Donnerstag, 19. Mai 1910, nach Mitternacht
Der letzte Kongresstag
Am dringlichsten war für Amanda die Befreiung Mustafas, und nachdem sie Carl die Lage des Gefangenen geschildert hatte, teilte er ihre Ansicht. Sie stiegen den Pfad wieder ein Stück hinab und zweigten zur Pension für Hydrotherapie ab. Das Feuerwerk war zu Ende, doch herrschte bei der Bühne noch reger Betrieb. Die Musikkapelle hatte ein fideles Lied angestimmt, und sämtliche Feiernden sangen mit, wobei möglichst laut zu singen einen höheren Stellenwert einnahm als das akkurate Treffen der Töne.
Im Schutze der Nacht und zwischen den Bäumen Deckung suchend, näherten sich Carl und Amanda dem Kurhaus. Carl schlug vor, es zu umrunden und nach dem Kellerfenster zu suchen, hinter dem sich Mustafa befand. Es war mit Gras und Brennnesseln zugewuchert, die er mit einem Stock niederdrückte. Der Kellerraum war dunkel. Amanda schirmte ihre Augen ab und spähte hinein. Sie konnte nichts ausmachen. Die Luft schien rein zu sein.
Auf leisen Sohlen schlichen sie ins Kurhaus und wagten sich in das Untergeschoss hinab.
Die Tür zum hintersten Abteil war nur angelehnt, und Carl stieß sie sachte auf. Ihm wurde klar, wie nahe er sich bei Mustafa befunden hatte, als er in der Badeanstalt in der Wanne lag. Bis auf Mustafa, der an einen Stuhl gefesselt auf dem Boden lag, war der Raum leer. Amanda versuchte, an Mustafas Halsschlagader einen Puls zu fühlen.
»Er … Er ist tot!« Ihre Stimme zitterte. Carl hielt sie fest. Ihre Brust bebte.
Aus dem Flur waren Stimmen zu vernehmen. Sie würden hierherkommen. In diesem engen Kellerabteil gab es nichts, wo sich Amanda und er hätten verstecken können.
Lass sie kommen, dachte Carl. Er würde ihnen geben, was sie verdient hatten. Sie hatten Mustafa, den gutmütigen Barmann, kaltblütig misshandelt und umgebracht.
Stattdessen zerrte ihn Amanda mit sich in den Flur hinaus und schlüpfte durch die halb offene Tür des benachbarten Kellerabteils. Noch bevor Carl ihr folgte, sah er am Ende des Ganges eine Öllaterne um die Ecke biegen. Und er sah noch, was einer der Männer auf den Schultern trug. Es war eine Rolle – ein Teppich.
Im Raum standen Kisten, alte Rohre, Bretter und ausgediente, mit Planen verdeckte Wannen, die einst zur Hydrotherapie eingesetzt worden waren. Carl hob eine staubige Plane an und legte sich darunter. Amanda legte sich eilig auf ihn drauf und drapierte die Plane über ihnen zurecht.
Schon vernahm Carl den Akzent des Rumänen: »Alle vergnügen sich bei der Bühne, während wir hier die Drecksarbeit erledigen.«
Der andere brummte nur.
»Wir wurden nicht als Bestatter eingestellt. Wir müssten jetzt auf Klemens aufpassen und könnten dabei den Tänzerinnen zusehen.«
»Wohl eher nur einer bestimmten Tänzerin.«
»Na und? Immerhin habe ich mit ihr –«
»Scht! Ich höre etwas.«
Die Tür zu Carls und Amandas Kellerabteil wurde knarrend aufgestoßen. Durch einen Spalt zwischen der Plane und der Wanne hindurch nahm Carl den Lichtschein der Öllaterne wahr. Er spürte, wie sich Amandas Herzschlag beschleunigte.
»Das sind bloß die Ratten. Besser, wir bringen den Barmann jetzt schnell weg, bevor wirklich noch jemand hier auftaucht.«
***
Nicu und Fritz öffneten die Tür zum Folterkeller und schnitten den Muselmanen vom Stuhl los. Seine Arme und Beine hatten sich schon so weit versteift, dass er die sitzende Position beibehielt, als sie den Stuhl entfernten. Nicu musste wegsehen, als Fritz mit erheblicher Anstrengung und unter rohen Flüchen die Glieder streckte, um ihn flach hinlegen zu können. Gemeinsam rollten sie ihn in den Teppich.
»Nun muss ich allein auf den See rausfahren, weil Witt bei der Bühne wohl mit einer rummacht und du Angst vorm Wasser hast«, sagte Nicu.
»Ich habe keine Angst! Nur das Ertrinken macht mir Sorgen. Reine Vorsicht«, verteidigte sich Fritz.
»Gilt das auch für das Baden?«
»Du kriegst gleich meine Faust in dein Mundwerk!«
»Komm und pack schon an. Wir sitzen alle im selben Boot«, sagte Nicu. »Natürlich nur bildlich gesprochen.«
Ächzend schulterten sie den Teppich mit dem Spion, und als sie den Kellerraum verlassen wollten, stand plötzlich der Südafrikaner vor ihnen.
»Ist euch hier jemand begegnet?«, fragte Witt.
»Nein, wir sind allein hier.«
»Ich bin einer Spur gefolgt. Hier sind Wassertropfen auf dem Boden.«
»Fritz schwitzt stark«, sagte Nicu.
Witt tippte mit der Fingerspitze rein und berührte damit die Zunge. »Wasser.« Er riss Nicu die Laterne aus der Hand und hastete in den Flur hinaus. Nicu und Fritz ließen die Rolle auf den Boden fallen und folgten ihm. Witt leuchtete ins benachbarte Abteil.
»Ich bin seit über einer Stunde hinter ihnen her.«
»Hinter wem?«
»Dem Nicholas und dem Paashaas«, schnauzte der Südafrikaner Nicu an. »Wem wohl?«
»Amanda? Ist sie abgehauen?«
Witt näherte sich einer Wanne. »Hier sind Abdrücke im Staub.« Er griff mit dem gesunden Arm nach der Plane darauf und riss sie zur Seite.
Nicu kam hinzu und schaute hinein. »Du siehst Gespenster.«
»Schau genauer hin! Hier war jemand drin.«
»Ein Pärchen, das rumgemacht hat.«
»Sieht nicht danach aus. Vielmehr hat sich hier jemand versteckt.« Er fasste hinein. »Und das ist noch gar nicht lange her.«
***
Amanda hatte sich auf den Boden gesetzt und lehnte sich an das Bett, Carl setzte sich neben sie. Nun endlich, nach der langen Rennerei und dem Versteckspiel, konnten sie sich etwas Ruhe gönnen. Sie waren hier in Sicherheit.
Vorerst, dachte Amanda.
Es war ein Glücksfall, dass dieses Zimmer nicht verschlossen war. Carl hatte den Streit zwischen den Herren Brown und Boveri mitbekommen, und als er später am Nachmittag ins Bad unterwegs gewesen war, hatte er beobachtet, wie Boveri mit seinem Gepäck das Hotel verließ und abreiste. So fanden sie in Boveris Zimmer einen Unterschlupf. Ihre beiden Zimmer waren durchsucht worden. Die Urheber hatten zwar versucht, es zu verbergen, und alles wieder an seinen angestammten Platz zurückgelegt, doch hatte es ihnen an der nötigen Sorgfalt gefehlt. Zudem hatte Carl schon beim Öffnen der Tür zu Amandas Zimmer Schweißgeruch in die Nase gestochen, und er hatte ihr geraten, das elektrische Licht nicht einzuschalten. Wo auch immer dieser Witt sich da draußen aufhielt, er hatte sicher ein Auge auf das Grandhotel gerichtet, um sofort zu erkennen, wenn im Erkerzimmer das Licht anging.
Boveris Zimmer war leer und unaufgeräumt zugleich. Die Tagesdecke auf dem Bett wies den rechteckigen Abdruck eines Koffers auf. Kleiderbügel waren nicht wieder in den Schrank zurückgehängt worden. Scherben einer Vase lagen unter einem Abdruck in der Tapete.
Carl bewegte sich irgendwo in seiner eigenen Gedankenwelt, während Amanda acht Papierfitzelchen aufklaubte und sie vor sich auf dem Boden zusammenpuzzelte. Eine abgenutzte und über lange Jahre mitgeführte Fotografie der beiden damals noch jungen Gründer der Brown Boveri & Cie. Man hätte sie für Brüder halten können. Beide mit Hut, Stock und Oberlippenbart, beide hatten einen Fuß auf ein Maschinenteil am Boden gestellt. Hinter ihnen ragte ein enormes Schaufelrad in die Höhe. Ihre Haltung strahlte eine Erhabenheit aus, als ob sie es gemeinsam mit der gesamten Welt aufnehmen könnten. In ihren Augen lag noch etwas anderes, Amanda hielt es für Zuversicht, womöglich auch Einigkeit.
Sie legte ihren Kopf an Carls Schulter. Er streichelte ihr gedankenabwesend übers Haar.
»Woher wusstest du, wo Mustafa festgehalten wurde?«, fragte er.
»Klemens hatte mich zu ihm gebracht.«
»Weshalb?«
»Er wollte mir drohen.«
»Ich verstehe gar nichts.«
Es war nun an der Zeit auszupacken. Was würde geschehen, wenn Carl die ganze Wahrheit erfuhr? Würde er sie verurteilen? Sie konnte ihm aber auch nicht ewig ausweichen. Sie atmete tief ein und wieder aus und musste sich selbst einen Ruck geben.
»Mustafa war ein Spion«, sagte sie.
Es überraschte Carl gar nicht so sehr, wie sie erwartet hätte.
Sie fügte hinzu: »Zumindest waren Klemens und die Deutschen derart davon überzeugt, dass sie ihn foltern ließen.«
»Wie passt du denn in diese Geschichte?«, wollte Carl wissen, der sich noch immer kein Bild von den Zusammenhängen machen konnte.
Amanda erzählte, wie Klemens den Verlust eines seiner Notizbücher festgestellt hatte. Er habe einen französischen Gast des Hotels in Verdacht gehabt und sie auf ihn angesetzt. Es sei zu einem Kampf mit Nicu gekommen, bei dem der Franzose tödlich verletzt worden sei.
»War dieser Franzose auch ein Agent?«, fragte Carl.
»Man fand bei ihm Codes für die Verschlüsselung von Telegrammen. Er sollte sie hier jemandem übergeben.«
»Einem zweiten Spion.«
»Sie vermuteten zuerst, es wäre Palanti.«
»Nicht im Ernst!« Carl lachte.
»Während ich die ganze Nacht bei ihm war, wurde ein verschlüsseltes Telegramm abgesetzt. Spätestens da war allen klar, dass jemand anderes der Spion sein musste.«
»Nämlich ich!« Carl schnaubte humorlos. Es widerstrebte ihm genauso wie ihr auszusprechen, worum es in diesem Gespräch tatsächlich ging. Es führte aber kein Weg mehr daran vorbei.
»Nein, ich wurde von Fürstenfeldt auf dich angesetzt. Ich sollte ein Druckmittel gegen dich in Erfahrung bringen«, gestand Amanda.
Carl schüttelte den Kopf und rückte kaum merklich ein Stück von ihr weg. Noch nicht bereit, darauf einzugehen, wechselte er das Thema. »Dieses Notizbuch. Ist es wiederaufgetaucht?«
»Bisher nicht. Ansonsten hätten Nicu und Fritz unsere Zimmer nicht durchsuchen müssen.«
»Was steht drin?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht die Erklärung, was auf dem Kongress vor sich geht.«
»Was ich mich frage, ist, worin Brechteslohs eigentliche Funktion besteht. Und worum es bei dieser geheimen Versammlung ging, von der nicht einmal der Doge wusste. Als Fürstenfeldt mich im Bad verhört hat, ging es nicht um meine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich. Vielmehr wollte er wissen, was ich über ihr geheimes Treffen in Erfahrung gebracht hatte.«
»Du wurdest auch verhört? War es schlimm?« Amanda griff nach seiner Hand.
»Ich hatte mehr Glück als Mustafa.«
»Das Letzte, was ich Mustafa sagen hörte, war: ›La fée verte‹.«
»Was wollte er damit sagen?«, fragte Carl.
»Er hat es immer wieder gerufen, er schien dabei so schrecklich verzweifelt. Ich trug ein grünes Kleid. Deswegen wahrscheinlich. Er muss bereits in einer solch schlechten Verfassung gewesen sein, dass er halluzinierte.«
Carl drückte sanft ihre Hand.
»Wie wohl sein richtiger Name gelautet hat?«, fragte Carl. »Er hat sich mir als Jean vorgestellt, nachdem ich den Franzosen in ihm erkannt hatte. Aber ich sollte ihn weiterhin Mustafa nennen.« Nach einer Pause fuhr er fort. »In der Nacht darauf hatte er sich beim Zitronenschneiden in den Finger geschnitten und fluchte im feinsten Französisch.« Carl lächelte traurig. »Zut alors!«
»Luc«, sagte Amanda.
Carl schaute sie an.
»Er hat ihn mir auf dem Maskenball verraten«, erklärte Amanda.
»Was hat er da gesagt?«
»Ich soll heute Morgen um acht Uhr das Schiff nehmen. Ein Ausweg für mich, um alldem hier zu entkommen.«
»Und? Wirst du gehen?«, fragte Carl. »Witt ist bloß hinter mir her.«
»Mein Zimmer wurde ebenfalls durchsucht. Sie haben mich ebenso im Verdacht.«
Eine quälend lange Pause. Carl entzog ihr seine Hand. »Dann war ich bloß ein Auftrag für dich?« Enttäuschung schwang in seinen Worten mit. Nun war es ausgesprochen. Nichts hielt das Schwert des Damokles noch in der Schwebe.
»Anfangs schon. Aber mit der Zeit …« Es klang selbst in ihren eigenen Ohren matt. Irgendwie abgedroschen. »Fürstenfeldt will an deine Entwicklungen herankommen, wenn möglich sogar an dich selbst und deine Fachkenntnisse.«
»Und was hast du ihm erzählt?« Er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Als ich dir erzählt habe, dass ich in diese geheime Versammlung hineingeplatzt bin, hast du das auch ausgeplaudert? Sie haben mich deswegen gefoltert.«
»Nein, ich habe ihnen so wenig wie möglich gesagt. Ich habe aber das Gefühl, sie wussten bereits alles.«
Carl wirkte nicht überzeugt.
Amanda setzte nach: »Ich glaube inzwischen, wir wurden belauscht.«
»Auf welcher Seite stehst du?«, fragte Carl sie mit einer Kälte in der Stimme, die sie schmerzte.
Was sollte sie sagen? Ich stehe auf deiner Seite. Oder: Ich stehe auf meiner eigenen Seite. Stand sie womöglich noch immer auf der Seite ihres Auftraggebers? Sie wusste es nicht. Vielleicht musste sie sich darüber erst einmal selbst klar werden.
»Ich dachte, du weißt, dass ich als Begleiterin arbeite«, sagte sie stattdessen.
»Ja, das wusste ich. Ich dachte nur, da wäre mehr.«
»Es ist auch –«
»Aber du wurdest gezielt auf mich angesetzt, um mich auszuspionieren«, unterbrach er sie. »Kannst du dir vorstellen, wie man sich dabei fühlt?«
»Zu Beginn warst du für mich bloß ein Auftrag, aber dann –«
»Ich weiß nicht, ob ich dir noch trauen kann. Was ist Wahrheit, und was hast du mir vorgemacht?« Carl schüttelte den Kopf. »Empfindest du überhaupt etwas für mich?«
»Ja«, sie nickte, um es zu bekräftigen. »Seit Langem empfinde ich wieder etwas für jemanden.«
»Ich dachte, es könnte etwas Ernstes aus uns werden.«
»Das kann es auch.«
Carl sprang auf die Beine. »Nein, jetzt nicht mehr.«
In der offenen Tür drehte er sich noch einmal zu ihr um. »La fée verte. Die grüne Fee. Damit ist der Absinth gemeint. Lebe wohl, Amanda.«
***
Im Licht der Bühne, das durch das Fenster in sein Zimmer drang, waren die Koffer schnell gepackt. Carl hatte nur ein paar wenige Kleidungsstücke herausgezogen, seit er sich schon am Morgen abreisebereit gemacht hatte. Anschließend hastete er schwer beladen aus dem Hotel und über den Wandelgang hinauf zum Kurhaus. Bei der Bühne waren noch immer einige Nachtschwärmer zugange. Prosteten einander zu, während sie sich mit Dirnen vergnügten. Carl musste endlich hier weg.
Sie hatte ihn für Fürstenfeldt ausspioniert!
Carl hatte manches auf diesem Kongress erlebt, aber das ging doch nun wirklich zu weit. Denen war jedes Mittel recht. Sie kannten keine Grenzen. Keinen Anstand. Stellten eine Frau an, die mit seinem Herzen spielte. Und noch dazu erfolgreich.
Fürstenfeldt, dieser glatzköpfige Wicht, hatte sie angestiftet, nur um seine Ziele zu erreichen. Wo war die Ehre, die bei diesen selbst ernannten Männern des Krieges angeblich so hoch im Kurs stand? Alles nur Lippenbekenntnisse! Elende Wendehälse, allesamt! Oder war es die falsche Person, auf die sich Carls Wut bündelte? Schließlich war es Amanda gewesen, die in ihm diese Gefühle wachgerufen hatte. Sie musste dasselbe auch bei Palanti ausgelöst haben und bei wer weiß wie vielen Männern noch. Kaltschnäuzig hatte sie Carl etwas vorgemacht, bis zum letzten Augenblick. Sie habe Gefühle für ihn entwickelt, hatte sie am Schluss noch behauptet. Dennoch, es wollte Carl nicht gelingen, seine Wut auf sie zu richten. Es war noch zu frisch. Vielmehr empfand er eine bodenlose Enttäuschung, dass das, was sie beide gehabt hatten, bloß Lug und Trug gewesen war.
Carl öffnete die Tore des Schuppens und schmiss die Koffer in die Kabine der Gans. Vor Kurzem erst hatten er und Amanda sich darin geliebt. Er schalt sich einen Narren, auf sie hereingefallen zu sein. Er hatte sie wirklich gemocht. Traurigkeit wollte ihn überkommen. Carl schluckte sie hinunter und zwang sich, vorwärtszuschauen.
Immerhin hatte er sie noch, seine Gans.
Die Waldstrecke ließe sich schon irgendwie meistern. Der Rückweg ging ja jetzt größtenteils abwärts, und er hatte die ganze Nacht Zeit. Am nächsten Morgen würde ihn Mario in Burgdorf sicherlich den Akku wieder laden lassen. Danach würde er endlich heimkehren können. Zurück in sein vertrautes Leben. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte Carl sich verliebt, war betäubt und gefoltert worden, und ein Freund, der sich als Spion entpuppt hatte, war zu Tode gekommen. Sein Vater würde einsehen, warum Carl verfrüht heimkehrte. Carl setzte sich ans Steuer, trat auf das Pedal und lenkte die Gans aus dem Schuppen. Er verzichtete darauf, das Licht einzuschalten. Nur schnell weg hier. Witt würde seine erfolglose Suche bestimmt schon lange aufgegeben haben. Doch sicher war sicher.
Aber war es auch für Amanda sicher?
Was sollte es Carl scheren! Die würde sich schon zu helfen wissen. Würde sich die Nacht noch versteckt halten in Boveris Zimmer und eine List ersinnen, am Morgen Klemens um den Finger zu wickeln. Sie würde ihm irgendeine Geschichte auftischen, die erklärte, wieso sie ihn im Ungewissen gelassen hatte. Würde behaupten, es sei unabdingbar gewesen, um näher an Carl heranzukommen. Womöglich entsprach das sogar der Wahrheit. Oder war es doch nicht so einfach? Legte Carl sich das bloß zurecht, um sich besser zu fühlen? Er trat auf die Bremse. War es richtig, was er hier tat? Das Weite suchen und sie ihrem Schicksal überlassen? Schließlich drohte auch ihr Gefahr.
Carl hatte sie gar nicht aussprechen lassen. Sie hatte mehrere Anläufe unternommen, ihm ihre Gefühle zu erklären. Was, wenn sie zu ihm doch aufrichtig gewesen war? War es ein Fehler gewesen, sie zurückzulassen? Der größte Fehler seines Lebens?
Sie ist in Gefahr!
Kurzerhand wendete er die Gans auf dem Vorplatz, kurvte um Palantis Ruine und schlug den Weg zum Grandhotel hinab ein – als die Kabinentür neben ihm aufgerissen wurde. Carl fuhr zusammen. Eine Hand griff ins Wageninnere. Riss am Steuer. Der Wagen wankte. Kam beinahe vom Weg ab. Ein massiger Körper drängte sich in die Kabine. Das kalte Metall einer Pistole an seinem Ohr nötigte Carl, auf die Beifahrerseite zu weichen. Auf dem abschüssigen Weg legte die Gans schnell an Fahrt zu.
»Wie hält man dieses Ding an?« Der Söldner riegelte an allen Schaltern, bar jeden Verständnisses für Automobile. Carl nutzte den Moment der Unaufmerksamkeit, um den Lauf der Pistole von sich wegzuschlagen. Ein Schuss löste sich und zerbarst Helénes Spiegel mitsamt der Frontscheibe. Splitter regneten auf ihn nieder. Carl bekam Witts Arm zu fassen und zerrte daran. Witt gelang es nicht, mit seinem verletzten Arm das Steuer ruhig zu halten, sodass der Wagen ins Wanken geriet. Die Fahrertür schlug auf und zu. Carls Griff rutschte ab, und er wurde an die Seitenwand der Kabine geschleudert. Noch bevor Witt die Waffe wieder auf ihn richten konnte, trat Carl mit dem Schuh gegen den Kopf des Soldaten, was diesen, unterstützt durch einen Schlenker des Wagens nach rechts, durch die offene Tür kippen ließ.
Sie passierten in voller Schussfahrt das Chalet und gleich darauf die Bierhalle. Witt hielt sich mit beiden Händen am Rahmen der Tür fest. In seiner Linken noch immer die Waffe. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er sich hoch. Carl erkannte, dass, wenn die Gans ihren Kurs beibehielte, sie mit der Bergstation der Bahn kollidieren oder an ihr vorbei ins Bodenlose stürzen würde. Er riss das Steuer nach rechts, sodass der Wagen den Weg zur Terrasse des Grandhotels emporbrauste. Die Fliehkräfte bei diesem Manöver entrissen Witts Beinen den sicheren Halt auf dem Trittbrett. Er wurde ein zweites Mal aus der Kabine geschleudert. Seine Stiefel polterten auf dem Kies, doch der Zangengriff des Soldaten an der Kabinenöffnung blieb unerbittlich.
Ein dunkler Blutfleck breitete sich im Stoff seines Hemds aus. Reihen von Stühlen und hochgeklappten Tischen wurden von der Wagenfront getroffen und flogen zu beiden Seiten laut scheppernd vom Wagen weg. Carl streckte in dem Versuch, das Bremspedal zu erreichen, sein Bein aus, aber Witt hatte wieder festen Stand gefunden und richtete die Pistole auf ihn. Carl griff danach, riss sie herum, und zwei Schüsse stanzten sich durchs Dachblech. Dann hatte er dem Soldaten die Waffe abgerungen, heiß brannte der Lauf in seinen Händen.
Witts Faust krachte in Carls Gesicht, und er ließ die Pistole fallen. Sie rutschte auf dem Wagenboden in den hinteren Teil der Kabine. Witts nächsten Schlag sah Carl kommen, und es gelang ihm auszuweichen. Bald würde die Terrasse zu Ende sein. Der Rand kam immer näher, die niedrige Brüstungsmauer würde sie nicht aufhalten können. Dahinter befand sich der steile, bewaldete Abhang, der sich einhundert Meter bis zum See hinabzog.
Der Wagen war zu schnell!
Carl tastete mit dem Fuß nach dem Bremspedal und trat es durch.
In Witts Hand blitzte die lange Klinge eines Messers auf, das er sich aus dem Stiefel gezogen hatte. Die Reifen scharrten durch den Kies. Steinchen spritzten hoch, Staub wirbelte auf. Doch der Wagen glitt darüber hinweg, als befände er sich auf einem gefrorenen See.
Carl ertastete den Griff der Beifahrertür, riss daran. Als er die Damaszenerklinge auf sich zukommen sah, stieß er sich mit beiden Beinen ab. Er befand sich bereits in der Luft, als ein Schlag durch das Automobil ging und die Stahlstreben ächzen ließ. Die Hinterräder hoben sich vom Boden ab. Die Steine der Brüstungsmauer gaben splitternd nach. Nun erhob sich die Gans II in die Luft. Scheppernd schrammte sie durch die Äste einer Tanne, traf auf steilen Waldboden, sprang hoch und überschlug sich mehrfach, sodass etliche Bauteile von ihr weggeschleudert wurden wie die Schrapnelle einer Granate.
***
Als die Weiber auf der Bühne losgelassen wurden, hatte Fürstenfeldt dies als Anlass genommen, ins Hotelzimmer zurückzukehren. Nicht, dass ihm dieser Brauch zuwider gewesen wäre, im Gegenteil. Er kannte sich, er hätte sich kaum mehr losreißen können und bis weit in die Nacht hinein gefeiert. Genauso wie die anderen da draußen, deren Gegröle und Geschnatter noch immer bis zu ihm ins Zimmer drangen, obwohl das Fenster auf die vom Festplatz abgewandte Seite hinausging.
Er verzichtete auf die Feierlichkeiten, um am kommenden Morgen ausgeschlafen zu sein. Was ihm aber offensichtlich nicht gelingen sollte. Seit über zwei Stunden wälzte er sich schlaflos hin und her. Es lag nicht am Lärm, Fürstenfeldt hatte schon in lauterer Umgebung tief geschlafen. Nein, es lag daran, dass er viel zu aufgekratzt war. Auf der Versammlung morgen würden sie endlich ihre Mission in trockene Tücher bringen. Sobald die Verträge unterschrieben waren, konnte geschehen, was wollte. Bis dahin aber musste alles stimmen. Fürstenfeldt ging zum fünften Mal in dieser Nacht die Probleme durch, die sich ihnen gestellt hatten.
Die Angelegenheit mit dem Spion war geregelt, und auch wenn er nicht gesprochen hatte – bis auf dieses irre Gebrabbel über die grüne Fee, kurz bevor es mit ihm zu Ende gegangen war –, so hatten sie ihn immerhin unschädlich gemacht. Inzwischen dürfte seine Leiche Fischfutter sein. Der Telegraf des Spions war sichergestellt worden, und der Morseschreiber hatte seither keine verdächtigen Meldungen mehr registriert. Von dieser Seite waren also keine Schwierigkeiten mehr zu erwarten.
Inzwischen dürfte auch das Problem Lohser geregelt worden sein. Rückblickend hatte Fürstenfeldt bei ihm eine falsche Taktik verfolgt. Er musste sich eingestehen, seiner Sache zu sicher gewesen zu sein. Er hatte nicht die nötige Sorgfalt walten lassen und Lohser falsch eingeschätzt. Dass er ihm zu Beginn vorenthalten hatte, für die Armee zu arbeiten, hatte bei diesem eine Abwehrhaltung ausgelöst, die sich nicht mehr hatte überwinden lassen. Witts Steinschlag hatte bei Lohser auch nicht die erwartete Wirkung gezeigt. Anstatt zum Nachdenken gebracht worden zu sein und sich seiner Verletzlichkeit bewusst zu werden, hatte er das Ereignis als Bagatelle abgetan. Viel zu sehr war er wohl durch das Pistolenduell und die Kurtisane abgelenkt gewesen. Auch die Taktik, die Begleiterin auf ihn anzusetzen, hatte Fürstenfeldt keine Druckmittel an die Hand gegeben. Stattdessen hatten sich die beiden verbrüdert und Brechteslohs Gefolgschaft hinterhergeschnüffelt.
Schade um sie, aber es war nur noch die eine Lösung geblieben. Alle beide mussten aus dem Weg geräumt werden. Diskret, sodass das Brechtesloh-Manöver nicht gefährdet wurde. Unter anderen Umständen hätte sich Fürstenfeldt nicht einfach so ins Bett gelegt und dies jemand anderem überlassen. Aber bei Witt waren die beiden in guten Händen. Auf den Leutnant war Verlass. Er hatte sie zwischenzeitlich bestimmt schon dingfest gemacht und ins Kellerabteil einquartiert. Wie sie mit ihnen weiter verfahren würden, konnten sie morgen noch besprechen. Fürstenfeldt malte sich verschiedene Szenarien aus: ein gekentertes Boot mitten auf dem Brienzersee, ein Stromschlag bei einem gemeinsamen Bad, eine Kollision mit dem Automobil. Tragische Unfälle geschahen tagtäglich.
Also sind doch alle Probleme gelöst.
Fürstenfeldt gelang es dennoch nicht einzuschlafen, egal wie sehr er sich anstrengte.
Die Mühlen im Kopf drehten sich weiter. In den letzten Tagen hatten Generalleutnant Brechtesloh, Klemens und Fürstenfeldt mit den Auserwählten Gespräche geführt, hatten verhandelt und vermittelt. Die Verträge waren alle fertiggestellt und warteten bloß noch auf die Unterschrift. Auch in diesem Bereich war erledigt, was zu erledigen war.
Jemand bei der Bühne lachte laut auf. Die Nichteingeweihten feierten noch immer. Die meisten würden sich dermaßen gehen lassen, dass sie von dem morgendlichen Vorhaben erst erfuhren, wenn alles unter Dach und Fach war. Die Auserwählten nahmen die Angelegenheit dagegen äußerst ernst. Fürstenfeldt war nicht als Einziger frühzeitig ins Hotel zurückgekehrt. Beinahe alle, die zu den Auserwählten gehörten, hatten den Weg der Vernunft gewählt und auf Saufgelage und Hurerei verzichtet. Feiern konnte man jederzeit wieder, aber es gab Gelegenheiten, die sich einem nur einmal im Leben boten.
Die Nichteingeweihten andererseits würden schlichtweg vor Tatsachen gestellt werden, wenn sie morgen erfuhren, dass ihre Orion-Gesellschaft vollständig umstrukturiert und deren Zugrichtung revidiert worden war. Sie würden auch dann erst erfahren, dass Reichenbach anstelle von Bossard zum Dogen erhoben wurde. Dass Reichenbach in Klemens’ Interessen handelte, die wiederum den Interessen des Deutschen Reiches entsprachen, sollte vorerst noch inoffiziell bleiben. Wie auch die Inhalte der abgeschlossenen Verträge.
Wer von den Nichteingeweihten bereit war, sich in die neue Ordnung einzufügen, war willkommen. Wer nicht, wurde ausgeschlossen. Ganz einfach. Die heute über einhundert Mitglieder zählende Orion-Gesellschaft würde stark dezimiert werden, damit war zu rechnen. Aber Fürstenfeldt kümmerte dies herzlich wenig. Für ihn zählte nur, dass die Gesellschaft dadurch schlagkräftiger wurde. Schlagkräftiger und dem Deutschen Heer dienlich.
Allmählich spürte er diese herrliche Schwere in sich aufsteigen, die endlich den wohlverdienten Schlaf versprach – als ein Blödmann Böller krachen ließ. Fürstenfeldt schlug wütend die Hand auf die Matratze. Er würde morgen Klemens zurechtweisen. Wieso ließ dieser auch Feuerwerkskörper verteilen, wenn er doch wusste, dass einige der Gesellschaft schlafen sollten? Auf solcherlei Details musste man Wert legen!
Der Knall hallte in seinem Kopf nach.
Das waren keine Böller gewesen. Sondern Schüsse!
Fürstenfeldt fluchte, stand auf und zog sich an.
***
»Carl!«
Eine Hand fasste nach ihm.
»Carl. Geht es dir gut?«
Er lag auf einem Waldpfad. Über ihm eine hoch aufragende Mauer mit einer breiten Bresche in der Krone. Carl murmelte etwas, was er selbst nicht verstand. Es schien auch nicht allzu wichtig zu sein. Er setzte sich auf, Hände halfen ihm dabei.
»Kannst du stehen?« Es war Amanda neben ihm.
Sie half ihm auf die Beine. Carl stellte sich an den Wegrand und blickte den vom Mondlicht beschienenen Wald hinab. Eine Schneise aus abgebrochenen Ästen, abgeknicktem Jungwuchs und ausgerissenen Büschen tat sich auf. An deren Ende, weit unter ihm, lag etwas. Aufgefangen von zwei Baumstämmen. Ein zur Unkenntlichkeit verformtes Knäuel aus Metall, Holz, Gummi, Leder, Stoff und Glas.
Ihre Hand schob sich in seine und ergriff sie fest. »Wir müssen hier weg!«
Amanda zog ihn mit sich, fort von diesem Anblick der Zerstörung. Führte ihn einen schmalen Waldpfad entlang, den er noch gar nicht kannte. Sie stiegen bergwärts, in sicherem Abstand an der Bühne vorbei, bei der noch immer gefeiert wurde. Ein weiteres Mal ging es den Giessbach hinauf.
»Ich habe vom Salon aus gesehen, wie dein Automobil durch die Mauer brach«, erzählte Amanda. »Und gehofft, dass du nicht darin sein mögest.«
Carl sagte nichts.
»Wir sind beide in Gefahr«, sagte Amanda. »Wie geht es dir?«
Allmählich fühlte Carl, wie seine Glieder schmerzten. Immerhin hatte er sich nichts gebrochen, noch schien er sich sonst wie ernsthaft verletzt zu haben. Der wahre Schmerz indes lag tiefer. Carls Gans II war zerstört. Erinnerte bloß noch an ein zerknülltes Blatt Papier. Ein Stück ausgeklügelter Technik, das nie mehr zur Funktionalität zurückgeführt werden konnte. Sein Lebenswerk zur Nutzlosigkeit reduziert, die Hoffnung für die Dädalus-Werke in Luft aufgelöst.
»Es geht schon«, antwortete er.
Gemeinsam überquerten sie den Giessbach über eine Brücke.
Der regungslose Körper des Soldaten hatte in einer unnatürlichen Verkrümmung halb aus dem Knäuel der Gans herausgehangen.
»Ob er umgekommen ist?«, fragte Carl.
»Ich weiß es nicht.« Amandas Griff um seine Hand wurde fester. Eine kleine Geste, die ihm etwas Trost spenden sollte. »Aber sie werden uns suchen. Jetzt erst recht. Wir müssen wieder untertauchen.«
»Wo?«
»Hier.«
Vor ihnen tat sich der Wald auf, und auf einem Geländevorsprung erschien ein Haus. Die Wäscherei.
»Vorerst sind wir hier sicher, bis am Morgen die Wäscherinnen kommen.« Amanda trug einen einfachen tannengrünen Rock, eine weiße Bluse und eine braune, lederne Umhängetasche. Sie war nicht mehr die kokette Verführerin, sondern eine bodenständige Frau. Carl gefiel sie so beinahe noch besser.
Die Eingangstür war abgeschlossen. Sie umrundeten das Gebäude und versuchten es beim Hintereingang. Doch auch dieser war verriegelt. Es handelte sich um eine alte Holztür, die klapperte, als Amanda an der Klinke rüttelte. Mehr war auch nicht vonnöten. Wer brach schon in eine Wäscherei ein?
Carl war nicht wohl dabei. »Wir sollten fliehen. Zu Fuß wären wir in dreieinhalb Stunden in Interlaken und könnten uns da in Sicherheit bringen.«
»Wir wären nirgends in Sicherheit.« Offenbar hatte Amanda dies bereits durchdacht. »Unsere Probleme wären damit nicht gelöst. Selbst zu Hause wären wir in Gefahr. Zudem würden wir zulassen, dass Brechteslohs Vorhaben seinen geplanten Lauf nimmt.«
»Was weißt du über sein Vorhaben?«
»Eine ganze Menge. Ich habe es«, sagte sie mit einem Anflug von Stolz in der Stimme.
»Was hast du?«
Sie zog etwas aus ihrer Tasche. Ein Buch, in braunes Leder gebunden. »Ich habe es gefunden. ›La fée verte‹. Mustafa hatte es im Sockel des Absinthbrunnens versteckt.«
»Du hast Klemens’ Notizbuch!«, rief Carl aus.
Amanda trat einen Schritt zur Seite, und Carl warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie bot kaum Widerstand. Das aus der Zarge herausgebrochene Schließblech schepperte über den Boden.
»Wir müssen eine Ecke finden, wo wir eine Laterne entzünden können, ohne dass der Lichtschein beim Hotel gesehen wird«, überlegte Carl.
Ein Duft nach Blüten und Lauge empfing sie. Sie tasteten sich an zahlreichen Bottichen und gestapelten Körben voller Wäsche vorbei zum hintersten Teil des Baus. Betraten einen Umkleideraum mit Bänken, einem Waschtrog und Kleiderhaltern voller Schürzen der Wäscherinnen. Das winzige Fenster ging bergseitig hinaus.
Carl entzündete eine Laterne und fühlte eine gespannte Erregung in sich aufkommen. Ob das Notizbuch nun endlich ein paar Antworten liefern konnte? Barg es womöglich sogar eine Lösung, die ihn und Amanda heil aus ihrer verfahrenen Lage hinauszuführen vermochte? Das in feines Leder gebundene Buch knarzte leise, als er es aufschlug.
***
Ein Mädchen mit nicht mehr bekleidet als der Steinbockmaske rannte kichernd über die Bühne und stolperte über die eigenen Füße. Unter dem Jubel dreier Kumpane füllte ein Fabrikant mit stark behaarter Wampe die zweite Flasche Wein in ein Trinkhorn, setzte an und schluckte, bis ihm der Bordeaux aus der Nase lief.
Nicu hatte sich auf den Festplatz geschlichen, seine nassen Klamotten ausgezogen und stattdessen eine der herumliegenden Kutten übergeworfen. Er hatte es satt! Er und Fritz hatten die Überreste des Barmanns im Teppich über unwegsame Pfade zum See hinuntergeschafft, stets darauf bedacht, von niemandem entdeckt zu werden. Fritz hatte ihm zwar noch geholfen, den Leichnam ins Boot zu legen und Steine herbeizuschaffen, doch hinausrudern musste Nicu dann allein. Bei dem Versuch, Mustafa über den Rand zu hieven, war das Boot gekippt und er dabei mitsamt dem zu versenkenden Körper über Bord gegangen. Nur mühsam und nach etlichen Anläufen gelang es ihm, das Boot vom Wasser aus wieder aufzurichten und hineinzuklettern. Noch ärgerlicher war es, mit den bloßen Händen zu den Rudern zu paddeln, die in der Zwischenzeit von ihm weggetrieben waren.
Spione foltern, Leichen entsorgen, rudern, dafür war er nicht eingestellt worden. Sollte Klemens doch zusehen, wie er ohne ihn klarkam. Jetzt wollte Nicu auch einmal etwas vom großen Kuchen abhaben, der sonst den Bonzen vorbehalten war. Mit der Kutte blieb er unerkannt und stopfte sich am Festbuffet neben der Bühne mit Hobelfleisch, Bergkäse und Hummer voll. Auf dem Nebentisch standen ein gutes Dutzend gefüllte Weingläser bereit, von denen er mehrere in sich hineinkippte. Eine dem Erschöpfungsgrad nach zu urteilen viel beschäftigte Dame kam auf ihn zu. Sie stellte sich als Lulu vor und war etwas pummelig. Nicu verschwand mit ihr in die Büsche. Das hatte er sich redlich verdient. Als er gerade fest an Amanda dachte, erschien sie tatsächlich ein gutes Stück von ihm entfernt und huschte mit dem Schnösel an der Hand durch den Wald.
Was haben die im Wald vor? Er fühlte erneute Eifersucht aufkeimen.
So kehrte Nicu zur Bühne und zum Buffet zurück und stellte fest, dass sich vor dem Grandhotel etliche Leute zusammengefunden hatten und aufgeregt durcheinandersprachen. Sie schienen etwas zu begaffen, was er von hier aus nicht sehen konnte. Er stieg die Halde zur Terrasse hinauf und erblickte auf deren hinterer Seite eine Bresche in der Brüstungsmauer. Den steil abfallenden Wald dahinter durchzog eine Schneise mit etwas an deren Ende, was ihm einen Anflug süßer Schadenfreude bescherte.
***
Amanda hatte weniger Mühe, Klemens’ krakelige Schrift zu entziffern. Carl blickte ihr über die Schulter. Sie stieß auf Gedanken über das Grandhotel Giessbach und die Eignerfamilie Hauser und las Carl flüsternd vor. Klemens hatte mehrere Szenarien ausgearbeitet, wie er Victor Hauser zur Zusammenarbeit überzeugen konnte. Schließlich war er zu dem Schluss gelangt, dass er den Hausers das Anwesen abkaufen musste.
Auf einer anderen Seite hatte Klemens Überlegungen angestellt, wie er August Reichenbach dazu bewegen konnte, für ihn zu arbeiten. Klemens musste eine große Achtung vor dem Sprachrohr der Orion-Gesellschaft haben. Er schrieb über ihn: »Begnadeter Redner, charismatisches Auftreten, verfügt über das Talent, die Meinung der Zuhörerschaft zu beeinflussen«. Er skizzierte eine Strategie, um ihn bei seinem damaligen Arbeitgeber loszukaufen und bei der »Klemens Schokolade« einzustellen.
Carl fragte sich, was Klemens lose in das Buch gelegt hatte. »Sind das Landkarten?« Er griff danach und zog sie heraus.
Amanda stieß auf etwas. »Hier ist eine Liste von Namen. Überschrieben mit ›Die Auserwählten‹.« Sie lachte. »Ziemlich pathetisch, wenn du mich fragst.«
»Was für Namen?«, fragte Carl.
»Rhynegger, Bänzli, Feller, Nationalrat Erich Züst. Hier ist auch unser gemeinsamer Freund Laurenz Darius Palanti.«
»Alles Männer, die ich bei der geheimen Versammlung in der Pension Beau Site gesehen habe«, stellte Carl fest. »Wer ist noch dabei?«
Amanda fuhr die Liste mit dem Finger ab. »Der Herr Bundesrat Theodor Zobrist. August Reichenbach ist auch dabei, Olaf Inderbitzin, Julius Maggi.« Sie zählte. »Zweiunddreißig Männer. Allesamt Mitglieder der Orion-Gesellschaft.«
»Ist Max Bossard unter ihnen?«
Amanda verneinte.
Carl ging in Gedanken durch, wen er während der Versammlung im Hotel am Mittagsbuffet angetroffen hatte. »Brown, Boveri, Wyss? Zahnlücke Kandlbaur?«
»Nein. Ich finde keinen von denen.«
»Die wussten also tatsächlich von nichts«, sagte er.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Die auf dieser Liste – das sind die Verbündeten von Klemens und Brechtesloh.«
»Wobei verbündet?«, fragte Amanda.
»Das ist die zentrale Frage.«
Auf den nächsten Seiten befanden sich Notizen über jeden Einzelnen der Auserwählten. Klemens hatte festgehalten, wofür sich diese Personen interessierten, was ihre Ziele waren, aber auch, wonach ihre Unternehmen strebten. Weiter hatte er notiert, was die Unternehmen produzierten und was davon von Interesse für das Deutsche Kaiserreich sein konnte. Zudem hatte er abgeschätzt, welchen politischen Einfluss sie ausübten oder ob sie mit jemandem vernetzt waren, der politischen Einfluss hatte. Er hatte sie durchleuchtet wie ein Röntgenapparat.
Carl klappte die beiden Karten auf und strich sie vor ihnen auf dem Boden flach.
Amanda blätterte weiter. »Hier taucht immer wieder der Ausdruck ›Brechtesloh-Manöver‹ auf.«
Carl kniete sich hin. »Das steht hier auch auf dieser Karte.«
Amanda kniete sich neben ihn, sodass ihn der Duft ihres Parfüms umhüllte. Er tippte mit dem Finger auf den Titel der Karte, der »Brechtesloh-Manöver 1911« lautete. Darunter stand in kleinerer Schrift: »Weiterentwicklung des strategischen Plans von Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen«.
Die Karte umfasste das Deutsche Kaiserreich und die angrenzenden Nachbarstaten. Schwungvolle rote Pfeile zeigten nach Frankreich. Carl konnte nicht fassen, was er da vor sich zu sehen glaubte. Er konsultierte die eingerahmte Legende, die sich unter einer kunstvoll verschnörkelten Windrose befand, welche in ihrer Verspieltheit jedoch die Brisanz des auf der Karte dargestellten Inhalts nicht zu beschönigen vermochte. Neben dem roten Pfeilsymbol stand: »Stoßrichtungen der Armeen«.
Darunter war ein blauer Fleck mit der Bezeichnung: »Festungsanlagen Frankreich und Belgien«. Carl fand auf der Karte gut zwei Dutzend größerer und kleinerer blauer Flecke entlang der Grenzen sowie im Landesinneren. Der größte von ihnen umfasste Paris.
»Ist das ein Angriffsplan?«, fragte Amanda.
»Ich befürchte es, ja«, sagte Carl langsam. Ein kalter Schauer zog sich über seinen Rücken. »Genau das ist es.«
»Was bedeuten die Pfeile?«
Carl fuhr mit den Fingern den obersten Pfeil nach. »Hier marschiert die erste Armee in Frankreich ein.«
Die beiden nördlichsten Pfeile begannen in Deutschland, überzogen Belgien und endeten weit in Frankreich nördlich von Paris. Sie waren mit »1. Armee« und »2. Armee« gekennzeichnet. Ein dritter Pfeil markierte eine Durchquerung der Ardennen, der vierte einen Einmarsch in Frankreich durch Luxemburg. Der fünfte vollführte einen Bogen nördlich um Verdun. Zwei weitere drangen im nördlichen Elsass nach Nancy und Épinal vor.
Dann war da noch ein letzter Pfeil, der den Vorstoß der achten Armee markierte. Das Rot dieses Pfeils schien heller, als ob er später hinzugefügt worden war. In Carls Augen wirkte es intensiver. Bedrohlicher. Dieser Pfeil drang unerbittlich über die Grenze und durchzog mit der gekrümmten Form eines Säbels die Schweiz, um danach in Frankreich zu enden.
Eine unnachgiebige Anspannung nahm Carl in Besitz. Er wollte nicht glauben, was er da sah. Er hob die Karte an, zog die darunterliegende hervor und breitete sie auf der ersten aus. Sie war von deutlich größerem Maßstab und stellte eine Fläche dar, die sich vom südlichen Schwarzwald bis nach Bern ausdehnte. Am rechten Rand war gerade noch Zürich zu erkennen. Eine blassrote Schraffur, die wie eine Narbe über der Landschaft wucherte, stellte den Korridor der Truppenbewegung dar. Bei Waldshut-Tiengen überschritt sie die Schweizer Grenze, führte die Aare entlang an Aarau vorbei. Weiter passierte sie Solothurn und fand den Weg zwischen dem Neuenburgersee und dem Bielersee hindurch. Schließlich drang die Narbe tief in französisches Staatsgebiet in Richtung Besançon vor.
Einen Moment lang starrte Carl nur vor sich hin.
»Alles in Ordnung?«, riss ihn Amanda aus seinen Grübeleien. Er kniete noch immer am Boden. Er hatte gar nicht bemerkt, wie Amanda seine Hand in ihre genommen hatte. Dann tippte er mit dem Finger auf einen Punkt auf der blassroten Narbe. »Hier wohne ich. Wenn ich aus dem Küchenfenster schaue, sehe ich über die Hecke bis zur Landstraße, die ein gutes Stück entfernt liegt. Manchmal stehe ich nur so da und warte, bis ich ein Automobil sehe. Bei offenem Fenster höre ich dann, ob es ein benzinbetriebenes oder ein elektrisches ist.« Er schaute sie entrückt an. Sie lächelte.
»Was ist, wenn ich da eines Tages eine deutsche Armee durchmarschieren sehe?« Er stellte es sich vor, wie ein nicht abreißen wollender Eroberungszug aus Soldaten mit Gewehren, grauen Mänteln und Pickelhauben auf den Köpfen die Landstraße entlangmarschierte. Automobile zogen Wagen mit Gütern für die Front oder Haubitzen mit dicken, kurzen Läufen hinter sich her. Vielleicht waren auch einige Offiziere darunter, hoch zu Pferde. Marschlieder hallten durch das Thäli, gegrölt aus Tausenden rauen Kehlen. Die Soldaten sangen, um sich Mut für die bevorstehenden Schlachten gegen Frankreich zu machen. Sie würden Tod und Zerstörung bringen, und viele von ihnen würden nicht mehr zurückkehren. Den Familien und Freunden für immer entrissen. Opfer grenzenlosen Wahnsinns.
Amanda legte den Arm um seine Schulter. »Die haben vor, durch das halbe Mittelland zu marschieren. Würde das nicht die Neutralität der Schweiz verletzen?«, fragte sie.
»Darüber setzt sich das Deutsche Reich offenbar hinweg. Belgien und Luxemburg sind auch neutral, und die sollen gemäß dieser Karte auch durchquert werden«, antwortete Carl.
»Die Schweizer Armee würde sich dem aber sicherlich entgegenstellen.«
Carl überlegte. Sie setzten sich zurück auf die Bank. Er fühlte sich plötzlich kraftlos, was nicht von den Strapazen des Tages und dem fehlenden Schlaf herrührte, sondern durch eine Art Ohnmacht gegenüber dieser Entdeckung wachgerufen wurde. »Was wäre, wenn Brechteslohs Bestreben genau dies zu verhindern versuchte?«
»Wie meinst du das?«, wollte Amanda wissen.
»Was wäre, wenn Brechtesloh dafür gesorgt hat, dass die Schweiz einen Durchmarsch des deutschkaiserlichen Heeres zuließe?«
»Wie sollte er das bewerkstelligen?«
»Er könnte Politiker und Industrielle um sich scharen, von denen er überzeugt ist, dass sie sich unter den richtigen Umständen darauf einlassen. Er könnte sie mit Verträgen überzeugen, die ihnen enorme Gewinne bescheren.«
»Die ›Auserwählten‹.« Amanda verstand. »Aber was können die zweiunddreißig schon ausrichten?«
»Es bedarf nicht vieler, wenn es die Richtigen sind. Im Gegenzug zu dem, was er ihnen anbietet, würden sie ihren Einfluss auf die Politik und die Gesellschaft ausüben. Sie könnten erwirken, dass die Schweizer Neutralität aufgehoben oder zumindest kurzzeitig so weit gebogen wird, um einen Durchmarsch zu ermöglichen.«
Amanda musste diese Informationen erst einmal sacken lassen.
Carl zog wieder die große Karte hervor, die bis nach Belgien reichte. »Frankreich verlässt sich auf die Schweizer Neutralität. Sieh nur, wo die blauen Flecken – all die französischen Festungsanlagen – auf der Karte positioniert sind.«
»Entlang der Schweizer Grenze sind kaum welche vorhanden«, stellte Amanda fest.
»Mit einem Zug durch die Schweiz nutzt das Deutsche Reich die Schwachstelle. Die Einkesselung von Norden wird durch die Zangenbewegung vom Süden her unterstützt. Frankreich würde im Nu in die Knie gezwungen.« Carl schüttelte den Kopf. »Um an diese Karten zu gelangen, würden einige töten.«
»Luc und Trusseau sind dafür schon gestorben«, stellte Amanda traurig fest.
***
»Gut, dass Sie auch hier sind, Herr Butoi.«
Nicu blickte sich auf der Terrasse um. Fürstenfeldt stand hinter ihm, er hatte ihn unter den Schaulustigen gar nicht erkannt. Der Deutsche schien ziemlich aufgeregt zu sein. »Kommen Sie mit mir!«
»Vergessen Sie’s. Ich habe jetzt Feierabend.« Nicu ließ sich nicht mehr herumkommandieren.
»Gehorchen Sie, Soldat!«, befahl Fürstenfeldt verärgert.
»Ich bin kein Soldat. Von jetzt an könnt ihr mir den Buckel herunterrutschen.« Er wandte sich vom Oberst ab mit dem Vorsatz, zum Buffet zurückzukehren.
Doch Fürstenfeldt war noch nicht fertig mit ihm. »Tun Sie Ihre Pflicht! Oder wollen Sie Ihre Anstellung verlieren? Denken Sie etwa, Klemens wird Sie für die vergangenen fünf Tage entlohnen, wenn Sie jetzt bocken?«
Diese Überlegung hatte etwas, musste Nicu zugeben.
Gemeinsam stiegen sie den Wald hinab und gelangten zum Wrack des Automobils, das zwischen zwei Tannenstämmen festhing. Witt befand sich noch halb in der Kabine. Er stöhnte. Also war noch Leben in ihm.
Es bedurfte einiges an Anstrengung, bis sie ihn frei hatten. Fürstenfeldt verstand sich in Erster Hilfe und legte dem Leutnant einen Druckverband am Bein und einen zweiten an einem Arm an.
Dass das Automobil des Schnösels bloß noch Schrott war, verursachte in Nicu eine gewisse Genugtuung, noch besser war, dass auch der hochnäsige Spitzensoldat hatte Federn lassen müssen. Witt war kaum mehr in der Lage zu gehen, Fürstenfeldt und Nicu trugen ihn mehr, als dass sie ihn stützten, und schleppten ihn die Halde hinauf schnurstracks zum Ärztehaus. Im Chalet brannte noch Licht. Der Doktor und zwei Assistenten hatten alle Hände voll zu tun, aber als sie den Verletzten erblickten, ließen sie von den anderen Patienten ab – einer von ihnen hatte sich an der Feier an einem Feuerwerkskörper die Hand verbrannt, ein anderer sich nackt auf Glasscherben gewälzt – und nahmen sich des Soldaten an.
Nachdem sie Witt dem Arzt überantwortet und das Gebäude verlassen hatten, sagte Fürstenfeldt: »Lohser und die Prostituierte sind noch immer flüchtig.«
»Sie ist eine Begleiterin. Keine Prostituierte«, berichtigte ihn Nicu.
Fürstenfeldt maß ihn mit einem langen Blick. »Wissen Sie etwa, wo sie sich gerade aufhält, Soldat?«
***
»Dann steht uns ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland bevor. Wie vor vierzig Jahren«, stellte Amanda fest.
Carl tigerte im flackernden Schein der Laterne umher. »Der Unterschied ist, dass dieses Mal Deutschland den Angriff plant. Damals hatte Frankreich Preußen angegriffen und musste überrascht feststellen, dass die anderen deutschen Länder Preußen zur Seite standen, was zur Niederlage Frankreichs geführt hat.« Carl spürte, wie sie ihn ansah.
»Aber es ist nicht das, was dir wirklich zu denken gibt«, erriet sie.
»Vielmehr ist es der Zug durch die Schweiz. Der ist nur dann umsetzbar, wenn die Schweiz ihre Neutralität zugunsten Deutschlands aufhebt.«
»Was ist denn so wichtig an der Neutralität? Ist das nicht bloß eine nette kleine Tradition, die noch auf die alten Eidgenossen zurückgeht?«
»Die Neutralität ist Bestandteil des nationalen Bewusstseins. Wenn unsere unterschiedlichen Landesteile sich auch nicht immer einig sind, so können wir uns doch auf eines verlassen, nämlich, dass nicht eine Region sich mit den Falschen verbündet. Gleichzeitig hat die Neutralität über die Landesgrenze hinweg die Wirkung, dass die Schweiz in Ruhe gelassen wird. Die Großmächte können darauf zählen, dass sie nicht dem Feind beisteht. Dies hatte sich ja bereits bewährt. Beim Deutsch-Französischen Krieg blieb die Schweiz unbeteiligt und deshalb auch unbehelligt.«
Carl verfiel in einen dozierenden Tonfall. »Nach der Niederlage von Marignano im Jahre 1515 hatten die alten Eidgenossen ihre Eroberungszüge an den Nagel gehängt und sich seither von den Streitigkeiten in Europa ferngehalten. Und davon gab es etliche. Das war so etwas wie die Vorstufe der Neutralität.«
»Woher weißt du so viel über Geschichte?«, fragte Amanda.
»Ich habe mich immer schon sehr dafür interessiert«, antwortete Carl.
Es war nicht der richtige Zeitpunkt, ihr jetzt von seinen Recherchen über die technischen Entwicklungen eines da Vinci oder Gottfried Leibniz zu erzählen. Schon gar nicht über Besslers Perpetuum mobile.
»Das bleibt einfach so bei mir hängen.« Er zuckte die Schulter und setzte sich, doch war er zu aufgebracht und sprang sogleich wieder hoch. »Aber worauf ich hinauswollte: Die Schweizer Neutralität, wie wir sie heute kennen, wurde uns erst vor etwa einhundert Jahren sozusagen ›auferlegt‹. Bei seinen Eroberungszügen brachte Napoleon mitunter auch den Raum der Schweiz unter seine Kontrolle. Er löste die alte Eidgenossenschaft auf und machte sie zu einem Vasallenstaat Frankreichs. Nach seinem Sturz wurden auf dem Wiener Kongress die Grenzen Europas neu verhandelt und festgelegt, damit das Mächtegleichgewicht wiederhergestellt wurde. Für das Territorium, über das einst die Eidgenossen geherrscht hatten, gab es verschiedene Pläne. Jeder wollte die Kontrolle darüber ausüben. Österreich und Frankreich wollten es als Satellitenstaat übernehmen, und Preußen sah sogar vor, ein Königreich auf dem Gebiet der Schweiz einzurichten. Schließlich kam man überein, dass es das Beste wäre, wenn zwischen Frankreich und Österreich eine Pufferzone bestehen bliebe. So schlossen also England, Russland, Frankreich, Preußen und Österreich mit der Schweiz einen Vertrag ab, welcher der Schweiz ihre Unabhängigkeit garantierte. Im Gegenzug musste sie sich verpflichten, in künftigen Konflikten neutral zu bleiben. Ich könnte mir vorstellen, dass, wenn die Schweiz bei einem zukünftigen Konflikt ihre Pflicht zur Neutralität nicht einhalten sollte, auch ihre Eigenständigkeit wieder in Frage gestellt wird. Womöglich könnte sie dann von einer der Kriegsparteien ungestraft eingenommen werden. Wenn die Schweiz damals beim Deutsch-Französischen Krieg für eine der Mächte Partei bezogen hätte, wäre sie heute womöglich Teil des Deutschen Reiches. Wie das Elsass.«
»Siehst du da nicht vielleicht ein wenig zu schwarz?«
»Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Doch ein weiterer Umstand könnte diese Gefahr noch verstärken. Die Neutralität verschont uns in gewisser Weise davon, Farbe bekennen zu müssen. Das Land und seine Politik dürfen sich nicht in die Händel anderer Nationen hineinziehen lassen. Der Bürger aber, der hat ein Recht auf seine eigene Meinung. Wenn die Deutschschweiz eher mit dem Deutschen Reich sympathisiert, wenden sich die französischsprachigen Regionen eher Frankreich zu. Wenn also auf diesem Kongress, an dem nur Deutschschweizer anzutreffen sind, beschlossen würde, für Deutschland die Neutralität zu brechen, damit es in Frankreich einfallen kann, wie würden dann wohl die Welschen reagieren?«
»Ich verstehe, was du meinst. Es wird einen ernsthaften inneren Konflikt heraufbeschwören.«
Carl nickte eifrig. »Vermutlich nicht gerade einen Bürgerkrieg oder die Abspaltung des Welschlandes, aber das nationale Bewusstsein würde dadurch gehörig Schaden nehmen. Innere Streitereien in Kombination mit dem Bruch des Vertrages vom Wiener Kongress könnten die Eigenständigkeit der Schweiz ernsthaft gefährden. Die Pufferzone verkäme zur Farce.«
»Die Schweiz wäre den Großmächten dann mehr wert, wenn sie sie untereinander aufteilten«, führte Amanda Carls Gedankengang weiter. »Ob Klemens und seine Günstlinge das in Betracht gezogen haben?«
»Ich weiß es nicht. Sicherlich sind sie der Meinung, sie hätten alles im Griff. So denken die Mächtigen.«
Amanda nickte seufzend.
»Wir müssen das verhindern!« Carl griff nach dem Notizbuch.
Er setzte sich neben Amanda, und sie hielt die Laterne hoch, während er in den Notizen blätterte. Er musste systematisch vorgehen, sich eine Übersicht verschaffen.
»Hier, schau.« Carl hielt ihr eine aufgeschlagene Seite hin.
Amanda las vor: »›18. Mai 1910, halb zwölf Uhr – Pension Beau Site – Orientierung der Auserwählten. Vorgabe im Kongressprogramm: Wandertag‹.«
»In diese Versammlung bin ich hineingeraten«, sagte Carl. »Lies weiter.«
»›19. Mai 1910. Acht Uhr dreißig – Pension Beau Site – Versammlung mit den Auserwählten zur Unterzeichnung der Verträge‹. Das ist morgen früh.«
»Die Unterzeichnung der Verträge.«
»Das müssen wir verhindern.«
»Vergiss nicht, wir werden verfolgt.«
»Wir können nicht bloß herumsitzen und abwarten.«
Carl überlegte. »Gehen wir es einmal durch. Alles ist von einer Person abhängig. Wenn Brechtesloh nicht auftaucht, dann wird auch niemand unterschreiben.«
»Da haben wir es. Wir entführen den Generalleutnant und halten ihn fest.«
»Wie willst du das anstellen?«
Amanda grinste frech. »Ich habe da so meine Methoden.«
Carl wollte dies nicht so richtig schmecken.
»Immerhin ist Witt außer Gefecht gesetzt«, gab sie zu bedenken.
»Brechtesloh weiß sich womöglich selbst zu helfen, auch er hat in Kriegen gedient. Zudem müssen wir vor den anderen auf der Hut sein.«
»Und wenn wir ihn umbringen?« Amanda besann sich eines Besseren und fügte schnell hinzu: »Nein, Unsinn. Ich denke nur laut.«
Carl sah sie mit großen Augen an.
»Wir verwüsten das Sitzungszimmer. Wenn der Tagungsort nicht mehr brauchbar ist, dann muss die Sitzung auch verschoben werden«, überlegte Amanda weiter.
Carl stieg darauf ein. »Dies würde uns Zeit verschaffen. Im Schuppen stehen noch zwei Benzinkanister von Palanti. Wenn das Beau Site brennt, sieht man dies von den Dörfern aus, die um den See liegen. Die Feuerwehr würde anrücken und mit ihr die Polizei. Fragen werden gestellt. Die öffentliche Aufmerksamkeit des Brandes wird ihr Übriges tun, um das Brechtesloh-Manöver zu zerschlagen.«
Nun war es an Amanda, ihre Bedenken anzubringen. »Wir können doch kein Haus anzünden. Womöglich befinden sich noch Leute im Beau Site. Davon abgesehen müssten wir mit den Kanistern unerkannt bis dahin kommen.«
Ein Scheppern in der Waschhalle nebenan riss Carl aus seinen Überlegungen, und auch Amanda schreckte hoch. Ein weiteres Geräusch erscholl, gefolgt von einem gezischelten Fluch. Amandas Miene verhärtete sich. Hastig zog sie ihre Tasche heran und wühlte darin. Den kleinen Gegenstand, den sie ihr entnahm, konnte Carl nicht sofort erkennen. Metall blitzte im Laternenlicht auf.
Schritte näherten sich. Es hörte sich an, als wäre es mehr als eine Person. Carl sprang auf die Beine. Sie waren aufgeflogen! Was sollte er tun? Er hatte sie hier so sehr in Sicherheit gewähnt, dass er sich gar keinen Fluchtplan gemacht hatte. Amanda brachte sich in Stellung, hob den rechten Arm, und Carl erkannte in ihrer Hand eine winzige Pistole mit Perlmuttgriff und Messingverzierungen. Doch Amanda zielte nicht auf den Eingang, unter dem jeden Augenblick die sich nähernden Personen erscheinen sollten. Sie richtete den Doppellauf der Deringer auf Carl.
»Es tut mir leid, Carl.« Das Bedauern auf ihren Zügen wich einer schrecklichen Kälte. »Hier sind wir!«, rief sie laut.
Fürstenfeldt erschien in der Tür. »Fräulein Amanda, Herr Lohser, schön, Sie hier endlich zu treffen.« Klemens’ Schläger flankierten ihn mit grimmigen Gesichtern. Fürstenfeldt ließ seine Pistole sinken und streckte die Hand in Amandas Richtung. »Geben Sie mir das, das ist nichts für zarte Frauenhände. Ich schätze, wir haben Herrn Lohser auch so im Griff.«
Amanda händigte ihm die Deringer aus und stellte sich neben den Oberst.