: »Wir alle sind hier, um auf diesen Hengst zu setzen!« Damit schloss er und verließ unter frenetischem Applaus das Rednerpult. Fürstenfeldt hoffte, man möge den Krach nicht bis zum Grandhotel vernehmen.

Wenn es Reichenbachs Aufgabe gewesen war, die Meute für den nächsten Redner, Theodor Zobrist, aufzuheizen, hatte er weit mehr vollbracht. Die Worte des Bundesrats wirkten im direkten Vergleich farblos und einstudiert, doch stießen auch sie bei den »Auserwählten« auf offene Ohren.

Der Generalleutnant und Friedrich Klemens hatten seit nunmehr eineinhalb Jahren auf das hingearbeitet, was hier Formen annahm. Gemeinsam hatten sie an zahlreichen Projektsitzungen Überlegungen angestellt, welche Personen sie für die Umsetzung von Brechteslohs Unterfangen gewinnen mussten. Hatten Strategien ausgearbeitet, wie sie diese Personen angehen konnten. Hatten festgelegt, wer zu den Auserwählten gehören sollte. Hatten die Prüfresultate sämtlicher Mitglieder der Orion-Gesellschaft ausgewertet. Hatten erörtert, wer voll und ganz ihre Wertvorstellungen teilte oder wer zumindest so weit ideologisch flexibel war, dass man mit ihm arbeiten konnte.

Bei einigen der unzähligen Besprechungen mit Wirtschaftskapitänen und Politikern, die daraufhin folgten, war auch Fürstenfeldt anwesend gewesen. Er hatte festgestellt, dass die Kandidaten, die aus dem Evaluationsverfahren hervorgegangen waren, nicht zwingend zu den angenehmsten Zeitgenossen zählten. Sie waren herablassend, elitär, misstrauisch und schienen dauernd mit der Frage beschäftigt: Zieht er mich über den Tisch oder ich ihn?

Unter ihnen gab es aber auch Unterschiede. Manche wollten richtiggehend gehätschelt und umworben werden. Andere folgten einem gnadenlosen Pragmatismus nach dem Motto: »Wenn sich eine Gelegenheit bietet, greife sofort zu! Du kannst immer noch hinterher schauen, wonach du gegriffen hast.« Klemens’ und Brechteslohs Verhandlungsgespräche hatten sich noch bis zum gestrigen Tag hingezogen, und auch untereinander setzten sich die Auserwählten hin und sprachen sich ab. Sie wollten sich absichern, was die anderen vom Angebot des Deutschen Kaiserreichs hielten, und tauschten sich über ihre Geschäfte und Gegengeschäfte aus. Dass bis jetzt noch kein einziges Wort nach außen gedrungen war, zeigte nur, wie ernst es allen war.

Ein feinmaschiges Netz, das die gesamte Deutschschweizer Politik und Wirtschaftswelt umfasste, war so entstanden. Jeder Knoten war vorherbestimmt und unverzichtbar. So sahen sich Klemens und Brechtesloh gelegentlich vor Herausforderungen gestellt. Was bot man jemandem an, dessen Einfluss, Macht und Reichtum für das Gelingen des Unterfangens zwingend erforderlich waren? Dem im Gegenzug aber kein Abnahmevertrag mit dem Deutschen Kaiserreich angeboten werden konnte, weil sein Unternehmen Porzellanpuppen oder rosa Stoffbändchen für Geschenkverpackungen herstellte? Es hatte sich dann nach langem Überlegen herausgestellt, dass die Antwort auf diese Frage bestechend einfach war: Man verschaffte ihm die Aussicht auf noch mehr Einfluss, Macht und Reichtum. Die Gier war immer die Triebfeder des Krieges gewesen und würde es immer sein, nicht etwa Nationalismus oder Religion. Man verkaufte Krieg bloß unter diesen Etiketten dem Volk und den Soldaten, um ihnen ein Ziel vor Augen zu halten. In Tat und Wahrheit aber ging es immer um Territorien, Rohstoffe und die damit einhergehende Macht.

Eines hatten alle Ansprachen von geübten Politikern gemein: Man erkannte es am Tonfall, wenn sie sich langsam dem Ende näherten, und so war es auch bei Bundesrat Zobrist nicht anders. Nun kam es zum eigentlichen Kernthema der Veranstaltung, das jeder der hier Anwesenden gespannt erwartete. Alle würden erkennen, wie ernst die ganze Angelegenheit war und dass sie Akteure bei etwas Großem, ja Geschichtsträchtigem sein würden. Nach Reichenbach und dem Bundesrat brauchte der Mann der Stunde keine umschweifenden Worte mehr zu verlieren. Der Generalleutnant stellte sich vor die Karte Mitteleuropas, schwellte die Brust und erläuterte das »Brechtesloh-Manöver«.

***

Nicu musste beim Gefangenen Wache halten und saß sich auf einem einfachen Holzstuhl den Hintern platt. Ihm gegenüber war Mustafa in sich zusammengesunken, sodass ihn nur noch die Fesseln in seiner Position zu halten schienen. Sein Gesicht war kaum mehr wiederzuerkennen, aufgequollen und von unzähligen Wunden gezeichnet, die sich zu einer einzigen vereinten. Er starrte vor geronnenem Blut. Ob Fritz’ und Nicus Schläge auch innere Verletzungen verursacht hatten? Er würde wohl kaum in ein Spital gebracht und versorgt werden, es bestand schließlich die Gefahr, dass er entkam und sein Vaterland warnte. Mustafa selbst musste wissen, dass er nur noch in horizontaler Lage diesen Raum hier verlassen würde.

Unvorstellbar für Nicu. Wie konnte jemand, für den keine Hoffnung mehr bestand, sich so vehement gegen die Aussage verwehren, für wen er arbeitete oder wo er dieses vermaledeite Notizbuch versteckt hielt? Oder steckte da mehr dahinter? Steckte so viel Treue für seine Nation dahinter? Oder anders gefragt, beinhaltete dieses Notizbuch solch immens wichtige Informationen, dass es wert war, dafür endlose Schmerzen zu erdulden oder sogar zu sterben? Nicu konnte sich nicht vorstellen, was das sein mochte.

Klemens und die Deutschen aber mussten es wissen, und sie ließen Nicu im Dunkeln tappen. Er hasste es. Fühlte sich ausgeschlossen und zurückgelassen. Währenddessen setzten sie ihren neuen besten Freund, diesen Dirnenspross von Fritz, an der heiteren Versammlung im Gasthaus ein. Zugegeben, er hatte ihnen vom Telegramm des französischen Geheimdienstes erzählt, dessen Inhalt Nicu bereits wieder entfallen war. Dieses VDG-Dings. Und er hatte es auch besser als Nicu ertragen, dem Spion Schmerzen zu bereiten, aber was hatte das schon zu bedeuten? Schließlich waren sie als Leibgardisten angestellt und nicht als Folterknechte.

Dann war da noch etwas, was die Deutschen nicht wissen konnten. Fritz war gar kein so harter Kerl, wie die dachten. Schon zwei Mal war Nicu des Nachts in der Kammer aufgewacht, weil Fritz nach Hilfe rufend im Bett gezappelt und eindeutige Alpträume vom Ertrinken gehabt hatte. Da steckte ein eingeschüchtertes Kind in seinem Innersten. Ein geistiger Schwächling.

»Was starrst du mich so an, hä?«, fragte Nicu den Spion.

Im Lichte der Öllaterne blitzte es aus zwei geschwollenen Augen.

»Du findest das wohl lustig, dass ich hier auf dich aufpassen muss.«

Mustafa fixierte ihn weiter. Sein Atem rasselte gequält.

»Französischer Abschaum!« Nicu spuckte auf den erdigen Boden. »Hättest besser ausgepackt, dann hättest du dir und mir vieles erspart.«

Wenn auch Mustafas Gesicht verunziert war, konnte Nicu so etwas wie Trotz darin lesen. »Du hast besser ausgesehen, als du uns an der Bar alle noch an der Nase herumgeführt hast. Du hattest deinen Triumph. Aber das Blatt hat sich gewendet. Jetzt sitzt du da mit gebrochenen Gliedern und einer unerfreulichen Zukunft.«

Mustafa senkte den Blick.

»War es das jetzt wert? Ist dein Land es wert, dafür zu sterben?« Gab es überhaupt etwas, was es wert war, dafür zu sterben?

Mustafa schien noch mehr in sich zusammengesackt zu sein. Waren es Nicus Worte, die seinen Stolz gebrochen hatten?

»Ja, schweig ruhig weiter.« Nicus Magen knurrte. »Jetzt fressen sie da Salami und Käse, saufen Bier und lassen es sich gut gehen, während ich hier bei dir feststecke.« Nicu musste sich vom Hunger ablenken. »Hattest du auch etwas mit Amanda? Ich habe euch ein paarmal zusammen gesehen.«

Es machte den Eindruck, dass alle, die mit ihr in Kontakt standen, in Schwierigkeiten geraten waren. Palanti wurde verletzt, Trusseau war tot, und Mustafa blühte dasselbe Schicksal. Nur dieser feine Pinkel mit dem Automobil stand noch aufrecht. Das würde sich bestimmt auch bald ändern.

»Du hast diesen Trusseau gekannt, nicht wahr? War sicher ein Freund von dir.«

Natürlich war von Mustafa keine Antwort zu erwarten. Er war still. – Zu still! Das gequälte Röcheln war weg. Nicu sprang aus seinem Stuhl hoch. Mustafa hatte aufgehört zu atmen!

»Stirbst du jetzt?« Nicu konnte sich nicht erlauben, dass er in seiner Anwesenheit den Löffel abgab. Er näherte sich Mustafa und horchte an seiner Nase nach einem Atemgeräusch. Plötzlich riss Mustafa seine Augen auf und knallte seine Stirn gegen Nicus Gesicht. Nicu torkelte zurück und fing sich gerade noch an der Wand. Mustafa explodierte förmlich, wand sich und zerrte an den Fesseln. Mitsamt Stuhl gelangte er auf die Füße. Er spannte und krümmte seinen gesamten Körper. Das Holz begann zu knirschen, aber noch hielt der Stuhl. Nicu schüttelte die Benommenheit ab. Mit der Schulter voran stürmte er auf den tobenden Gefangenen zu und riss ihn zu Boden.

Mustafa schien die Sinnlosigkeit seines Unterfangens eingesehen zu haben und beruhigte sich wieder. Nicu stellte ihn wieder aufrecht hin. »Netter Versuch!«

Mustafa hatte Nicus Riechkolben nur knapp verfehlt, aber sein Schädel brummte. Er nahm sich vor, vorsichtiger zu sein, während er sich wieder hinsetzte.

Mustafa blitzte aus seinen geschwollenen Augen. Nicu starrte wortlos zurück.

Nach einer Stunde öffnete sich die Tür, und Witt und Fritz betraten den Raum. »Was ist denn mit dir geschehen?«, wollte Fritz wissen, als er Nicus blaues Auge sah.

Er hielt ihm einen Leinensack mit Resten der Wanderverpflegung hin. Nicu schnappte ihn sich und stampfte hinaus.

Das Zimmer neben Amandas stand für die Dauer des Kongresses leer. Ein Ort, um ihr etwas näher zu sein und mit ihr private Augenblicke zu teilen. Der ihm von Klemens zur Verfügung gestellte Schlüsselbund machte es Nicu möglich. Das Guckloch hatte er schon vor zwei Tagen mit einem Handbohrer angebracht, als Amanda im Salon beschäftigt gewesen war.

Er würdigte die Aussicht aus dem Fenster auf das zauberhaft glitzernde Wasser des Giessbachs keines Blickes. Es würde sich nie im Leben mit der Aussicht messen können, die sich ihm gerade bot. Amanda tanzte. Nur in Unterwäsche gekleidet: Fischbein-Mieder, Strümpfe und Strumpfhaltergürtel. Das Grammofon schepperte ein klassisches Stück, und die Nadel in der Rille der Schellackplatte kratzte. Der Augenblick – ihr gemeinsamer Augenblick – war perfekt. Im Sonnenlicht, das das Eckzimmer flutete, drehte sie sich im Kreis mit grazil ausgebreiteten Armen. Als sie die Arme beugte, beschleunigte sich ihre Drehung noch, was Nicu sehr faszinierte. Sie hüpfte auf und landete mit einem Geräusch auf dem hölzernen Fußboden, das nicht lauter war als das einer Katze, die vom Bett gesprungen war.

Das hatte Nicu jetzt gebraucht, um auch gedanklich diesem verdammten Keller der Qualen und bitterer Selbstaufgabe zu entkommen. Der Ort da und der Ort hier hätten entgegengesetzter nicht sein können. Als lägen sie in verschiedenen Welten.

Amanda beugte den Oberkörper nach hinten, als wäre sie aus Kautschuk. Dann klopfte es an ihrer Tür. Sie griff nach dem purpurnen Seidenmantel und schlüpfte hinein. »Wer ist da?«

»Ich bin es.«

Sie öffnete. »Komm ruhig herein.«

Es war dieser Schnösel von Ingenieur. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er: »Störe ich dich bei etwas?«

»Nein, ich habe nur getanzt.« Sie begab sich zum Grammofon und hob die Nadel an.

»Lass die Musik doch laufen. Enrico Caruso? ›La Donna è mobile‹.«

Sie lud ihn ein, sich neben sie aufs Bett zu setzen. »Wie war das Gespräch mit deinem Vater?«

»Gut.« Lohser überlegte. »Er ist auf dem Weg zur Genesung.«

Musste der jetzt ausgerechnet hier in ihren gemeinsamen Augenblick hereinplatzen? Nicus friedfertige Stimmung war im Nu verflogen. Jetzt hätte er den Antrieb, wieder in den Folterkeller zurückzukehren und auf den Spion einzuprügeln. Gerade als er im Begriff war, sich sachte und geräuschlos vom Guckloch zu entfernen, vernahm er etwas, was ihn aufhorchen ließ.

»Worüber ich mit dir reden wollte … In der Pension Beau Site ist etwas Verdächtiges geschehen«, begann Lohser.

»Was meinst du?«

Lohser erklärte, dass er nicht viel sagen könne. Er sei da hineingeraten und schnell wieder verschwunden, als er festgestellt habe, dass er nicht eingeladen war. Danach habe er den Dogen getroffen und ihn zur Rede gestellt. Offenbar wisse der aber von nichts.

»Das Ganze war als Wandertag getarnt. Weißt du mehr darüber?«

Amanda schüttelte den Kopf.

Jetzt hat sie ihn, freute sich Nicu. Endlich konnte Amanda Klemens etwas Handfestes über diesen Kasper liefern. Auch er spionierte im Giessbach herum.

»Ich habe etwas Ähnliches beobachtet. Im Harem«, begann Amanda.

»Harem?«

»Die haben das Billardzimmer wie einen Harem eingerichtet. Ein paar Herren und leichte Mädchen. Du verstehst? Aber das ist nicht, worauf ich hinauswill.« Sie legte Lohser die Hand aufs Bein. »Klemens und Brechtesloh verhandelten da mit dem Bundesrat und zwei Fabrikanten über sehr profitable Geschäfte. Geschäfte mit dem Deutschen Kaiserreich – im Kriegsfall!«

Nicu spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Nein, nicht du auch noch, meine Süße!

»Den Fabrikanten wurden Abnahmeverträge zugesichert, dem Bundesrat ein Weinberg verkauft, und im Gegenzug würde er einem gewissen Herrn Wille zu irgendeinem Posten verhelfen.«

»Ulrich Wille etwa, dem Korpskommandanten?«, fragte Lohser.

»Möglich.«

»Was geschieht auf diesem Kongress?«, schien er mehr sich selbst zu fragen.

Amanda sah ihn an und zuckte die Schulter.

»Zu dem Kongress wurden nur Deutsche eingeladen, keine Franzosen, Österreicher oder Briten«, sagte Lohser. »Die Deutschen suchen nach neuen Techniken für ihre Rüstung. Innerhalb der Reihen der Orion-Gesellschaft finden geheime Versammlungen statt, bei denen Verträge mit dem Deutschen Kaiserreich versprochen werden.«

Amanda dachte nach. »Ob wir in Gefahr sind?«

Lohser sah sie an und legte beschützend eine Hand auf ihre Schulter. »Nicht doch«, sagte er. »Wo wohl Mustafa steckt? Wir könnten ihn befragen. Er weiß erstaunlich viel darüber, was hier vor sich geht. Scheint aber seit seinem kurz angebundenen Erscheinen beim Maskenball verschwunden zu sein.«

»Ich bin ihm seither auch nicht mehr begegnet.«

»Ich habe gesehen, dass er am Ball noch mit dir gesprochen hat.«

Amanda legte ihre Hände an Lohsers Wangen, zog ihn zu sich und küsste ihn. Bald legten sie sich auf die Matratze und liebten einander.

Nicu konnte das nicht mit ansehen und verließ seinen Posten.