Eines Sonntagabends im Frühjahr 1747, gerade als sich die Hofmusiker Friedrichs des Großen zum üblichen Abendkonzert einfanden, überbrachte ein Adjutant dem König in Preußen eine Liste der Neuankömmlinge in seiner Stadt. Der König überflog sie »und schrak hoch: ›Meine Herren, der alte Bach ist gekommen.‹« Anwesende berichteten später, in der Stimme des Königs habe »eine Art von Unruhe« gelegen.1
Der damals zweiundsechzigjährige Komponist Johann Sebastian Bach war aus dem achtzig Kilometer entfernten Leipzig angereist, um seinen Sohn Carl Philipp Emanuel zu besuchen, den ersten Cembalisten der Königlich Preußischen Kapelle. Gleich nach dessen Eintreffen in Potsdam hatte der König ihn wissen lassen, dass er den »alten Bach« gerne einmal kennenlernen würde. Doch der Sohn, dem bewusst war, von welch unterschiedlichen Temperamenten Vater und König waren, hatte nichts unternommen, um diese Begegnung zu arrangieren – offenbar aus gutem Grund, denn als das Treffen schließlich stattfand, prallten zwei sehr unterschiedliche Welten aufeinander.2
Bach, ein Witwer, der an den biblischen Traditionen festhielt und glaubte, dass das Musizieren eine »tief spirituelle Tätigkeit« sei, die »allein der Ehre Gottes diente«, war ein frommer lutherischer Hausvater, der mit zwei Frauen zwanzig Kinder gezeugt hatte. Friedrich, »ein bisexueller Misanthrop, der in einer kinderlosen politischen Ehe lebte«, wie der amerikanische Autor James Gaines bei seiner Schilderung dieser Begegnung schreibt, »war ein vom Glauben abgefallener Calvinist, dessen vielgerühmte religiöse Toleranz nur daher rührte, daß er alle Religionen gleichermaßen verachtete«. Bach schrieb und sprach deutsch, doch bei Hofe sprach jedermann französisch. Friedrich selbst rühmte sich, »von Jugend auf kein deutsches Buch gelesen« zu haben.3
Wie verschieden die beiden Männer waren, kam auch in ihrer jeweiligen Einstellung zur Musik zum Ausdruck. Bach war der brillanteste Vertreter der Kirchenmusik, vor allem aber des »kunstvollen Kontrapunkts« in Kanon und Fuge, »eine jahrhundertealte musikalische Tradition, aus der im Laufe der Zeit derart esoterische Theorien und Praktiken erwachsen waren, daß sich manche ihrer Vertreter als Hüter einer gleichsam göttlichen Kunst sahen«. Friedrich hielt so etwas für völlig überzogen, den Kontrapunkt fand er einfach nur altmodisch, und eine Musik, die »nach der Kirche schmeckte«, verabscheute er ohnedies.4
Ungeachtet solcher Differenzen ordnete der König an, den »alten Bach« augenblicklich ins Schloss zu geleiten, als er dessen Namen auf der Ankunftsliste entdeckte. Er ließ ihm nicht einmal Zeit, sich umzukleiden. Als Bach schließlich völlig erschöpft von der Reise eintraf, spielte ihm der König »eine sehr lange, ungeheuer komplizierte Figur« am Pianoforte vor und bat ihn (na ja, es war wohl kaum eine Bitte), eine dreistimmige Fuge daraus zu machen. Trotz der späten Stunde und trotz seiner Erschöpfung stellte sich Bach »mit einem fast unvorstellbaren Maß an Einfallsreichtum« der Aufgabe. Sogar das »aus lauter Kennern bestehende Publikum« verharrte »in Verwunderung«.5 Aber Friedrich war noch nicht zufrieden – vielleicht war er sogar etwas enttäuscht, dass der alte Bach die Aufgabe so gut gemeistert hatte. Also forderte er den Komponisten auf, das Thema in eine sechsstimmige Fuge zu verwandeln. Doch durch diesen Reifen zu springen war Bach nicht bereit, jedenfalls nicht hier und nicht jetzt. Er versprach, sich an die Arbeit zu machen und dem König die Noten dann sofort zukommen zu lassen.
Im Juli, zwei Monate nach jenem Abend in Potsdam, hatte der stolze Bach die sechsstimmige Fuge fertiggestellt und abgeschickt. Den historischen Quellen lässt sich nicht entnehmen, ob der König sie jemals spielen ließ, doch falls er es tat, muss sie ihm, dem nicht nur feinsinnigen, sondern auch scharfsinnigen Mann, gewiss als ein ziemlicher Affront erschienen sein. Denn diese Komposition war »ein vernichtender Angriff auf alles, wofür Friedrich stand«.6 Vordergründig hatte Bach eine tief religiöse Musik komponiert, doch in Wahrheit mangelte es der Partitur nicht an subtilem Sarkasmus: Bach hatte zwei Epigramme eingefügt, eines über »des Königs Glück« und das andere über den »Ruhm des Königs«, doch es waren nicht die zu erwartenden triumphalen Klänge, sondern höchst melancholische Melodien.7 Außerdem war das Stück durchsetzt mit Kontrapunkten und anderen musikalischen Elementen, die stark »nach der Kirche schmeckten« – was Musikwissenschaftler später zu dem Schluss brachte, dass sich Bach auf diese Weise bei seinem »Musikalischen Opfer« das letzte Wort vorbehalten hatte. Er hatte dem König die Stirn geboten, ihn getadelt, ja, ihn sogar mit der Mahnung verspottet: »Wisse, es gibt ein Gesetz, das über dem der Könige steht, das unwandelbar ist und nach dem auch du wie wir anderen allesamt gerichtet werden.«8
Diese subtile, geschickte Parade versinnbildlicht den Zusammenprall zweier sehr unterschiedlicher Welten, einen Konflikt, der sich im Jahr 1747 massiv zugespitzt hatte. Drei Jahre später starb Bach. Die letzte große Errungenschaft seines Lebens, seine Messe in h-Moll, eines der großen Meisterwerke abendländischer Musik (»gigantisch« in den Worten des Musikkritikers Harold Schonberg), hatte er in den letzten Monaten seines Lebens fertiggestellt, selbst aber nicht mehr zu Gehör bekommen. Mit dieser Messe und dem Tod dieses Komponisten hatte eine ganze künstlerische, geistig-spirituelle und kulturelle Welt ihr Ende gefunden. Das Barock war im Wesentlichen der bildnerische Stil der gegenreformatorischen Kirche gewesen; und die hatte nach den Worten eines großen katholischen Reformers, des römischen Kardinals Gabriele Paleotti, das Ziel verfolgt, »die Seelen ihrer Söhne zu entzünden«, »den Augen der Gläubigen ein üppiges Schauspiel zu bieten« und die Kirche zum »Ebenbild des Himmels auf Erden« zu machen. Bach, wiewohl Protestant, hatte mit seiner Musik mehr oder weniger das gleiche Ziel verfolgt. Und dieses Verständnis, diese Ästhetik waren mit ihm gestorben.
Das barocke Feuer war am Verlöschen, doch dafür entstanden neue Glaubensformen, neue Stimmungen und neue Denkweisen. Und einige dieser Innovationen beruhten auf mindestens ebenso profunden und revolutionären geistigen Umbrüchen wie die grundlegendsten Neuerungen in den vorangegangenen tausend oder gar zweitausend Jahren. Viele davon sollten nicht nur Europa, sondern auch Nordamerika verwandeln, und einige von ihnen waren typisch deutsch oder wurden in den deutschen Ländern zumindest besser aufgenommen als anderenorts.
Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts – im Jahr 1763, um genau zu sein – waren die deutschen Länder »Europas Tummelplatz« gewesen, wie der Harvard-Historiker Steven Ozment schreibt. Ihre geografische Lage im Herzen Europas hatte seit dem Mittelalter dafür gesorgt, dass sie zu Wegscheiden im internationalen Handel wurden, wovon sie deutlich profitierten. Anfang des 16. Jahrhunderts hatten sich freie Reichsstädte wie Augsburg, Ulm, Köln, Hamburg, Bremen oder Lübeck einer Bürgerkultur gerühmt, die höchstens noch von ihren italienischen und Schweizer Gegenparts übertroffen wurde. Nürnberg zum Beispiel war die Heimstatt von Albrecht Dürer, Veit Stoß, Adam Krafft, Peter Vischer und Hans Sachs. Doch im 17. Jahrhundert verwandelte diese geografische Zentralität die deutschen Länder in das Schlachtfeld der europäischen Großmächte Frankreich, Russland, Schweden, Österreich-Ungarn und England. Der erbitterte Dreißigjährige Krieg (1618–1648) zwischen Katholiken und Protestanten wurde im Wesentlichen auf deutschem Boden ausgetragen und war so grausam, dass man sich landauf, landab kaum noch etwas anderes als Gräuelgeschichten erzählte: In der Schrift The lamentations of Germany, wherein, as in a glasse, we may behold her miserable condition, composed by Dr Vincent, Theo (London 1638) finden sich Bildtafeln, auf denen »kinderfressende Kroaten« oder »abgeschnittene und zu Hutbändern verarbeitete Nasen und Ohren« und ähnliche künstlerisch gestaltete Leckerbissen zu bestaunen sind. Am Ende meißelte der Westfälische Friede – der nicht zuletzt aus Erschöpfung geschlossen wurde – aus den herrschenden Umständen eine neue politische Realität heraus, einen lockeren Bund von Staaten sehr ungleicher Größe und Bedeutung: Im 18. Jahrhundert gab es neun Kurfürsten (wie der förmliche Titel jener Reichsfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation lautete, welche dem Kollegium angehörten, das den römisch-deutschen König und somit den traditionellen Anwärter auf den Thron des römisch-deutschen Kaisers wählte); daneben den Reichsfürstenrat aus 94 weltlichen und geistlichen Fürsten, 103 Reichsgrafen und 40 Reichsprälaten sowie den Rat der freien Reichsstädte, der über 51 Sitze verfügte. »Sie alle waren souveräne Herrscher über ihr Territorium und lehensrechtlich nur und direkt vom Kaiser abhängig. Dazu muß man rund 1000 Ritter rechnen, die bei der Herleitung ihres Machtanspruches ebenfalls auf ihre ›Reichsunmittelbarkeit‹ pochten, insgesamt aber kaum mehr als 200 000 Untertanen hatten.«9 Die entscheidende Entwicklung in diesem Durcheinander war, dass die souveränen (und mehrheitlich protestantischen) Staaten einer nach dem anderen von ihrem einstigen historischen Zentrum, dem katholischen österreichisch-ungarischen Reich der Habsburger, »wegtrudelten«. Bayern, Brandenburg-Preußen, Sachsen und Württemberg machten ihre neuen Territorialrechte geltend, die ihnen das Recht auf eine autonome Außenpolitik und eigene Bewaffnung verliehen hatten, und traten aus dem Schatten der Habsburger heraus (wenngleich nur Brandenburg-Preußen über ein Berufsheer verfügte, das dieses Namens wert war).10 1667 bezeichnete der Naturrechtsphilosoph und Historiograf Samuel von Pufendorf (der den Begriff des »Dreißigjährigen Krieges« geprägt hatte) die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches als einen »irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper«.11 Die Bevölkerungszahlen hatten rapide abgenommen, in Württemberg zum Beispiel von 445 000 im Jahr 1622 auf 97 000 im Jahr 1639, und die deutschen Staaten waren nun derart fragmentiert, dass Kähne auf dem Rhein durchschnittlich alle zehn Kilometer erneut Grenzzölle entrichten mussten.12 Derweil hatten sich die Handelsrouten im Zuge der Entdeckungsreisen auf den Nordatlantik verlagert. Die Wirtschaft des Reiches kümmerte dahin.
Diese neue Welt konnte wohl keinen Bestand haben. Die wichtigste politische, kulturelle und gesellschaftliche Evolution im Lauf der nächsten zweihundert Jahre waren der Aufstieg des Königreichs Preußen und dessen Entwicklung zu der Keimzelle, aus der alles, was folgte, entstand. Im Jahr 1700 war das habsburgische Österreich-Ungarn von neun Millionen Menschen bevölkert und noch der bestimmende Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewesen. In Preußen lebten zu dieser Zeit kaum drei Millionen, auch hinsichtlich der Größe seines Territoriums rangierte es nur an elfter Stelle in Europa. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts konnte es sich dann jedoch der drittstärksten Armee Europas rühmen – und deren Atem bekam nun das Habsburgerreich im Nacken zu spüren.13 Die Ursache für diesen Wandel war letztendlich der Westfälische Friede gewesen, denn im Zuge dieser Verhandlungen waren Brandenburg-Preußen die Gebiete von Ostpommern, Magdeburg, Minden und Schlesien zugefallen. Die Erfolge Preußens waren allerdings auch einer Reihe von Herrschern zu verdanken, denen jeweils ein sehr langes und produktives Leben beschieden war. Doch die wichtigste Entwicklung, diejenige nämlich, welche Preußen aus eigener Sicht wie auch nach dem Urteil anderer Länder seinen typischen Charakter verlieh, war eine neue Variante des christlichen Glaubens. Die Evolution des Deutschtums (wie wir es heute verstehen) gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts lässt sich kaum nachvollziehen, wenn man sich nicht zuerst mit dem Pietismus befasst.
Friedrich der Große zog aus gutem Grund so viel Aufmerksamkeit der Historiker auf sich: Er war eine kraftvolle Persönlichkeit. Und dank seines militärischen Geschicks, seines persönlichen Charismas und seiner künstlerischen wie geistigen Interessen hatte er die »deutsche Renaissance«, die das Thema der nächsten Kapitel sein wird, eindeutig begünstigt. Dass er eine bedeutende Rolle spielte, steht also außer Frage. Doch die jüngere Forschung konzentrierte sich mehr auf den Vater, Friedrich Wilhelm I., da Friedrich II. ohne dessen Errungenschaften und ohne die von ihm eingeleiteten Reformen vermutlich nie eine derart glanzvolle Karriere hätte machen können.
Als Friedrich der Große 1740 im Alter von achtundzwanzig Jahren an die Macht kam, übernahm er einen Staat, der sich bereits durch ein beispielloses Pflichtbewusstsein seiner Beamten auszeichnete. »Während die Monarchen in anderen europäischen Residenzstädten über Hofstäbe herrschten, die sich durch demonstrativen Luxus auszeichneten, trugen die preußischen Könige Uniform und gaben ein moralisches Beispiel an Sparsamkeit und Genügsamkeit.« Schon damals war die preußische Verwaltung unter ihren europäischen Gegenparts für die wesentlich höheren Normen bekannt gewesen, die sie sich in Bezug auf Anstand und Fleiß setzte.14
Um 1950 vertrat der Historiker Carl Hinrichs die These, dass sich die preußische Ideologie vom Staatsdiener am ehesten als Frucht der pietistischen Bewegung verstehen lasse. An mehreren Beispielen zeigte er die Zusammenhänge zwischen dem Pietismus und den wichtigsten politischen Initiativen Friedrich Wilhelms I. auf. Da Hinrichs’ entscheidendes, posthum (1971) veröffentlichtes Werk zum Thema Preußentum und Pietismus allerdings nur eine Sammlung einzelner Abhandlungen war und ergo keine kohärente, voll ausgearbeitete These bot, nahm sich vor einigen Jahren der englische Historiker Richard Gawthrop all der Punkte an, an denen es Hinrichs’ Werk mangelte. Meine folgende Darstellung stützt sich stark auf Gawthrops Analysen.15
Der Pietismus war um das Jahr 1670 aufgetaucht, und weil sein Gewicht so deutlich auf der Disziplin lag, erregte er das Interesse von Gläubigen, die fanden, dass die Lutherische Kirche mittlerweile selbst von der Korruption besudelt war, die zu bekämpfen sie einst angetreten war. Diesen ersten Pietisten war es jedoch noch einzig und allein um die Rückkehr zu Luthers »unverdorbener Schlichtheit« gegangen. Sie legten den Schwerpunkt auf »das Priestertum aller Gläubigen gegen die Hierarchie; auf das innere Licht gegen die Obrigkeit der Lehre; auf den Glauben des Herzens gegen den Glauben des Kopfes [...] und auf praktizierte Wohltätigkeit anstelle von scholastischen Disputationen«.16 Aber natürlich wirkte der Pietismus auch aus anderen Gründen attraktiv, insbesondere für die politische Obrigkeit, da er die Betonung auf das »innere Licht« legte, auf die reformierten Kirchen also, die nach dem Westfälischen Frieden 1648 gegründet worden waren und ergo eine weit geringere politische Bedrohung darstellten als das Papsttum, dessen ältere, orthodoxere und besser organisierte Kirche so viel seiner weltlichen Macht verloren hatte. Der Wechsel zu einem Glauben, der mehr die »Innerlichkeit« betonte, ermöglichte es den Obrigkeiten außerdem, dessen Glaubensbekenntnis als ein Mittel zu dem Zweck einzusetzen, dem Laientum striktere moralische Disziplin aufzuerlegen. In diesem Punkt deckten sich die Ziele des Pietismus und Friedrich Wilhelms bestens.
Der Pietismus war stark vom englischen Puritanismus beeinflusst, der für seinen »interventionistischen Moralismus« bekannt war und lehrte, dass gute Taten in diesem, dem irdischen Leben bestimmten, was der Seele am Tage des Jüngsten Gerichts widerfahren werde. Gott, erklärten die Puritaner, wolle, dass der Mensch gute Taten im Hier und Jetzt vollbringe, denn durch sie offenbare sich der Herr. Friedrich Wilhelm war zwar formal kein Pietist, aber doch in einer Atmosphäre aufgewachsen, die von vergleichbaren Vorstellungen und einer ähnlichen Arbeitsethik geprägt war. So kam es denn, dass der König den Pietisten zwischen 1713 und 1740 beispiellose Möglichkeiten bot, ihre Ziele in die Tat umzusetzen, was dann wiederum ihm zur Legitimierung seines Plans diente, das administrative, militärische und wirtschaftliche Leben seines Staates grundlegend umzustrukturieren. Nach Meinung von Thomas Nipperdey sollte das allerdings einen ganz anderen Effekt haben: Da das Zentralmotiv des Protestantismus der »anthropologische Pessimismus« war und da dieser »aufs Konservative« verwies, war dieses ganze Bestreben logischerweise antimodern.17 Und das hatte schwerwiegende Konsequenzen.
Der Erste, der die Aufmerksamkeit auf diesen neuen Denkansatz lenkte, war der im Elsass geborene lutherische Theologe Philipp Jakob Spener (1635–1705), und zwar mit seiner Schrift Pia desideria (»Fromme Wünsche«, 1675).18 Aber es war August Hermann Francke (1663–1727), der Hauptvertreter des hallischen Pietismus, welcher Preußen schließlich verwandeln sollte. Um 1690 hatte Spener die preußischen Machthaber überzeugt, zwei Lehrstühle an der theologischen Fakultät der erst kurz zuvor gegründeten Universität Halle mit Pietisten zu besetzen. Und dort, wie auch an der Universität Göttingen, sollten die Vorstellungen von Bildung und Gelehrsamkeit dann völlig verwandelt werden (und sich von Deutschland in den Rest der Welt verbreiten). Jedenfalls trat der Lübecker Francke, nachdem er vom Lehrbetrieb in Leipzig ausgeschlossen worden war, 1691 der Theologischen Fakultät an der Universität Halle als »Professor für Griechisch und Orientalische Sprachen« bei und übernahm dort 1698 schließlich den Lehrstuhl für Theologie, der ihm Gelegenheit bot, die Rolle des Staates im Lichte der pietistischen Ziele neu zu überdenken.19
Seine eigene frühe Glaubenskrise und anschließende »Wiedergeburt« hatten Francke überzeugt, dass eine christliche »Herzensbildung«, das Gebet, das Studium der Bibel, aufrichtige tätige Reue und eine tägliche Selbstprüfung die einzig wahren Grundlagen für ein glaubenstreues Leben seien – im Gegensatz zu den stetigen Versuchen, den Geist zu vervollkommnen oder über die wahre Lehre zu streiten. Auch wollte er nicht, dass ein Christ seine Frömmigkeit durch innere Einkehr zu stärken versuchte: Um das biblische Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen, gelte es vielmehr, der Gesellschaft in Barmherzigkeit zu dienen.20 Da war es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Ansicht, dass es die Berufung eines Pietisten sei, mit Rat und Tat dem Wohle seiner Mitbürger zu dienen.21 Aus theologischer Sicht war Franckes Denkansatz ziemlich gewagt, denn er rechtfertigte den pietistischen Aktivismus mit dem Argument, dass die Schöpfung vervollkommnet werden könne. Und nicht nur das – er behauptete sogar, dass der tatkräftige Beitrag zu deren Vervollkommnung der tragende Pfeiler des individuellen Strebens nach Erlösung sei.22
Franckes Vision entwickelte sich in einer Atmosphäre, die man als den langen Sog des Dreißigjährigen Krieges bezeichnen könnte. Glaubenszweifel waren zwar noch nicht weit verbreitet, aber inzwischen doch mit Sicherheit vermehrt zu finden.23 Das erklärt auch, weshalb das Schwergewicht von Franckes Erziehungssystem auf einer strengen – sehr strengen – Kontrolle lag. Jedem Zögling wurde eingeimpft, asketisch zu leben und Gott bedingungslos zu gehorchen. Gleichzeitig förderte Francke jedoch auch weltlichere, lebensnähere Unterrichtsfächer, denn die Zöglinge pietistischer Schulen sollten ja einmal etwas Sinnvolles für ihre Nächsten leisten können.24 Die Oberaufsicht über seine Reformbestrebungen führte der Klerus, den Francke mittlerweile als »Lehrerstand« bezeichnete. Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Netzwerke ehemaliger Schüler aus Halle bildeten.25
Das war der Stand der pietistischen Pädagogik, als Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1713 den Thron bestieg. Er hatte 1708 selbst eine Art Wiedergeburt erlebt und eine Vision gehabt, die den spirituellen Vorstellungen Franckes nicht unähnlich war. Nach seiner Inthronisierung verlor er denn auch keine Zeit, um sich zum Patron der studierten Theologen aus Halle zu machen und die Kräfte des hallischen Pietismus vor den Karren seiner eigenen Prioritäten zu spannen.26
Um sein Vorhaben durchführen zu können, musste der König jedoch nicht nur die Kirchen und Schulen, sondern auch den gesamten Staatsapparat und jede Behörde Preußens mobilisieren. So also begann die Vorstellung vom »Staatspietismus« Gestalt anzunehmen.27 1725 wurden die beiden bedeutenden hallischen Pietisten Abraham Wolff und Georg Friedrich Rogall als Theologieprofessoren an das Collegium Fridericianum in Königsberg berufen, 1729 tat Friedrich Wilhelm noch ein Übriges und erließ ein Dekret, das alle lutherischen Pastoren zu einem mindestens zweijährigen Studium an der Universität Halle verpflichtete – ein bemerkenswerter Akt geistlich-geistiger Zentralisierung: Der pietistische Einfluss begann den Charakter der Kirche in Preußen dauerhaft zu verändern.28
Doch den tiefgreifendsten Einfluss übte der Pietismus auf das Militär und die Verwaltung aus. Das Militärkirchenwesen wurde 1718 umstrukturiert, bis schließlich mehr als hundert pietistische Pastoren über die Regimenter verteilt waren.29 Sie sahen sich jedoch mit einem solchen Unwissen konfrontiert, dass sie den Soldaten und ihren Familien erst einmal Lesen und Schreiben beibrachten, was aber gewiss keine verlorene Zeit war, denn sie taten das anhand der Bibel und konnten somit zugleich die pietistischen Glaubensweisen und Werte vermitteln. Das Militärkirchenwesen sorgte außerdem für die Erziehung der Soldatenkinder-Hunderte von Regimentsschulen wurden im Lauf der zwanziger Jahre im 18. Jahrhundert erbaut. (Um die Dinge zu beschleunigen, hatte Friedrich Wilhelm die Kapläne angewiesen, niemanden zu konfirmieren, der nicht des Lesens und Schreibens mächtig war.30) Sogar der Ehrbegriff wandelte sich: Nun spiegelte sich in »Ehre« nicht mehr nur ein ausgezeichneter militärischer Ruf, nun gebührte Ehre auch dem Soldaten, der in einem viel allgemeineren Sinne seine Pflicht gegenüber dem Nächsten erfüllte, sei es als Quartiermeister, Ausbilder, selbst als Revisor. Nur eines war von Bedeutung, nämlich die Frage, in welchem Maße ein Soldat seinem Nächsten, und sei er untergeordnet, diente.
Auch die Bürokratie wurde von dieser neuen Kultur durchdrungen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hatten die mit einem Mal unabhängig gewordenen Regionalfürsten mehr Geld gebraucht, um ihr – am französischen Vorbild orientiertes – höfisches Leben finanzieren zu können. Das hatte eine relativ aufwendige Bürokratie für die effiziente Verwaltung der fürstlichen Angelegenheiten erforderlich gemacht.31 Es war die Geburtsstunde des Beamtenstands. 1693 wurden Zulassungsprüfungen für die oberen Ränge im Rechtssystem eingeführt, 1727 wurden in Halle und Frankfurt an der Oder die ersten Lehrstühle für Kameralistik an deutschen Universitäten eingerichtet und somit erstmals Vorlesungen über die fachlichen und rechtlichen Aspekte des wirtschaftlichen, finanziellen und politischen preußischen Staatssystems angeboten. 1958 schrieb der in die USA emigrierte deutsche Historiker Hans Rosenberg in seinem Buch The Prussian Experience, dass die drei beherrschenden Elemente dieser Zeit Bürokratie, Aristokratie und Autokratie gewesen seien. Aber der König war auch ein vehementer Verfechter der Meritokratie. Ständig wies er seine Untertanen auf die Möglichkeiten hin, die selbst kleinsten Beamten offenstanden, um die Karriereleiter zu erklimmen und beispielsweise in das Amt eines Steuerkommissars oder Abteilungsleiters aufzusteigen.32 In diesem Milieu wurde der Beamte zum Vertreter einer militanten Ideologie, die dazu gedacht war, mit Hilfe von Bildung und Ausbildung das Niveau der bürgerlichen Gesellschaft anzuheben. 1742 berichtete eine königliche Kommission, dass nicht weniger als 1660 Schulen neu erbaut oder renoviert worden waren.
Ebenso folgenreich war, dass die von Friedrich Wilhelm I. und von den Pietisten initiierten pädagogischen Verbesserungsmaßnahmen im Lauf der Zeit eine ganz neue kollektive Mentalität erschufen. Wie der amerikanische Historiker Walter Dorn schrieb, wurden die Preußen nun »zum diszipliniertesten Volk im modernen Europa«.33 Friedrich der Große bewies guten Menschenverstand, als er diese militärisch-bürokratisch-pädagogisch-wirtschaftliche Struktur nach seinem Amtsantritt beibehielt. Der »Staatspietismus«, der bis zu seinem Tod im Jahr 1786 zum zentralen Element der preußischen Kultur geworden war, erwies sich als stabil genug, um sogar die napoleonischen Verwüstungen zu überstehen (wie auch Stefan Zweig hundert Jahre später anerkennend bemerken sollte).
Ebenso typisch wie der Beamtenstand waren Preußens Universitäten, die dem Land jene spezifische Intelligenz schenkten, deren Denken so langfristige Folgen haben sollte. Im 18. Jahrhundert unterschieden sich deutsche Universitäten in mehreren entscheidenden Aspekten von den englischen. Erstens verfügten die deutschen Länder zu Beginn des 18. Jahrhunderts über wesentlich mehr Hochschulen, nämlich rund fünfzig, wohingegen es in England nur Oxford und Cambridge gab. Viele dieser Universitäten waren sehr klein (die Rostocker zum Beispiel, an der im Gründungsjahr 1419 fünfhundert Studenten eingeschrieben gewesen waren, hatte nur noch vierundsiebzig, die Universität Paderborn sogar nur fünfundvierzig). Doch die Tatsache, dass es so viele im Land verstreute Hochschulen gab, hatte einen großen Vorteil: Es vereinfachte den Erwerb einer höheren Bildung für die begabten Söhne aus weniger wohlhabenden Familien.34
Um die Wende zum 18. Jahrhundert waren die Lehrmethoden noch sehr rückständig gewesen. Die Norm war die Lehre von unwandelbaren Wahrheiten, nicht von neuen Ideen. Niemand erwartete von den Professoren, neues Wissen zu generieren; und vor allem die geisteswissenschaftlichen und philosophischen Fächer (womit Geschichte, Sprachen, Mathematik usw. gemeint waren, dazu später mehr) hatten stark abgebaut. In vielen katholischen Universitäten wurden überhaupt nur noch Theologie und Philosophie angeboten. Abgesehen davon war die Universität ständig von einem Konkurrenten bedroht, nämlich der sogenannten Ritterakademie für die Söhne der Hochwohlgeborenen, die modischere Curricula anbot, mit den Schwerpunkten Rechnen, moderne Sprachen, gesellschaftliche Umgangsformen, Kampfkünste und einem oberflächlich naturwissenschaftlichen Konglomerat. Das heißt, sie offerierte eher weltmännische Breite als scholastische Tiefe. Naturwissenschaftliche Forschung, sofern überhaupt betrieben, konzentrierte sich üblicherweise auf die neuen königlichen Akademien der Wissenschaften (wie sie 1700 in Berlin, 1742 in Göttingen und 1759 in München nach französischem Vorbild gegründet worden waren). Hinzu kam, dass der Betrieb an deutschen Universitäten ganz nach dem Gusto der jeweiligen Fürsten ablief und diese sie nach Belieben für ihre weltlichen (das heißt: ausgesprochen zweckgebundenen) Ziele nutzten. Diese Universitäten waren keine Stätten für autarke Gelehrte, die sich, wie in Oxford und Cambridge, ganz dem Studium der Altphilologie oder Mathematik hingeben konnten.35
Obwohl die deutschen Universitäten um das Jahr 1700 von vielen Gebildeten also als irrelevant und moribund betrachtet wurden, sollten paradoxerweise Ende des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts gerade auf deutschem Boden vier neue Universitäten ihre Pforten öffnen, die das geistige Klima im Land völlig veränderten: 1694 im preußischen Halle; 1702 im schlesischen Breslau; 1737 in Göttingen, im Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg (Kurhannover); und 1742 in Erlangen, im fränkischen Markgrafentum Brandenburg-Bayreuth. Auch Heidelberg war natürlich von Bedeutung, doch da diese Universität bereits 1386 gegründet worden war, lässt sie sich schlecht zu den damals »neuen« zählen.
Die Georg-August-Universität zu Göttingen sollte mehr Einfluss ausüben als alle anderen, ausgenommen Halle. Ihre führende Persönlichkeit war der in Berlin geborene Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen (1688–1770).36 Er selbst hatte sich in Utrecht den letzten universitären Schliff geholt, bevor er eine große Rundreise durch Italien antrat. Aber die Erfahrung, dass man sich die letzten Sporen im Ausland holen musste, hatte er als so unglückselig empfunden, dass der Wunsch nach einer Universitätsreform in ihm reifte. 1728 wurde Münchhausen in das Geheime Ratskollegium von Hannover berufen und begann sich sogleich für die Gründung einer neuen Universität einzusetzen, und zwar so erfolgreich, dass er schließlich selbst zum Kurator der neuen Bildungsstätte ernannt wurde. Bald darauf führte er Neuerungen ein, die sich als ausgesprochen nachahmenswert erweisen sollten.37
Zuerst einmal stellte Münchhausen sicher, dass die Theologie künftig eine weniger dominante Rolle spielen würde. Die Göttinger Universität war die erste, die das traditionelle Zensurrecht der theologischen Fakultät einschränkte. Wie der amerikanische Historiker Thomas Howard in seiner Studie über die Entwicklung der deutschen Universität schreibt, lässt sich »die historische Bedeutung dieser Maßnahme schwerlich überbewerten«. Götz von Selle bezeichnete sie als »den Angelpunkt für die große Wende deutschen Lebens, das seinen Schwerpunkt von der Religion auf den Staat verlegte«.38 Nach dieser aufgeklärten Entscheidung reifte in Göttingen eine in deutschen Ländern beispiellose Gedanken- und Publikationsfreiheit heran.
Entscheidend war demnach, dass Münchhausen die Gewichtungen der theologischen und philosophischen Fakultäten ins Gegenteil verkehrte. Traditionell war die Philosophie eine deutlich untergeordnete Disziplin gewesen. Sie hatte den Professoren wie den Studenten letztendlich nur als ein Antichambre zu der höher geachteten theologischen Fakultät gedient. Erst mit Münchhausens Insistenz, dass »philosophische« Studien – worunter Geschichte, Sprachen, Mathematik usw. verstanden wurden – mehr als nur der Förderung von schlecht vorbereiteten Studenten dienten, wurde ihnen wesentlich mehr Gewicht verliehen.39 Schließlich bot die philosophische Fakultät in Göttingen neben den traditionellen Fächern Logik, Metaphysik und Ethik auch Vorlesungen über »empirische Psychologie«, das Naturgesetz, Naturgeschichte, Physik, die reine und angewandte Mathematik (Vermessungskunde, militärische und zivile Baukunde), Politik, Geschichte, Geografie, Kunst und moderne Sprachen an. Neben den »philosophischen« Fächern offerierte sie aber auch die europaweit beste Ausbildung in den höfischen Künsten: Tanzen, Fechten, Zeichnen, Reiten, Musizieren und die Konversation in Fremdsprachen.40 Zeitgenossen stellten fest, dass nun immer mehr jungen Aristokraten der Sinn nach einer Universitätsbildung stand, nach »Studium und Gelehrsamkeit«, den Wegbereitern für »hohe Amtswürden«. Dass Geschichte, Philologie und Altertumskunde jetzt keine nebensächlichen, untergeordneten Lehrfächer mehr waren, sondern sich Respekt als autonome Disziplinen zu verdienen begannen, war der Universität Göttingen zu verdanken. Doch nicht nur die Geschichtswissenschaft, auch die klassische Philologie erlebte dort einen dramatischen Aufschwung: Neben ihrer Schwesterdisziplin, der Altertumswissenschaft, wurde sie bald zu der »deutschen« Wissenschaft par excellence.41 Johann Matthias Gesner (1691–1761) und sein Nachfolger Christian Gottlob Heyne (1729–1812) verwandelten das Bild dieses Studienbereichs grundlegend, als sie den Schwerpunkt von der Grammatik auf die Interpretation von Texten verlagerten, weil sie diese nun als einen Ausdruck der Kreativität im Altertum verstanden. Indem sie das Gewicht des altsprachlichen Studiums ergo auf die Frage verschoben hatten, was diese über die alte Kultur, das alte Alltagsleben und den alten Glauben offenbarten, hatten sie auch Sinn und Zweck des altphilologischen Studiums verändert. »Vor allem die bis dahin völlig vernachlässigte griechische Antike rückte nun in den Fokus.«42 Eine andere Göttinger Innovation waren die wissenschaftlichen Fachzeitschriften.43
In Göttingen wurde auch das Seminar weiterentwickelt. Welche Bedeutung diese Neuerung hatte, lässt sich kaum genug betonen, denn wie wir noch sehen werden, war es das Seminar, das zum modernen Forschungsverständnis, zur modernen Promotion, zu den modernen akademischen und wissenschaftlichen »Disziplinen« und zu der modernen universitären Aufteilung in »Fachbereiche« führte, die sich zu gleichen Teilen der Lehre und Forschung widmen. Solche, ursprünglich von Francke in Halle eingeführten, Seminare unterschieden sich nicht nur wesentlich von Vorlesungen, in ihnen spiegelte sich auch das grundlegende Umdenken in Bezug auf das wider, was man unter »Wissen« und »Bildung« verstand. Der Bruch verlief zwischen den spätmittelalterlichen Vorstellungen von Wissen (sciencia) und der nachaufklärerischen Idee von Wissenschaft. Die scholastisch-aristotelische Logik war davon ausgegangen, dass es nur eine einzige richtige Denkmethode gebe, die sich, sofern richtig angewandt – also mit Hilfe von syllogistischer Argumentation, Disputation, korrekter Begriffsbestimmung und einer klaren Strukturierung der Argumente – auf jede gelehrte Thematik applizieren lasse.44 Thematisch unterschiedliche Gebiete erforderten keine unterschiedlichen Methoden, hieß es, da sie allesamt mit der »rechten Vernunft« (recta ratio) behandelt und dank des Studiums der Logik erfasst werden könnten. Demnach war es der eigentliche Lehrzweck einer Vorlesung, dem Studenten die Fähigkeit zum logischen Denken zu vermitteln. Im Seminar gab es hingegen weniger Studenten, wurde zu Kritik ermuntert, wurde Wissen als etwas Veränderliches, weniger Festgelegtes betrachtet und neues Wissen als etwas, das es zu entdecken galt. Das Ziel des Seminarleiters war nicht die Reproduktion von »unveränderlichem Wissen«, sondern die Förderung »des Geschmacks, Urteilsvermögens und Geistes« seiner Schützlinge.
Im Zuge ihrer Weiterentwicklung begannen Seminare also sozusagen eine intimere Form der Lehre zu verkörpern. Man schätzte den Austausch von Ideen und Wissen und erwartete von den Studenten, dass sie sich selbst mehr einbrachten. Schritt für Schritt wich die passive Beherrschung eines kanonisch vorgeschriebenen Wissenskorpus der bewusst geförderten, aktiven Beteiligung an der Wissensproduktion. Und immer häufiger wurde von den frühen Seminaristen nun erwartet, dass sie schriftliche Arbeiten als Grundlagen für Disputationen und Evaluationen einreichten.45 Das förderte wiederum die Vorstellung von einer Forschung, bei der die Betonung auf Originalität lag (worüber noch zu sprechen sein wird: Die Forderung nach Originalität erreichte ihren Höhepunkt in der Romantik, als man originäre Forschung als eine Kunst für sich betrachtete). In einigen Göttinger Seminaren bildete sich die Praxis heran, Thesenpapiere eine Woche im Voraus abzuliefern, damit die anderen Studenten ihre Disputationen vorbereiten konnten.
Dementsprechend war es auch in Göttingen, wo der Begriff »Wissenschaft« im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert seine moderne Bedeutung anzunehmen begann. Im Göttinger Sinne meinte »Wissenschaft« nicht nur Lehre, Bildung, Wissen und Gelehrsamkeit, sondern beinhaltete erstmals auch ein Forschungselement, nämlich die Idee, dass Wissen ein dynamischer Prozess sei und von jedem selbst entdeckt werden könne, im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Wissen etwas sei, das bloß weitergegeben werden könne.46 Die seminaristische Gepflogenheit, schriftliche Arbeiten einzureichen – die jeweils entsprechend den Richtlinien der neuen Disziplinen strukturiert sein mussten –, führte dann zu der Unterscheidung zwischen einer »Abhandlung« und einer »Dissertation«, mit der Möglichkeit einer Promotionsurkunde und eines Doktortitels. Bei einer Abhandlung wurde im Wesentlichen nur die Belesenheit abgefragt beziehungsweise zur Schau gestellt (ein Student wurde beispielsweise aufgefordert, sämtliche bekannten Fragmente eines unbedeutenderen Klassikers zu lokalisieren und zu kompilieren), wohingegen die Dissertation eine Forschungsarbeit darstellen sollte, die der Überprüfung einer Hypothese diente oder zu einer These führte. Seit der Doktortitel dann auch im deutschen Staatsdienst als akademischer Grad anerkannt wurde, zeichnete sich ein immer deutlicherer Trend zur Promotion ab (auch darüber werden wir noch im Detail sprechen).47
Die Entwicklung des Seminars und die Verwandlung des Begriffs »Doktor« gingen Hand in Hand mit der Evolution der altertumswissenschaftlichen und altsprachlichen Disziplinen, ergo auch mit der Bibelkritik, was deutlich macht, dass beides von größerer Bedeutung war, als es auf den ersten Blick scheint. Der Neuhumanismus, der von dieser Entwicklung gefördert wurde, trug dann auch zu einer Neudefinition des »gebildeten« Menschen bei: Aus der eher aufs Äußerliche bedachten Vorstellung von Bildung, die von der ersten universitären Reformbewegung (in Halle unter Francke) vertreten worden war, wurde die Vorstellung von einer »innerlichen« Bildung.48 Im vorliegenden Buch wird häufig von Bildung die Rede sein – ein Begriff, der sich schwer in andere Sprachen übertragen lässt und der im Wesentlichen die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit meint, oder den Selbstverwirklichungsprozess mit Hilfe von Ausbildung und Wissenserwerb. Man könnte das als ein säkulares Streben nach Vervollkommnung bezeichnen, welche dann ihrerseits für Fortschritt und weitere geistige Vervollkommnung sorgt – als ein Amalgam aus Gelehrsamkeit und Erkenntnis.
Gemeinsam trugen Halle und Göttingen also zur Gestaltung einer neuen Ausbildungsweise bei, die einer neuen Gesellschaftsschicht in Deutschland, der wir noch einige Aufmerksamkeit werden widmen müssen, den Weg bereitete. Denn diese Schicht, die laut dem englischen Historiker Tim Blanning viel zu klein war, um eine eigene Klasse darzustellen, trat nun dennoch ihre Vorherrschaft in der Staatsverwaltung, der Kirche, dem Militär, der Professorenschaft und den akademischen Berufen an und begann somit einen ausgesprochen prominenten Platz in der deutschen Gesellschaft einzunehmen. Und da das Selbstverständnis dieser neuen Schicht mehr als das jeder anderen Gesellschaftsgruppe zur Wiederbelebung deutscher Kultur beitrug, unterschied sie sich auch deutlich von der traditionellen, kommerzieller ausgerichteten Mittelschicht.49 Die progressive, rationalisierende, leistungsbewusste und staatsorientierte Gesellschaftsvision, die diese neue Schicht in die Institutionen einbrachte, beeinflusste alle Strömungen in der Geschichte des 19. Jahrhunderts.50 Thomas Howard zufolge wirkte sich diese Vision im ersten Teil des Jahrhunderts sogar auf die Errichtung einer besonderen Staatsform aus, »oft als Kulturstaat oder Erziehungsstaat bezeichnet, der es für seine paternalistische Pflicht hielt, das Volk zu inspirieren und zu erziehen, damit »adäquate Bürger‹ aus ihm würden [...], welche verstünden, dass ihr eigenes Streben mit den hohen und ethisch seriösen Vorsätzen des aufstrebenden Nationalstaats kongruieren musste«. 1871, so Howard weiter, wurde dieser »Kulturprotestantismus« oder »Bildungsprotestantismus« dann zur »bürgerlich-religiösen Grundlage« des Deutschen Reiches.51
Aus all dem lässt sich eine wichtige Beobachtung herausfiltern: Die deutsche Intelligenz unterschied sich massiv von ihren Gegenparts in anderen Ländern. In Frankreich hatte sich die Intelligenz derart vom Regime des Königs entfremdet, dass sie schließlich zum Sturm auf die traditionelle Obrigkeit blies; in Russland bestand sie fast ausschließlich aus Aristokraten; in England existierten bis zum 20. Jahrhundert weder der Begriff noch die Vorstellung von einer »Intelligenz«. Bei der deutschen Intelligenz kam außerdem hinzu, dass sie sich aus allen sozialen Schichten rekrutierte, da für ein Amt in der Staatsverwaltung zwar ein Hochschulstudium, nicht aber die Zugehörigkeit zu einer bedeutenden »Familie« erforderlich war. Auch die Tatsache, dass es im Deutschland dieser Zeit keine Metropole wie London oder Paris gab, ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Relevanz. Jeder dieser Aspekte sorgte dafür, dass die deutsche Intelligenz weit gestreut, doch wesentlich unmittelbarer an der praktischen Staatsverwaltung beteiligt war als in irgendeinem anderen Land. Englische und amerikanische Soziologen pflegten als typisches Merkmal der Intelligenz ihrer Länder deren »Ferne von der Regierungs- und Verwaltungspraxis« anzuführen. Auf Deutschland bezogen lässt sich das ganz eindeutig nicht sagen.52
Noch im Mai 1775 hatte Christian Friedrich Daniel Schubart in seiner Zeitschrift Deutsche Chronik von einer neapolitanischen Dame berichtet, die nach einem Treffen mit mehreren reichen und gebildeten Deutschen sagte: »Deutschland muss eine große Stadt sein.«53 Joseph von Sonnenfels, eine herausragende Figur der österreichischen Aufklärung, erklärte in einem Brief, es wisse doch jedermann, dass sich der Franzose mit ungebührlicher Verächtlichkeit über die Traditionen, den Geist, die Gesellschaft, den Geschmack und alles andere auslasse, was unter deutscher Sonne erblühe: Die französischen Adjektive »tudesque«, »germanique« und »allemand« seien allesamt Synonyme für »grobschlächtig«, »schwerfällig« und »unkultiviert«.
Wahr ist, dass die meisten gebildeten Deutschen am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die literarische und künstlerische Kultur Frankreichs ihrer eigenen überlegen fanden oder dass England um seine politischen Freiheiten und seinen Parlamentarismus beneidet wurde. Doch das war, bevor die von den Pietisten initiierten und von den Landesregenten eingeführten Neuerungen zu greifen begannen und die Universitäten radikalen Umstrukturierungen unterzogen wurden. Außerdem erlebte Europa zur selben Zeit eine Reihe von wirtschaftlichen, politischen, sozialen und geistigen Umbrüchen, die sich unverhältnismäßig viel stärker auf die deutschen als auf die anderen europäischen Länder auswirkten und schließlich dazu beitrugen, dass die deutschsprachige Kultur noch vor Ende des 18. Jahrhunderts mit den Errungenschaften der französischen und britischen Kulturen gleichgezogen und diese in einigen Bereichen sogar überflügelt hatte.54
Zuerst kam die Leserevolution. Sie war nicht zuletzt der schrittweisen Aufhebung – oder zumindest Entschärfung – der Zensur zu verdanken, die angesichts der vielen autonomen deutschen Einzelstaaten allerdings ohnedies schwieriger durchzusetzen gewesen war. Dafür gibt es anekdotische wie statistische Nachweise. In einem Artikel aus dem Jahr 1791 hieß es: »In keinem Land ist die Leseliebhaberei ausgebreiteter als in Deutschland, und nie war sie es mehr als in der gegenwärtigen Periode [...]. Man findet jetzt die Werke guter und schlechter Schriftsteller in den Cabineten der Fürsten, und hinter dem Wertstule, und um nicht roh zu erscheinen, dekorieren die Vornehmen der Nation ihre Zimmer mit Büchern statt der Tapeten.«55
Der amerikanische Historiker Robert Darnton wies nach, dass die Publikation von Büchern nach dem Dreißigjährigen Krieg zwar drastisch zurückgegangen war, der Leipziger Messekatalog im Jahr 1764 jedoch wieder den Vorkriegsstand von rund zwölfhundert Neuerscheinungen jährlich erreicht hatte. Im Jahr 1770 (in dem Hegel und Hölderlin geboren wurden) waren achtzehnhundert Titel, im Jahr 1800 fünftausend Titel im Katalog verzeichnet. Die steigende »Leselust« wurde aber noch von einem anderen Phänomen des 18. Jahrhunderts angeregt: Erstmals gab es Leihbibliotheken, welche die Zeit, die dem Leser für die Lektüre eines Buches zur Verfügung stand, beschränkten. Im Jahr 1800 fanden sich neun Leihbibliotheken in Leipzig, zehn in Bremen und achtzehn in Frankfurt am Main. Jürgen Habermas zufolge existierten Ende des 18. Jahrhunderts zweihundertsiebzig Lesezirkel in Deutschland, was so mancher Zeitgenosse auf eine regelrechte »Lesesucht« zurückführte.56 Nirgendwo, ausgenommen in Neuengland, war Anfang des 19. Jahrhunderts eine Alphabetisierungsrate wie in Preußen und Sachsen zu verzeichnen.57
Ein anderer Faktor war die zunehmende Verwendung der Umgangssprache in schriftlichen Texten. »Im 18. Jahrhundert wurde die Übermacht des Lateinischen im Hinblick auf das gedruckte Wort endgültig gebrochen.« Der Anteil von lateinischen Titeln fiel in Deutschland von 71 Prozent im Jahr 1600 auf 38 Prozent im Jahr 1700 und auf 4 Prozent im Jahr 1800. In Frankreich wurde im 18. Jahrhundert sogar Pornografie in lateinischer Sprache publiziert.58 Parallel dazu war auch ein deutlicher Wandel des Geschmacks deutschsprachiger Leser festzustellen: Der Anteil an theologischen Titeln fiel von 46 Prozent im Jahr 1625 auf 6 Prozent im Jahr 1800, während die Anteile von philosophischen Titeln von 19 auf 40 Prozent und von schöngeistiger Literatur von 5 auf 27 Prozent stiegen. Hinzu kam, dass Deutschland durch die kulturelle Dezentralisierung (aufgrund der vielen politischen Einzelgebilde) zum »Land der Zeitschriften par excellence« wurde. Während die Anzahl der Gazetten und Zeitschriften in Frankreich von 15 im Jahr 1745 auf 82 im Jahr 1785 stieg, lagen die entsprechenden Zahlen in Deutschland bei 260 respektive 1225 (Zeitschriften in Frankreich hatten natürlich oft höhere Auflagen als in Deutschland, dafür wurden die deutschen früher als fast alle anderen mit Holzschnitten illustriert). »Sogar in Österreich musste der Polizeichef 1806 eingestehen, dass Zeitungen »eine echte Notwendigkeit« für die Gebildeten geworden waren, und nahm damit Hegels berühmte Bemerkung voraus, dass die Zeitungslektüre das Morgengebet des modernen Menschen darstelle.«59 Die Leserevolution brachte also nicht nur eine kritischere Einstellung zu den Dingen, sondern auch immer mehr Zeitschriften mit sich.
Doch Deutschland emanzipierte sich nicht nur von der lateinischen Sprache, es begann auch seine eigene weiterzuentwickeln. Nie war der Ruf der deutschen Sprache schlechter gewesen als um 1700. Im Jahr 1697, am Höhepunkt des Einflusses des französischen Sonnenkönigs, schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) entgegen seiner bisherigen Praxis, wissenschaftliche und philosophische Schriften in lateinischer oder französischer Sprache zu verfassen, erstmals ein deutschsprachiges Pamphlet: Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und sprache beßer zu üben.60 Damit hatte der Philosoph ein ernst zu nehmendes Beispiel gesetzt, an dem sich nun auch diverse neue Zeitschriften orientierten, darunter insbesondere die Wochenschrift Die Discourse der Mahlern, die um 1720 in Zürich von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger (unter der Mitwirkung eines inspirierten Freundeskreises) herausgegeben wurde und sich vorrangig mit der deutschen Sprache befasste.61 Nachdem sie ein paar Fehlstarts hingelegt hatten, wollten Bodmer und Breitinger aller Welt beweisen, dass Deutsch eine weniger schwerfällige, intimere, pläsierlichere Sprache sein konnte und nicht immer nur wie eine Predigt klingen musste. Allerdings annoncierten sie (und das war eine wichtige Beobachtung), dass dieses Deutsch wohl mehr Anklang bei Frauen finden würde.
Auf solchen Innovationen bauten andere auf. In Halle ging Christian Thomasius als erster deutscher Professor dazu über, Vorlesungen in deutscher statt lateinischer Sprache zu halten.62 Johann Christoph Gottsched, der in der Nähe von Königsberg geboren und später nach Leipzig geflohen war, um dort zuerst als außerordentlicher Professor Poetik und dann als ordentlicher Professor Logik und Metaphysik zu lehren, gründete eine »Deutsche Gesellschaft«, »die sich sprachlicher Integrität verschrieb. Demnach sei es die Aufgabe dieser Vereinigung, die Reinheit und Korrektheit der Sprache zu fördern [...], daß allein Hochdeutsch geschrieben werde, weder Schlesisch noch Sächsisch, weder Fränkisch noch Niedersächsisch; dadurch werde jenes Hochdeutsch eines Tages für ganz Deutschland verbindlich.«63 Prompt wurden in anderen deutschen Städten ebenfalls »Deutsche Gesellschaften« nach diesem Vorbild ins Leben gerufen. Auch zur Entwicklung des deutschen Romans und Dramas ermunterte Gottsched nach Kräften. 1751 publizierten Christian Fürchtegott Gellert sein populäres Traktat Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, mit dem er junge Menschen und vor allem Frauen ermuntern wollte, einen natürlichen Schreibstil zu entwickeln und nicht dem verbreiteten Irrtum zu unterliegen, dass das Deutsche nicht geschmeidig und flexibel genug sei, um kultivierte Themen zu behandeln und zärtliche Gefühle auszudrücken. Kurz darauf erschienen die ersten Briefromane in deutscher Sprache.
Einen letzten Effekt schließlich übte die Leserevolution auf das Selbstbewusstsein des Lesers aus. Wenn aus Druckerzeugnissen Allerweltsprodukte werden, schreibt der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson, dann drängt sich das Gefühl von Gleichzeitigkeit geradezu auf: Menschen aus allen Schichten begannen bei ihrer Lektüre zu realisieren, dass es Menschen gab, die die gleichen Erfahrungen machten wie sie und zur selben Zeit den gleichen Gedanken nachhingen. Man war nun an dem Punkt angelangt, »wo Gemeinschaften des »horizontal-säkularen und historischen« Typs« möglich, die öffentliche Behörde konsolidiert und die Obrigkeit entpersonalisiert wurden.64 Diese Entwicklung war einschneidender, als es auf den ersten Blick aussehen mag, denn, so Anderson weiter, die Tatsache, dass für Druckerzeugnisse nun die Landessprache verwendet wurde, war auch die Grundlage für die Entwicklung eines nationalistischen Bewusstseins. Anderson schlussfolgert: »Vor dem Hintergrund der unausweichlichen Vielfalt menschlicher Sprachen machte die Verbindung von Kapitalismus und Buchdruck eine neue Form von vorgestellter Gemeinschaft möglich, deren Grundzüge bereits die Bühne für den Auftritt der modernen Nation vorbereiteten.«65 Goethe sagte einmal über seinen Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (ein Stück über die Freiheit, den Aufstieg und Fall eines Reichsritters), es gehe darin um »Deutschheit emergiert«. Im 19. Jahrhundert führte das alles schließlich dazu, dass Deutschland zum »Land der Schulen« wurde, wie Thomas Nipperdey schreibt.66
Romane, Zeitungen, Zeitschriften und private Korrespondenz, die sich im 18. Jahrhundert allesamt solcher Beliebtheit erfreuten, hatte es in der einen oder anderen Form natürlich auch zuvor schon gegeben. Vollständig neu war jedoch ein kulturell-geistiges Medium, das ebenfalls in dieser Zeit auftauchte: das öffentliche Konzert. Es »eroberte die Gesellschaft in einem so rasanten Tempo, dass es bis 1800 schon ›die Hauptstätte der Musik als solcher‹ – per se – geworden war«.67 Und da Konzerte nun auch außerhalb fürstlicher und geistlicher Höfe stattfanden, waren die Komponisten von ihren einstigen Patronen befreit und konnten Musik nach eigenem Geschmack komponieren. »Das Resultat war die Eroberung der Musikwelt durch die Sinfonie, das Sinfoniekonzert und den Konzertsaal. Dieser anscheinend natürliche Fortschritt hat viele Historiker dazu veranlasst, den Aufstieg des Konzerts als das kulturelle Gegenstück zur Französischen Revolution darzustellen. ›Die Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts besteht im Wesentlichen darin, dass das aufstrebende Bürgertum diese Schranken und Begrenzungen einreißt, sich Zugang zu den bisher nur den feudalen Kreisen vorbehaltenen Kulturgütern schafft« [...].«68 Parallel zu diesem Umbruch wurde der Verkauf von Instrumenten und Partituren angekurbelt, ergaben sich ganz neue Möglichkeiten für Musikpädagogen und entstand ein dynamischer Aufschwung, von dem vor allem Deutschland profitieren sollte.
Die Gepflogenheit, öffentlich zu musizieren, kam im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts auf, als sich Musiker erstmals zu diesem Zweck in Gaststätten zusammenfanden. Aus solchen Zusammenkünften entwickelte sich das formellere Konzert. Laut Blanning geschah das vor allem in Frankfurt am Main, Hamburg, Lübeck und Leipzig, und eben weil dies alles Handelsstädte waren, lässt sich der Aufstieg des Konzerts auch deutlich mit dem des Bildungsbürgertums verknüpfen. In den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts gab es so viele Konzertveranstaltungen wie nie zuvor.
Das alles betraf natürlich nur den Musikkonsum. Musikalische Innovationen, also die Weiterentwicklung von instrumenteller und insbesondere sinfonischer Musik, konzentrierten sich auf Mannheim, Eisenstadt, Salzburg, Berlin und Wien, das heißt auf Residenzstädte, deren Bewohner meist ebenfalls adlige Staatsbeamten waren und in denen die Bourgeoisie eine viel geringere Rolle spielte. Tim Blanning zufolge machte das hohe musikalische Bildungsniveau der Wiener Aristokratie diese besonders empfänglich für musikalische Innovationen, was erklärt, weshalb Haydn, Mozart und Beethoven ihre jeweilige Musik dort so schnell weiterentwickeln konnten. Allein zwischen dem 26. Februar und dem 3. April 1784 gab Mozart zweiundzwanzig »Academien« (Benefizkonzerte) in Wien.69 Und die Tatsache, dass diese neue Musik in solcher Häufigkeit gespielt wurde, trug dann ihrerseits zur Evolution von immer neuen musikalischen Formen bei.
Um die Wende zum 19. Jahrhundert galt die Sinfonie als ein spezifisch deutsches Musikgenre. Kant verwarf in seiner Kritik der Urteilskraft reine Instrumentalmusik bekanntlich mit den Worten, sie sei »freilich mehr Genuß als Kultur«, letztlich nur eine Art von Untermalung also. Doch wie im sechsten Kapitel des vorliegenden Buches zur Sprache kommen wird, brachte der Aufstieg der Sinfonie auch eine neue Art des Zuhörens mit sich, da man der Instrumentalmusik besondere philosophische Tiefe zuschrieb. Ein letzter Faktor schließlich war die musikalisch begleitete Darbietung von sakralen Texten in der Umgangssprache, eine Praxis, die sich aus Italien ins katholische Österreich ausgebreitet hatte und im protestantischen Deutschland dann an die lutherische Tradition der Vertonung von biblischen Geschichten angepasst wurde (wie insbesondere in Händels Oratorien). Das Wesentliche bei diesem Genre war, dass öffentliches Musizieren nun zu etwas Ehrenwertem wurde. »Das Oratorium und dessen Aufführung waren erbaulich, eigneten sich hervorragend dazu, Spenden für wohltätige Zwecke zu sammeln, und waren daher auch dazu geeignet, das frühere Vorurteil, die Assoziation vom Musikgenuss in der Öffentlichkeit mit ›Musikhallen‹ im Pub oder Tanzsälen, zu überwinden [...]. Hier erkennen wir den Beginn eines Phänomens mit einer weitreichenden, berühmt-berüchtigten Zukunft: die Heiligsprechung der Kunst.«70
Während sich also die hochdeutsche Sprache entwickelte, die Lektüre von Büchern immer selbstverständlicher wurde und der allgemeine Bildungsstandard stieg, trug auch die Musik das Ihrige bei, um das Bild vom kulturell rückständigen Deutschen zu revidieren. Niemandem konnte die Anhäufung von hervorragenden deutschen Komponisten entgehen: Johann Pachelbel (1653–1706), Georg Philipp Telemann (1681–1767), Johann Sebastian Bach (1685–1750), Georg Friedrich Händel (1685–1759), um nur einige zu nennen. Die Braunschweiger Zeitschrift Der musikalische Patriot polemisierte triumphierend: Müssten die Italiener, die einstigen Lehrer der Deutschen, das heutige Deutschland seiner geschätzten Komponisten wegen nicht beneiden und insgeheim versuchen, von diesen zu lernen? Müssten insbesondere die hochtrabenden und mächtigen Pariser, welche deutsches Talent einst als provinziell zu verhöhnen pflegten, nunmehr nicht selbst Unterricht bei Telemann in Hamburg nehmen?71
Noch ein anderer Faktor trug entscheidend zur Verwandlung Preußens in eine (politische und kulturelle) europäische Großmacht bei: der Sohn Friedrich Wilhelms I. – Friedrich der Große. Heute herrscht allgemein die Meinung, dass zwei Seelen in des Königs Brust wohnten. Einerseits war Friedrich ein monarchischer Autokrat, andererseits zeit seines Lebens ein Bewunderer von John Locke und somit zumindest theoretisch ein Verfechter der vom Liberalismus gepredigten kulturellen und politischen Freiheit. In Wahrheit spiegelte sich in diesen beiden königlichen Herzen jedoch nur die Art von politischer Kultur, die sich im 18. Jahrhundert zu entwickeln begonnen hatte. Im Vergleich zu den politischen Systemen, die zu dieser Zeit in anderen europäischen Ländern oder in Nordamerika existierten, war Friedrichs Verwaltung ausgesprochen konservativ. Vor allem kam in ihr die typisch deutsche Vorstellung zum Ausdruck, dass sich Freiheit und Gleichheit am besten in einem System erreichen ließen, in dem Ordnung herrschte. Und solche Ordnung könne nur durch eine etablierte Autorität, wie sie die Person des Königs verkörperte, aufrechterhalten werden.
Obwohl Friedrich nach europäischen Standards also ein Konservativer war, brachte er seinem Land doch große Veränderungen. Nach seiner Thronbesteigung im Jahr 1740, seinen vielen Erfolgen auf dem Schlachtfeld (die ihm möglich gewesen waren, weil es ihm gelang, die Stärke und Qualität der vom Vater geerbten Armee noch auszubauen) und den von ihm initiierten Reformmaßnahmen war Preußens große Verwandlung in den führenden deutschen Staat und eine europäische Großmacht abgeschlossen.72
Friedrichs Mutter Sophie Dorothea von Hannover, die Schwester des englischen Königs Georg II., hatte die patriarchalische Welt ihres pietistischen Ehemanns ganz und gar nicht goutiert und war höchst besorgt gewesen, dass ihre Kinder darin ersticken würden. Der Vater hatte Friedrichs Erziehung hugenottischen Soldaten anvertraut, die ihn in die Mathematik, die Ökonomie, das preußische Recht und die moderne Geschichte einführten, ihm aber auch alles über Befestigungsanlagen, Taktiken und andere Kriegskünste beibrachten. Derweil hatte die Mutter darauf bestanden, dass der Sohn eine eigene Bibliothek mit mehreren tausend Bänden erhielt. So kam es, dass Friedrich bereits in sehr jungen Jahren mit den führenden französischen, englischen und deutschen Schriftstellern (in mehr oder weniger dieser Reihenfolge) vertraut wurde.
Kaum hatte er den Thron bestiegen, reorganisierte Friedrich die Preußische Akademie unter dem Namen »Akademie der Wissenschaften und freien Künste« und betraute mit deren Präsidentschaft den französischen Mathematiker Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Dieser hatte den Auftrag, die besten Köpfe nach Berlin zu locken, auf dass sich der König mit einem Kreis großer Geister umgeben könne. Das tägliche Regierungsgeschäft wurde von Schloss Charlottenburg am Rande Berlins aus geführt, während sich Friedrich in Sanssouci, seinem Sommerschloss in Potsdam, mit einer Tafelrunde kluger Köpfe traf. Hier vergnügte und stritt er sich mit so eminenten französischen Denkern wie Voltaire oder Jean le Rond d’Alembert, dem »Haupt der Enzyklopädisten«.»73 Fünf Exemplare wurden von jedem Buch angeschafft, das er lesen wollte, da er gleiche Bibliotheken in Potsdam, Sanssouci, Charlottenburg, Berlin und Breslau besaß.«74
Aus unserer heutigen Sicht ist kaum nachzuvollziehen, dass der preußische König und seine Höflinge französisch parlierten (Voltaire schrieb, dass er nie ein deutsches Wort bei Hofe vernommen habe). Friedrich mied die »halbbarbarische« deutsche Sprache und fand, dass »ein Schriftsteller auch bei der schönsten Begabung außerstande« sei, »die rohe Sprache in vorzüglicher Weise zu handhaben«, wie er 1780 in seinem berüchtigten Pamphlet Über die deutsche Literatur schrieb. Jedenfalls wollte er deutsche Schriften nur dann lesen, wenn sie ins Französische übersetzt worden waren. Dabei sprechen wir hier von einem Mann, der selber Gedichte schrieb, daneben politische und militärische Traktate sowie philosophische Abhandlungen, und der mit Hunderten, wenn nicht Tausenden führenden Intellektuellen seiner Zeit korrespondierte (er hinterließ allein 645 Briefe an Voltaire aus 42 Jahren).75
Dennoch war Friedrich nie imstande gewesen, der zeitgenössischen Kultur etwas abzugewinnen. Von Mozarts Existenz wusste er nicht einmal, und Haydns Musik tat er als »ohrenbetäubenden Lärm« ab.76 Gegenüber Voltaire klagte er 1775, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Goethes Leiden des jungen Werther, die »deutsche Literatur [sei] nichts weiter als ein Brimborium aufgeblasener Phrasen«.77 Neue literarische Formen, wie das bürgerliche Drama, verachtete er nicht weniger als alte deutsche Epen: Über das Nibelungenlied zum Beispiel fällte er das Urteil, »es sei keinen Schuss Pulver wert«.78 Im Traktat Über die deutsche Literatur beklagte er, dass es Deutschland nach den Verwüstungen durch den Dreißigjährigen Krieg zwar materiell wieder gut gehe, die Kultur aber noch immer darunter leide und noch immer zweieinhalb Jahrhunderte hinter der französischen herhinke. Was jetzt nottue, seien Genies. Doch bis wieder einheimisches Talent auftauche, müssten sich die Deutschen eben mit »guten [französischen] Übersetzungen der Alten« und mit französischen Autoren begnügen: »Mir geht es wie Moses, ich sehe von fern das Gelobte Land, aber ich werde es nicht mehr betreten.« zu
Ungeachtet dieses königlichen Pessimismus waren jedoch viele deutsche Künstler und Intellektuelle überzeugt, dass Friedrich der deutschen Kultur mit seinem Ringen um einen Großmachstatus Preußens einen entscheidenden Anstoß gegeben habe. Goethe zum Beispiel hielt den starken Einfluss, den die französische Kultur dank des persönlichen Geschmacks des Königs auf Preußen ausübte, für höchst zuträglich, weil er die Deutschen zu Reaktionen anspornte. Dem pflichteten viele bei.
Hinzu kam, dass Friedrich wie kein anderer Monarch vor oder nach ihm im öffentlichen Raum präsent war. Goethe schrieb in Dichtung und Wahrheit: »Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Krieges in die deutsche Poesie.« Damit war gemeint, dass der König Preußen dadurch einen kulturellen Vorteil gesichert habe.79 Friedrich forderte aber auch andere dazu auf, mit kritischem Blick die öffentliche Bühne zu betreten. So wies er beispielsweise die Akademie an, jährliche Preise für die besten Abhandlungen auszuschreiben, darunter zu so ambitionierten Themen wie die »Ursachen des gesunknen Geschmacks bei den verschiednen Völkern, da er geblühet« (den Preis gewann Johann Gottfried Herder); andere vorgegebene Themen waren die Zweckdienlichkeit der Lüge oder die Frage, warum Französisch zur Universalsprache Europas geworden war und ob es dieses Supremat überhaupt verdiente.
Den paradoxen Errungenschaften der literarisch-geistigen Welt standen die Leistungen im militärisch-politischen Bereich in nichts nach. Dank der vielen Siege Friedrichs wurde Preußen zu einer wichtigen europäischen Macht, und diesen Status sollte es sich bis zum Ersten Weltkrieg bewahren (ausgenommen die Jahre 1806 bis 1813, wenn wir denn pingelig sein wollen). Den Siegen auf dem Schlachtfeld folgten andere staatliche Initiativen, darunter für die Einrichtung eines Amtes, das sich der strategischen Wirtschaftsentwicklung widmen sollte; für mehr Pressefreiheit; für die Verhinderung von Kapitalverbrechen und für die Kodifizierung des bürgerlichen Gesetzes.80 Außerdem bestand der König auf der Einführung der Schulpflicht und setzte sich für (relative) religiöse Toleranz ein. Jedenfalls entwickelten sich das neue Bürgertum und die bürgerliche Gesellschaft bis zum Ende von Friedrichs Herrschaft so weit, dass deutsche Intellektuelle die Revolutionen in Amerika und Frankreich schlicht und ergreifend als die Versuche von Nachzüglern betrachteten, zu Preußen aufzuschließen.
Die sechsundvierzig Jahre währende Herrschaft Friedrichs des Großen bescherte Preußen ohne Zweifel den Aufstieg zur Macht. Und auf kulturell-geistiger Ebene erlebte es zwischen 1750, dem Jahr, in dem Bach starb, und 1786, dem Jahr, in dem Friedrich starb, ganz zweifellos Umbrüche, die ihm eine eigene Renaissance bescherten, welche es mit der italienischen Renaissance im 14. bis 16. Jahrhundert aufnehmen konnte.