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Das Brandenburger Tor, das Eiserne Kreuz, der »deutsche Raffael« und die Nazarener

In diesem Kapitel werden wir ein seltsames Phänomen beleuchten, nämlich die Tatsache, dass es eine ganze Schar von Künstlern gibt, die zu ihrer Zeit ungemein in Mode waren, im 20. Jahrhundert aber in Ungnade fielen. Das wechselnde Geschick dieser tatsächlich sogar berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten ihrer Periode lässt sich an keinem Beispiel deutlicher darstellen als an dem des Malers Anton Raphael Mengs (1728–1779).1

In der allerersten Biografie, die über ihn erschien, Giovanni Lodovico Bianconis Elogio storico del Cavaliere Antonio Raffaelle Mengs (1780), wurde er als der »bemerkenswerteste Maler des Jahrhunderts« bezeichnet, als »kunstgeschichtlich von vergleichbarer Statur und Bedeutung wie Raffael und Apelles«.2 Aber die größte Lobeshymne auf Mengs sang Johann Joachim Winckelmann. Er widmete ihm sogar seine Geschichte der Kunst des Alterthums und schrieb dort unter »Ergänzende Hinweise«: »Der Inbegriff aller beschriebenen Schönheiten in den Figuren der Alten findet sich in den unsterblichen Werken Herrn Anton Raphael Mengs [...]. Er ist also ein Phönix gleichsam aus der Asche des ersten Raffael erweckt worden, um der Welt in der Kunst die Schönheit zu lehren und den höchsten Flug menschlicher Kräfte in derselben zu erreichen.«

Mengs’ Vater, der sächsische Hofmaler Ismael Mengs, hatte den Sohn nach Correggio (Antonio Allegri) und Raffael benannt. Er unterzog ihn einer strengen künstlerischen Ausbildung: Mit sechs ließ er ihn einfache gerade Linien zeichnen und zu Kreisen und anderen geometrischen Formen übergehen, als er die Linien beherrschte.3 1741, mit dreizehn, wurde Anton Raphael vom Vater nach Rom mitgenommen, damit er sich ganz auf Raffael konzentrieren konnte – jedoch erst, nachdem er Michelangelos Skulpturen »gemeistert« hatte. (Am Ende eines jeden Tages musste er dem Vater berichten, was er gelernt zu haben glaubte.) Nach drei Jahren kehrten Vater und Sohn nach Dresden zurück, wo das (fünfzehnjährige) Wunderkind dann »entdeckt« wurde. 1745, mit knapp siebzehn, wurde er zum Kabinettmaler ernannt. Kurfürst Friedrich August II. hielt viel von ihm und erwarb siebzehn seiner Werke. Dresden ist die einzige Stadt in Deutschland, in der Mengs’ Arbeiten noch ausgestellt werden.

Trotz dieses frühen Erfolges meinte Ismael, dass sein talentierter Sohn eines weiteren Italienaufenthalts bedurfte, denn reine Porträtmalerei fand er bei Weitem nicht so bedeutend wie Historienmalerei. Diesmal reiste die Familie mit offizieller Genehmigung des Dresdner Hofes zuerst nach Venedig, wo man die Gemälde Tizians studierte, dann nach Bologna, um die Carraccis zu betrachten, nach Parma wegen der Correggios und schließlich nach Rom. Nach der Rückkehr von diesem zweiten Aufenthalt in Rom wurde Mengs zum sächsischen Oberhofmaler ernannt. Doch anstatt sich damit zu begnügen, scheint diese Beförderung seinen Ehrgeiz erst richtig geweckt zu haben. 1752 verließ er die Stadt, um ein drittes Mal nach Rom zu reisen. Diesmal blieb er neun Jahre. Er sollte weder Dresden noch seinen königlichen Patron jemals wiedersehen.

Seine Vorrangstellung hatte Rom vor allem Winckelmann, aber nicht nur ihm zu verdanken. Die Französische Akademie in Rom war bereits 1666 gegründet worden, um die besten jungen Maler, Bildhauer und Architekten weiterzubilden, die für gewöhnlich ein paar Jahre am Tiber verbrachten, bevor sie nach Frankreich zurückkehrten (die übliche Studienzeit betrug sechs Jahre, es gab aber auch einen Maler, der fast zwei Jahrzehnte dort verbrachte).

Mengs schloss Freundschaft mit wichtigen Männern, darunter mit Monsignore (seit 1756 Kardinal) Alberigo Archinto, der Winckelmann überzeugt hatte, zum Katholizismus überzutreten, oder mit Kardinal Alessandro Albani, einem Neffen von Papst Clemens XI. Diese Kontakte führten 1757 zu Mengs’ erstem wirklich bedeutenden Auftrag in Rom: die Deckenfresken für Sant’ Eusebio, eine der ältesten Kirchen der Stadt (sie geht auf das 5. Jahrhundert zurück).4 Als die Fresken enthüllt wurden, war das Urteil einhellig: Sie waren »wie von Zauberhand erschaffen«.5

Mengs und Winckelmann wurden wie selbstverständlich zu Gefährten. Es zog sie zueinander hin, sie planten sogar eine gemeinsame Abhandlung über den Geschmack der Griechen. Tatsächlich wirkte sich diese Beziehung nicht nur auf Mengs’ Geschmack und Malerei aus, er begann sich auch mehr und mehr für die Kunst des Altertums zu interessieren. Während einer Reise nach Neapel im Jahr 1758/59 hatte er begonnen, »etruskische« Vasen zusammenzutragen, und damit eine Sammlung begründet, die, als er sie der Vatikanischen Bibliothek vermachte, aus dreihundert Artefakten bestand. Auch eine Sammlung von Gipsabgüssen berühmter antiker Statuen begann er aufzubauen; sie vermachte er dem König von Spanien in der Hoffnung, den seiner Meinung nach beklagenswerten Geschmack der Spanier zu verbessern. Eine andere Sammlung wurde nach Mengs’ Tod vom sächsischen Hof erworben und sollte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts starken Einfluss auf die sächsischen Porzellan-Manufakturen in Dresden und Meißen nehmen.6

Mengs’ erstes Gemälde mit klassisch-historischem Sujet ist verschwunden (viele seiner Werke gingen verloren). Das früheste noch erhaltene klassizistische Historienbild von ihm ist Das Urteil des Paris: Der sitzende Paris betrachtet die drei nackten Göttinnen, ganz so, wie Ovid es beschrieben hatte und es in einem erhaltenen Gemälde von Raffael zu sehen gewesen war. Noch deutlicher ist Mengs’ klassizistische Entwicklung in dem kleinen Tondo Joseph von Ägypten im Gefängnis zu erkennen, heute in Madrid: Angesichts des ebenen Quadermauerwerks wirkt es wie eine Vorschau auf Jacques-Louis David.7 Inzwischen hatte Mengs in Rom auch die Gemälde von Nicolas Poussin entdeckt.

Solche Kompositionen machten Mengs zum idealen Kandidaten für Patrone, die sich auf Grand Tour begeben hatten. Doch um sich als ernsthafter Vertreter des Frühklassizismus zu etablieren, brauchte er ein Projekt größeren Stils. Und das ergab sich mit dem Auftrag für ein Deckengemälde in der Villa Albani, den der Kunsthistoriker Thomas Pelzel als den bedeutendsten in Mengs’ Laufbahn bezeichnete. Die große Antikensammlung in dieser prächtigen Villa nahe der Porta Saleria – die der Kardinal erst kurz zuvor eigens hatte errichten lassen – war so bedeutend, dass ihr Besuch zu einem Muss für jeden gebildeten Rombesucher wurde.8 Für die Deckenbemalung brauchte Mengs rund neun Monate. Im Zentrum seiner Komposition des »Parnass« steht der lorbeergekrönte Apoll, einen Lorbeerzweig in der Rechten und eine Lyra in der Linken, umgeben von den neun Musen und deren Mutter Mnemosyne – eine Verbeugung vor Kardinal Albani, dem Patron und Schutzherrn der Künste. Man weiß, dass diese Musen allesamt Porträts von atemberaubenden römischen Schönheiten waren, die zu Albanis Favoritinnen zählten. Jedenfalls wurde die Villa Albani unter ihren betörenden Blicken zum Zentrum der klassizistischen Welt.9

Mengs war überzeugt, schreibt Pelzel weiter, dass ihm mit dieser Komposition mehr gelungen war als Raffael jemals selbst, da dieser noch nicht viel von der wahren Schönheit der Griechen gewusst habe, wohingegen er von den neuesten Entdeckungen in Herculaneum profitiert habe.10 So habe er mit dem Deckengemälde in der Villa Albani den Stil Raffaels »im Lichte seiner eigenen überlegenen Kenntnisse von der griechischen Kunst« denn auch zu verbessern getrachtet. Nach der Enthüllung des Freskos im Jahr 1761 erklärte Winckelmann prompt, er könne sich nicht erinnern, jemals etwas Gleichwertiges von Raffael gesehen zu haben, und erhob Mengs zum »deutschen Raffael«.11

Mengs’ Ruhm wuchs. 1772 wurde er zum Präsidenten der Accademia di San Luca gewählt, bald darauf erhielt er einen großen Auftrag von Papst Clemens XIV. für die vatikanische Camera dei Papiri.12 Er entschied sich für eine »Allegorie der Geschichte«. Die Antike sollte bis zu seinem Lebensende sein Thema bleiben. Als er bereits so krank war, dass er nur noch im Bett malen konnte, wurde ihm die größte Ehre seiner Laufbahn zuteil, nämlich der Auftrag für ein großes Altarbild im Petersdom. Doch die »Schlüsselübergabe an Petrus« sollte nie über das Stadium der Skizze hinausgehen: Im Juni 1779 starb Mengs.

Winckelmanns Verdikt, Mengs sei der einzige moderne Maler, in dessen Werken sich die Schönheiten der »Figuren der Alten« wiederfänden, deckte sich mit dem Urteil der Fachwelt, die sich etwas später mit der frühklassizistischen Bewegung befasste. In Winckelmanns Briefen finden sich weitschweifige Hinweise auf das gesellige Leben in Mengs’ römischer Villa. Mehrere seiner Schüler hielten mittlerweile akademische Posten in Deutschland, darunter auch Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, der Mengs als den vollendetsten deutschen Maler seit Dürer bezeichnete.13 Einem Bericht zufolge hatten zu Mengs’ Zeiten rund fünfhundert deutsche Künstler einen Studienaufenthalt in Rom absolviert.

Seinen dauerhaftesten Einfluss übte Mengs jedoch nicht auf die künstlerische Entwicklung in der eigenen Heimat, sondern auf die Entstehungsgeschichte des französischen Klassizismus aus. Dem französischen Historiker Jean Locquin zufolge suchte im späten 18. Jahrhundert jeder Franzose, der einen Hang zur Antike oder zur Archäologie verspürte, die Inspiration »de la bouche du Maitre [Mengs], qui répond si parfaitement aux aspirations de l’époque« (»aus dem Munde des Meisters, der so vollkommen dem Streben dieser Epoche entsprach«).14 Alle, ob Joseph-Marie Vien, Jean-Baptiste Greuze oder vor allem Jacques-Louis David, waren von der Atmosphäre um Mengs und Winckelmann gefangen genommen. Doch Mengs war natürlich bei Weitem nicht der einzige Einfluss auf David gewesen – Mitte des 18. Jahrhunderts besann man sich allgemein auf Poussin zurück, bloß war es eben Mengs, der gerade »auf der Höhe seines Ruhmes war, als David nach Rom kam und Malkurse ›nel museo del cavaliere Mengs‹ besuchte«.15

Der Begriff »klassizistisch« kam erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf, zu einer Zeit also, in der diese Malerei bereits in Ungnade gefallen war.16 Ende des 18. Jahrhunderts hatte man sie hingegen für das einzig »wahre« oder »angemessene« Wiedererblühen (risorgimento) gehalten. Ihr Ziel war die Rückkehr zu den Anfängen – zur Klassik. Und diese Aufgabe versuchte man mit Hilfe von Aufenthalten in Rom zu meistern, durch das Studium von Raffael und Poussin und durch die Lektüre von Winckelmanns Studien wie der griechischen und römischen Klassiker selbst. Man glaubte, dass allen Künsten ein klassisches Element gemein sei, hatte aber keine genauen Vorstellungen davon. Deshalb bezogen so unterschiedliche Künstler wie Jean-Antoine Houdon, Hubert Robert, Jean-Baptiste Greuze, George Stubbs, Joshua Reynolds oder Francisco de Goya ihre Inspirationen durchweg aus denselben Quellen und befassten sich alle mit der Frage, wie die Natur »veredelt und geadelt« werden könne.17 Winckelmann schrieb, dass im griechischen Werk die Linie vor der Farbe gekommen und Zurückhaltung mehr geschätzt worden sei als Leidenschaft. Die größten Meisterwerke des Klassizismus entstanden zwischen 1780 und 1795 und gipfelten in der Historienmalerei des »Eissterns«18 Jacques-Louis David.

Interessant ist der Klassizismus vor allem wegen dieses kurzen Moments der stilistischen Einheit nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Architektur. »Über die längste Zeit des Jahrhunderts sprach die Architektur von Rom bis Kopenhagen, von Paris bis Sankt Petersburg dieselbe Sprache.«19 Säulen und Portiken wurden zu den Hauptmerkmalen von öffentlichen Gebäuden aller Länder, ob es sich nun um Banken oder Theater, Kirchen oder Rathäuser handelte.

Die Erschaffung des Berliner Stadtbilds

Trotz der Rolle, die Mengs und Winckelmann bei der Genesis des Klassizismus spielten, hielt er erst spät in den deutschen Ländern Einzug – rund eine Generation nach Frankreich und England – und erlebte dort seinen Höhepunkt um 1800.20 Führend in dieser Hinsicht waren Berlin und München, doch auch Karlsruhe, Hannover, Braunschweig und Weimar rühmten sich klassizistischer Bauten. Seit Friedrich Wilhelm II. (der Friedrich dem Großen 1786 auf den Thron gefolgt war) die Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, Carl Gotthard Langhans und David Gilly nach Berlin geholt hatte, wo bereits Johann Gottfried Schadow arbeitete, begannen klassizistische Bauten das Stadtbild zu beherrschen.

Langhans’ Brandenburger Tor (1788–1791) ebnete den Weg. Carl Gotthard Langhans (1732–1808) war zum Direktor des Oberhofbauamtes berufen worden, hatte sein Wissen über die griechische Architektur aber nicht aus eigener Anschauung, sondern aus Büchern erworben. Und das kann man an den vielen nichtgriechischen Merkmalen des Brandenburger Tores deutlich erkennen. Trotzdem galt es weithin als der Ausdruck des neuen Stils nach dem Vorbild der Propyläen in Athen. Im Lauf der Jahre sollte das Tor immer wieder einmal Schaden erleiden, am denkwürdigsten durch Napoleon, der die von Schadow entworfene bronzene Quadriga mitsamt der geflügelten Friedensgöttin Eirene 1806 als Beutestück nach Paris bringen ließ (1814 wurde sie zurückgeholt).

Neben Langhans gab es die Gillys: Vater David Gilly (1748–1808) war in Schwedt geboren worden und 1792 zum Vizedirektor des Oberhofbauamts ernannt worden; sein Sohn Friedrich (1772–1800) wurde bei Stettin geboren und 1799 zum Oberhofbauinspektor ernannt. Im Jahr 1793 gründete David Gilly die private »Lehranstalt zum Unterricht junger Leute in der Baukunst«, die 1799 in der Berliner Bauakademie aufging, wo die jüngere Architektengeneration, darunter auch Karl Friedrich Schinkel und Leo von Klenze, ihre Ausbildung bei Lehrern wie Heinrich Gentz erhielt.21

Der Hauptvertreter des deutschen Frühklassizismus aber war David Gillys Sohn Friedrich, der bereits im tragisch jungen Alter von nur achtundzwanzig starb und der mit seinem Wettbewerbsentwurf für ein Denkmal Friedrichs des Großen auf dem Oktogon (dem späteren Leipziger Platz) 1796 dem griechischen Ideal aber bereits nähergekommen war als alle anderen.22 Seine Zeichnungen zeigen einen dorischen Tempel als Solitär auf einem gewaltigen Sockelbau, dem man sich durch einen Triumphbogen mit anschließenden dorischen Kolonnaden nähern sollte. Der Entwurf stand ganz im Gegensatz zum Brandenburger Tor, wurde von nun an aber zur »Norm« im deutschen Klassizismus.

Den stärksten Einfluss übte Friedrich Gilly auf Karl Friedrich Schinkel aus, »dank dem der preußische Klassizismus europaweite Bedeutung gewann«.23 Schinkel, den Adolf Loos den »letzten großen Architekten« nannte, wurde nahezu jede Ehre zuteil, die ein Architekt nur erfahren kann. Er verkehrte mit vielen Geistesgrößen seiner Zeit: mit Clemens Brentano, Fichte, den Humboldts, dem Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny und dem Kunsthistoriker Gustav Friedrich Waagen. Auch von modernen Architekten wie Philip Johnson, James Stirling oder Ieoh Ming Pei wird er bewundert.

Schinkel (1781–1841), der Sohn, Enkel und Urenkel von lutherischen Pastoren, wurde im brandenburgischen Neuruppin geboren und war sechs, als sein Vater 1787 nach einem verheerenden Brand in dem Ort an einer Rauchvergiftung starb. 1794 beschloss die Mutter, den Wohnsitz der Familie nach Berlin zu verlegen. Und seit der sechzehnjährige Schinkel dort fasziniert eine Ausstellung von Architekturzeichnungen des jungen Friedrich Gilly gesehen hatte, stand für ihn fest, dass er Baumeister werden wollte. Im März 1798 nahm er das Studium bei David Gilly auf, dessen Sohn sich gerade auf Reisen befand, aber kaum war Friedrich zurückgekehrt, schlossen die beiden so enge Freundschaft, dass Schinkel 1799 sogar bei den Gillys einzog. Es war das Jahr, in dem die Bauakademie im ersten Stock der von Gentz erbauten Königlichen Münze am Werderschen Markt ihre Pforten öffnete. Schinkel zählte zu den ersten fünfundneunzig Studenten, die dort unter anderen von Carl Gotthard Langhans unterrichtet wurden.24

Als Schinkel 1794 nach Berlin übersiedelte, lebten dort 156 000 Menschen, zum Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1841 waren es 332 000. Die Stadt war auf sumpfigem Gelände erbaut worden und deshalb von Dämmen und Kanälen durchzogen, über die marode Holzbrücken führten, und bot damit gewiss nicht den Anblick einer kultivierten, aufstrebenden Kapitale. Es gab jedoch bereits ein paar herausragende Bauten: das alte Stadtschloss auf der Spreeinsel, das von Berlins erstem großem Architekten Andreas Schlüter (1659–1714) umgebaut worden war. Nördlich davon befand sich der Lustgarten, der von Johann Boumanns Dom (Bauzeit 1747–1750) beherrscht wurde. Daneben gab es noch eine Bibliothek und ein Opernhaus mit palladianischen Motiven, aber sonst kaum etwas, das der Rede wert war, da Friedrich II. Potsdam den Vorzug gegeben hatte. Die beiden prominentesten unter den wenigen Neubauten zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren das Brandenburger Tor und die Königliche Münze.25

Wegen der vielen Unsicherheiten nach den Napoleonischen Kriegen verbrachte Schinkel die ersten Jahre seiner Laufbahn als Bühnenbildner und Maler von romantischen Landschaften. 1809 erregte ein von ihm gemaltes Panorama von Palermo die Aufmerksamkeit eines Höflings. Prompt erhielt Schinkel den Auftrag, das Schlafgemach von Königin Luise im Neuen Flügel des Charlottenburger Schlosses auszugestalten. Als die Königin noch im selben Jahr starb, reichte Schinkel Pläne für ein Mausoleum ein, doch es war Gentz, der diesen Auftrag dann erhielt. Mehr Glück hatte Schinkel mit einem Siegerdenkmal zu Ehren der Befreiungskriege, das auf dem Tempelhofer Berg (seither Kreuzberg genannt) errichtet werden sollte. Es wurde eines der ersten Denkmäler, für die man Gusseisen als Material verwendete. Eisen genoss gerade hohes Ansehen, da Friedrich Wilhelm III. zu Beginn der Befreiungskriege 1813 ein Eisernes Kreuz als Preußens höchste Kriegsauszeichnung entworfen und die endgültige Ausführung von Schinkel hatte vornehmen lassen. In diesem Fall war Eisen allerdings nicht wegen seiner Symbolkraft für eine neue Industrie verwendet worden (Berlin verfügte über exzellente Gießereien), sondern weil man bei einem Orden für die dem Vaterland geleisteten Opfer bewusst auf Edelmetall verzichten wollte. Die Krone hatte an wohlhabende Familien appelliert, mit der Abgabe von Juwelen zur Kostendeckung der Kriege beizutragen, und im Gegenzug Eisenschmuck für die Spender fertigen lassen, oft mit einem kleinen Kreuz, den Initialen des Königs und der Gravur »Gold gab ich für Eisen« versehen. Man schätzt, dass zwischen 1813 und 1815 mehr als elftausend Eisenschmuckstücke hergestellt wurden, darunter fünftausend Eiserne Kreuze.26

Als das Kreuzberger Nationaldenkmal 1821 eingeweiht wurde, waren die Napoleonischen Kriege längst vorbei. Wohlstand begann wieder in Preußen Einzug zu halten, und Schinkel, dem immer mehr administrative Verantwortung übertragen wurde, widmete sich voll und ganz den zahlreichen Renovierungen und Neubauten in und um Berlin. Obwohl er sich zu einem der besten, wenn nicht dem besten klassizistischen Architekten gemausert hatte, interessierte er sich nicht nur für die griechische Antike. Während seiner ersten Italienreise 1803 bis 1805 hatte er den mittelalterlichen Bauten dort mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit geschenkt.27 Seine Genialität zeigt sich nicht zuletzt in den unterschiedlichen Stilen, in denen er sich auszudrücken vermochte. Zu seinen Aufträgen zählten die Neue Wache (1816–1818), das Schauspielhaus (1819–1821), das ein abgebranntes älteres Theater ersetzte, und das Alte Museum (1825–1828 reine Bauzeit). Jedem dieser Meisterwerke ist anzusehen, wie sehr sich Schinkel in der Klassik zu Hause fühlte, so sehr, dass er deren Richtlinien zur Grundlage für einen ganz neuen architektonischen Stil erhob. Hinter den ionischen Säulen des Alten Museums zum Beispiel – dem schönsten klassizistischen Bau weit und breit, selbst dem Britischen Museum oder der von Chalgrin entworfenen Pariser Börse ist es weit überlegen – finden sich schlichte, rationelle Linien; die Fassade und das Hauptgebäude ergänzen einander perfekt. Schinkels spätere Entwicklung brachte ihn jedoch von den Griechen ab und führte ihn zur italienischen Renaissance und dem englischen Industriebau, womit er bewies, dass er viel zu gut war, um auf eine einzige ererbte Idee reduziert werden zu können.

1824 begab sich Schinkel erneut auf Italienreise, diesmal in Begleitung des Kunsthistorikers Gustav Friedrich Waagen, um mit diesem die Kunstsammlungen dort zu begutachten. Zwei Jahre später reiste er nach England, um sich das neue Britische Museum anzusehen: Die ausgestellten Kunstwerke beeindruckten ihn wesentlich mehr als die Gebäude, in denen sie untergebracht waren; auch ansonsten hielt er von der englischen Architektur weit weniger als von der Ingenieursleistung, die in den von Isambard Kingdom Brunel und Thomas Telford gebauten Tunnels und Brücken (wiederum aus Eisen) zum Ausdruck kam. Es war die Zeit, da die einst im Fokus der Architektur stehenden Kirchen den Museen, Theatern und sogar Fabriken weichen mussten.28 Nach seiner Rückkehr begann Schinkel, vielen seiner neuen Gebäude Eisentreppen einzubauen.29

Später fasste Schinkel eine »höhere Baukunst« ins Auge, die weniger zweckgebunden sein sollte. Doch verwirklicht hat er diese ideale, ja beinahe schon kantische Form von Architektur nie. Nach seinem Tod geriet er aus der Mode. Erst rund ein Jahrhundert später sollte er von der Generation um Adolf Loos, Peter Behrens und Ludwig Mies van der Rohe wiederentdeckt werden.30

Die Begeisterung, die in Berlin und anderen deutschen Städten (wie München) für die griechische Baukunst herrschte, erreichte bemerkenswerte Dimensionen. 1834 entsandte König Ludwig I. von Bayern Leo von Klenze nach Athen, wo es diesem gelang, ein Gesetz zum Schutz der Akropolis und anderer antiker Stätten durchzusetzen; für Ludwigs Sohn Otto I., der 1832 zum König von Griechenland gewählt worden war, entwarf er einen Stadtentwicklungsplan für ein neues Athen.31 Die Klassizisten waren endlich in der Stadt ihrer Inspiration angekommen.

Die erste Sezession in der Kunst

Die Welt der Romantiker war klein, aber das könnte man auch von der klassizistischen Welt sagen, sogar von Preußen/Deutschland selbst, jedenfalls was die Kunst betraf. Letztendlich kannten sich alle Koryphäen untereinander, und alle malten, skulptierten oder übersetzten sich gegenseitig. Georg Friedrich Kersting, Mengs und Tischbein malten Goethe; Heinrich Keller und Martin Gottlieb Klauer fertigten Büsten von ihm an. Joseph Anton Koch malte ein Landschaftsporträt für Alexander von Humboldt; Christian Gottlieb Schick malte die Familie Humboldt; Martin Gottlieb Klauer fertigte ein Relief von Wilhelm von Humboldt; Christian Daniel Rauch porträtierte Wilhelm von Humboldts Tochter in Marmor; Christian Friedrich Tieck stellte eine Büste von Alexander von Humboldt her; Johann Heinrich Füßli übersetzte Winckelmanns Schriften ins Englische und malte Johann Jakob Bodmer; Mengs porträtierte Winckelmann; Johann Gottfried Schadow meißelte Friedrich Gottlieb Klopstock und Friedrich Gilly; Tieck fertigte Porträtbüsten von Gotthold Ephraim Lessing, Ludwig Wilhelm Wichmann eine Gipsbüste von Hegel; Albert Wolff entwarf das Grabmal von Johann Gottfried von Schadow. Es war eine Welt, die sich ihrer selbst und ihrer Talente ebenso bewusst war wie einst die italienische Renaissance.

Die neben Mengs und Winckelmann beachtenswertesten deutschsprachigen Gäste in Rom waren die Maler einer Gruppe, die man verschiedentlich als »Lukasbund« oder »Lukasbruderschaft« bezeichnete, sie selbst hingegen nannten sich »Düreristen« oder »Nazarener«.32 Ins Leben gerufen wurde die von ihnen repräsentierte Kunstrichtung von Studenten der k. u. k. Akademie der Bildenden Künste in Wien, geleitet von Heinrich Friedrich Füger. Füger war ein guter Direktor – Jacques-Louis David bewunderte ihn sehr. Doch Franz Pforr, Friedrich Overbeck und einige andere Studenten wurden immer unzufriedener mit dem strengen Lehrplan der Akademie. Ihnen missfiel aber nicht nur die Hochschulroutine, ihnen missfielen vor allem die Wiener selbst, weil sie ihnen nicht gläubig genug waren. Abgesehen davon zogen sie die alten italienischen Meister – Perugino, Raffael, Michelangelo – den späteren Malern Correggio und Tizian ebenso vor wie der gerade so populären Bologneser Schule. Ihre besondere Vorliebe galt den sogenannten »Primitiven« aus dem Spätmittelalter respektive der Frührenaissance. Die Wiederbelebung der Gotik fand also zur selben Zeit statt wie anderenorts die Romantisierung.33

1796 erschien das anonym veröffentlichte Büchlein Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, dessen Popularität im umgekehrten Verhältnis zu seinem Umfang stand.34 Es stammte aus der Feder des Juristen und Schriftstellers Wilhelm Heinrich Wackenroder, der kurze Zeit später im Alter von nur fünfundzwanzig Jahren starb, und wurde von dessen Dichterfreund Ludwig Tieck kollationiert. Das Ganze war weniger eine Kunstgeschichte als ein Konglomerat von Geschichten über die Kunst, von lebendigen Vignetten aus dem Leben großer Maler neben intimen Details über die Lebensweise früherer Künstler. Wackenroder und Tieck, die die Kunst ganz nach romantischer Art als eine göttliche Inspiration verstanden, hatten sich dabei im Wesentlichen an Joachim von Sandrarts Dürer-Biografie orientiert.

Vor diesem Hintergrund schlossen sich 1808 vier weitere angehende Maler Overbeck und Pforr an der Wiener Akademie an: die Schweizer Ludwig Vogel und Johann Konrad Hottinger, der Schwabe Joseph Wintergerst und der Österreicher Joseph Sutter. Diese sechs trafen sich nun regelmäßig, um gegenseitig ihre Werke zu begutachten, und schlossen sich bald darauf zu einem Bund gegen die Politik der Akademie zusammen. Angeregt von Wackenroders Büchlein, bezeichneten sie sich selbst als eine »Bruderschaft«. Dass sie sich dabei für den Namen des Evangelisten Lukas, des Schutzpatrons der Maler, entschieden hatten, war naheliegend gewesen. Das Ideal ihrer religiös-mönchischen Ziele war der Malermönch Fra Angelico. Der Künstler, schrieb Overbeck in einem Brief, müsse die Natur nutzen, um in eine idealere Welt zu führen.35

Wegen ihres ständigen Konflikts mit der Akademie planten diese Kunststudenten, irgendwann in Richtung Süden zu ziehen, in die »Stadt Raffaels«. Als die Wiener Akademie im Mai 1809 dann wegen der französischen Besatzung ihre Tore schließen musste und als sich die Rebellen nach deren Wiedereröffnung (in Form einer viel kleineren Lehrstätte) nicht unter den wenigen Auserwählten fanden, die wieder aufgenommen wurden, packten sie die Gelegenheit beim Schopf und setzten ihren Plan in die Tat um: Im Mai 1810 erblickte die erste Sezession moderner Maler das Licht der Welt.

In Rom quartierten sie sich in dem leer stehenden Franziskanerkloster Sant’ Isidoro ein, das im 16. Jahrhundert von irischen Mönchen als Kolleg gegründet worden war. Jeder Maler bekam eine eigene Zelle, in der er wohnen und arbeiten konnte; abends versammelte man sich zum gemeinsamen Mahl, zum Lesen und Zeichnen im Refektorium. Das Zeichnen wurde zu einem Ritual wie das Gebet. Wenn sie den Vatikan besuchten, verweilten sie glückselig bei den Fresken von Pinturicchio und Raffael. Wackenroders »kunstliebender Klosterbruder« war Wirklichkeit geworden.

Overbeck übernahm die Führung, doch mehr als alles andere war es die Freundschaft zwischen ihm und Pforr, die »den Grundstein für die Wiedergeburt der deutschen Kunst legte«.36 Sie malten füreinander und in einem sehr ähnlichen Stil, wie man bei einem Vergleich von Pforrs Allegorie der Freundschaft und Overbecks Italia und Germania schnell erkennt. Doch noch bevor dieses Zusammensein weitere Früchte tragen konnte, starb Pforr 1812 mit vierundzwanzig an Schwindsucht. Schon während seines Siechtums hatten sich einige aus der Gruppe im Haus von Abbate Pietro Ostini zu treffen begonnen, eines Theologieprofessors am Collegium Romanum; und nach Pforrs Tod war es prompt vorbei mit der klösterlichen Isolation der »Fratelli di Sant’ Isidoro«. Die Unterkunft wurde aufgegeben. Die Brüder nannten sich nun »Düreristen«, doch wegen ihres strengen Katholizismus, ihres klösterlichen Lebenswandels, ganz zu schweigen von den wehenden Mänteln und den langen Haaren, die sie zur Schau trugen, gaben ihnen die Römer bald den Spitznamen »Nazarener«. Und wie so viele andere spöttische Beinamen in der Geschichte sollte auch dieser haften bleiben.37

Ungeachtet ihrer wechselhaften Geschicke wurden die Werke der Bruderschaft allmählich auch jenseits der Alpen bekannt. Junge Maler begannen sich zu ihr auf den Weg zu machen, darunter Friedrich Wilhelm von Schadow (1845 geadelt) und Karl Zeno Rudolf Schadow, die Söhne des berühmten Berliner Bildhauers Johann Gottfried Schadow, oder Johann und Philipp Veit, die Enkel von Moses Mendelssohn und Stiefsöhne von Friedrich Schlegel, der in zweiter Ehe mit Mendelssohns Tochter Dorothea verheiratet war. Doch das am meisten ernst zu nehmende junge Talent war Peter von Cornelius.38

Cornelius war ein eigensinniger, zielstrebiger Geist, der stark von Goethes Faust beeinflusst worden war und ohne Rücksprache mit dem Dichter eine Illustrationsfolge zu Faust I publiziert hatte. Goethe gefielen die Zeichnungen zwar, doch er legte Cornelius sehr ans Herz, seine italienischen Zeitgenossen zu studieren. Nach seiner Ankunft in Rom schloss Cornelius sich Overbeck an und nahm schließlich Pforrs Platz ein. Tatsächlich begannen sich die Nazarener nach seiner Ankunft in eine ganz neue Richtung zu entwickeln. Weder empfand Cornelius besondere Ehrfurcht vor Raffael, noch glaubte er, dass die Gruppe immer nur für ihren eigenen kleinen Kreis malen sollte. Er hatte instinktiv begriffen, dass für eine wahrhaft nationale Erneuerung der Kunst, für eine Malerei, die ihnen die Kirchen, Klöster und großen öffentlichen Gebäude öffnen würde, eine neue Monumentalkunst gefragt war. Also überzeugte er sich und die anderen davon, dass nur die Freskenmalerei all die für eine Monumentalmalerei erforderlichen und der Staffeleimalerei mangelnden Eigenschaften besaß. Mit dieser Aussage beeindruckte er offenbar auch Salomon Bartholdy, den preußischen Generalkonsul in Rom, denn der erteilte nun vier Nazarenern den Auftrag, einen Saal in seiner Residenz – dem Palazzo Zuccari (heute die Bibliotheca Hertziana) – mit Fresken auszuschmücken. Als Thema wählten sie Szenen aus »Joseph in Ägypten«.39

Die Deckengemälde waren ein großer Erfolg (1867 wurden sie nach Berlin verfrachtet). Alle vier Künstler – Overbeck, Cornelius, Veit und Schadow – hatten ihr Bestes zum Entstehen dieses lyrischen Gemäldes beigetragen, hatten ihren Gestalten mit intensivem Gespür für Atmosphäre große Kraft und ihren Kompositionen Rhythmik verliehen. »Es war ein kollektiver Bruch mit allem Vorangegangenen – weg von Mengs, dem Barock, dem Klassizismus; die Lebendigkeit, faszinierende Klarheit und Harmonie der Farben war eine Offenbarung.«40 Künstlerkollegen aus aller Herren Länder strömten nach Rom, um sich die neuen Fresken anzuschauen: Antonio Canova und Berthel Thorvaldsen sparten nicht mit Lob. Die Nazarener waren zum Gravitationszentrum der römischen Kunstszene geworden. Unter den besagten fünfhundert deutschen Künstlern, die Rom besuchten oder in der Stadt lebten, befand sich auch Karl Friedrich von Rumohr (1785–1843), der zum ersten Kunsthistoriker im modernen Sinn des Wortes werden sollte. Er wollte vor allem herausfinden, wie sich die Ideen der Nazarener entwickelt hatten, und durchforstete dafür als einer der Ersten nicht nur die Archive, sondern sah sich die frühen Meister sozusagen »in Fleisch und Blut« an (man bedenke, es war das Zeitalter der Stiche, von Fotografien war noch keine Rede). Es ist in hohem Maße Rumohr zu verdanken, dass die Kunstgeschichte zu einer akademischen Disziplin wurde. Im Titel seiner dreibändigen quellenkritischen Textsammlung Italienische Forschungen (1827/31), in der er das Ergebnis seiner Untersuchungen systematisch darlegte, verwendete er erstmals den Begriff »Forschung« für seine Studien.41

In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann sich die Bruderschaft aufzulösen.42 Cornelius, Overbeck und Julius Schnorr von Carolsfeld wurden vom bayerischen König Ludwig I., der sich als einer der anachronistischsten Kunstförderer der Geschichte erwies, nach München gelockt, weil er glaubte, eine nationale künstlerische Renaissance initiieren zu können, indem er Aufträge vergab, die der Glorifizierung alter Zeiten dienten. Zu diesem Zweck ließ er griechische Tempel, byzantinische und romanische Kirchen und gotische Häuser bauen und außerdem die Techniken der Antike – zum Beispiel die Mosaikkunst oder die enkaustische Malerei – wiederaufleben.

Anfänglich fand Cornelius Vergnügen daran. Sein erster Auftrag lautete, jeden einzelnen Raum der Glyptothek, die die Antikensammlung des Königs beherbergen sollte, mit themenbezogenen Deckengemälden auszugestalten.43 Doch Cornelius vertrat die »postkantische«, allzu intellektuelle Ansicht, dass sich Fresken aus monumentalbildlichen Einzelanordnungen zusammensetzen sollten, da der Betrachter erst einmal jeden Teil einzeln verstehen müsse, bevor er den Sinn und Zweck des Ganzen erfassen könne. Diese (strapaziöse) Vorliebe für Didaktik trat bei seinem nächsten Auftrag noch deutlicher zutage. Für die neue Ludwigskirche in München griff er eine weitere grandios-christliche Epik auf. Sein ehrgeiziger Plan war, den gesamten Bau mit Bibelgeschichten auszumalen. Das war selbst dem König zu viel: Er beschränkte den Auftrag auf das immer noch gewaltige Chorfresko vom Jüngsten Gericht.

Aber damit war es nicht getan. Inzwischen stand der König stark unter dem Einfluss seiner Architekten Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner, und die hassten Cornelius’ Arbeiten (sie fanden, er lege seine Gemälde von vornherein so an, dass sie den Bau, den sie bloß schmücken sollten, in den Schatten stellten). Prompt kam es zum Eklat zwischen Cornelius und dem König. 1840 bot er einem anderen Monarchen seine Dienste an, König Friedrich Wilhelm IV., der den Künstler denn auch sofort nach Berlin einlud. Und dort machte sich Cornelius sogleich an die krönende Aufgabe seiner Karriere, mit der er die restlichen fünfundzwanzig Jahre seines Lebens beschäftigt sein sollte. Friedrich Wilhelm hatte sein Herz an den Bau eines prunkvolleren neuen Doms gehängt und übertrug Cornelius die Leitung des Projekts. Das Ausmaß dieses Bauvorhabens kam Cornelius’ Ehrgeiz sehr entgegen, doch kaum waren die Grundmauern errichtet, machten die politischen Turbulenzen des Jahres 1848 den ganzen Plan zunichte. Cornelius fertigte dennoch verbissen einen Entwurf nach dem anderen an – riesige Kartons für die Umsetzung eines Plans, von dem er gewusst haben musste, dass er nie ausgeführt werden würde: für einen Freskenzyklus zum Thema »Die göttliche Gnade im Angesicht der Sünde und die Erlösung«. Als Lady Eastlake, die Frau des Direktors der Britischen Nationalgalerie, eine große Reiseschriftstellerin und Kunstkritikerin, die Entwürfe in Cornelius’ Atelier sah, war sie entsetzt über die »Morgen« an Fläche, die sie einnahmen, und kam zu dem Schluss, dass Cornelius keineswegs »die große Kanone«, sondern bestenfalls »das Kindergewehr« der deutschen Kunst war. Dennoch wurde er von vielen seiner ausländischen Künstlerkollegen zumindest seiner Intentionen wegen bewundert – von Ingres, Gerard und Delacroix zum Beispiel. Delacroix lobte »seinen Mut, sogar große Fehler zu begehen, wenn es die Ausdruckskraft erfordert«.44

Julius Schnorr gegenüber hatte sich König Ludwig I. sehr ähnlich verhalten, seit dieser 1827 in München eingetroffen war, um sich Cornelius anzuschließen. Sein erster Auftrag war ein Freskenzyklus nach der Odyssee, doch Ludwig wurde dieses Themas bald müde und beschloss, Schnorr lieber fünf Säle im Königsbau der Residenz (deren Architektur am Vorbild des Palazzo Pitti angelehnt war) mit Szenen aus dem Nibelungenlied ausmalen zu lassen. Es sollte fast vierzig Jahre dauern, bis dieser Bilderzyklus vollendet war, und das im Wesentlichen nur, weil Schnorr sich für nichtreligiöse Themen einfach nicht begeistern konnte. Doch auch andere Planungen zogen sich ewig hin. Als Cornelius dann nach Berlin übersiedelt war, wurde prompt Schnorr zur Zielscheibe der Kritiker seines Freundes. So kam es, dass auch er nicht lange überlegte, als man ihm während eines Besuchs in Dresden die Leitung der Gemäldegalerie anbot. Er übernahm sie 1846. Ludwig hatte keinerlei Anstalten gemacht, ihn zu halten.

In Dresden produzierte Schnorr seine sehr erfolgreiche Bibel in Bildern.45 Hätten die Nazarener denn ein Testament, eine Begründung hinterlassen wollen für das, worum es ihnen ging, dann hätte es nichts Trefflicheres geben können als diese bebilderte Bibel, selbst wenn sie kein Werk war, das ihrer Gemeinschaft entsprungen war, sondern das eines Mannes, der ihrem unmittelbaren Kreis gar nicht angehört hatte. Die Nazarener haben sich nicht auf Dauer durchgesetzt. Vielleicht waren sie einfach zu theoretisch.

Ein neues Vokabular für die Malerei

Viele Ideen und Themen, von denen im ersten Teil dieses Buches die Rede war, vereinten sich in dem Werk des Malers Caspar David Friedrich (1774–1840), der 1798 nach Dresden kam. Sein Symbolismus, sein Nationalismus, seine Auseinandersetzungen mit dem Erhabenen, seine Romantik, sein innerer Kampf um den christlichen Glauben – all das spiegelt sich in seiner unverwechselbaren künstlerischen Handschrift. Er malte Mysterien und blieb selbst ein Geheimnis.

Geboren wurde Friedrich in Greifswald als Sohn eines Lichtgießers und Seifensieders. Nach seinem Studium an der Kunstakademie von Kopenhagen übersiedelte er nach Preußen, wo er ausgedehnte Wanderungen in der schönen Natur machte und schließlich beschloss, sich in Dresden niederzulassen. Dort sollte er bis zu seinem Tod bleiben. Sein ungemein typischer Stil lässt sich vielleicht auch mit seinen persönlichen Lebensumständen erklären: Als die Mutter starb, war er erst sieben gewesen, und der Bruder, dem er am nächsten stand, war bei dem Versuch ums Leben gekommen, Caspar David zu retten, nachdem er beim Schlittschuhlaufen ins Eis eingebrochen war. Er sollte deshalb lebenslang unter Schuldgefühlen leiden.

Seine Lehrer in Kopenhagen waren Vertreter des dänischen Klassizismus gewesen. Es scheint ihre Sicht auf die Natur gewesen zu sein, die im Zusammenspiel mit Friedrichs früh erwachter Reiselust seine Begeisterung für Landschaften prägte. Wenn es denn Figuren in seinen Landschaftsbildern gibt, dann nur kleine und isolierte, umgeben von gewaltigen Felsen oder heroischen Ruinen. Im Lauf der Zeit entwickelte Friedrich ein ganz eigenes Bildvokabular. »Er malte Bilder des Nordens von apokalyptischen Dimensionen, selten zeigen sich seine Landschaften im Tageslicht oder in der Sonne, meist im Morgengrauen, der Abenddämmerung, im Nebel oder Dunst.«46 Seine Zeitgenossen glaubten, dass dies seine Art gewesen sei, die »Stimmung« in Deutschland (politisch schwach, aber geistig stark) nach dem Einmarsch der Franzosen zum Ausdruck zu bringen. Wie auch immer, Friedrich war jedenfalls überzeugt, dass die Betrachtung der Natur zu einem tieferen Verständnis des Wesens aller Dinge führte. Seine reine Technik, die geheimnisvollen Szenerien und Lichteffekte (in diesem Punkt war er ein Vorläufer vor allem von Salvador Dali gewesen) machten ihn schnell berühmt. Die Zahl seiner Mäzene stieg ebenso wie die Höhe seine Preise. Bald war er mit allen wichtigen Vertretern der deutschen Romantik befreundet.

Eines seiner typischsten – und umstrittensten – Werke ist Kreuz im Gebirge (1808), auch als Tetschener Altar bekannt: Christus am Kreuze, aus seitlichem Blickwinkel gemalt, auf dem Gipfel eines Berges allein inmitten der Natur. Hinsichtlich der Größenverhältnisse in dieser Komposition – die beherrscht wird von den Strahlen der untergehenden Sonne, einem Symbol, wie Friedrich erklärte, für die vorchristliche Welt – hebt sich das Kreuz nicht besonders ab.47 Der Berg stellt den unerschütterlichen Glauben dar, die umgebenden Fichten sind eine Allegorie für ewige Hoffnung. Zum ersten Mal hatte ein Maler das Motiv einer Landschaft für ein Altarbild gewählt, und das gefiel gewiss nicht jedem. Aber Friedrich sollte auch weiterhin Kreuze in Landschaften malen. Und ob diese Landschaften nun überladen von christlicher Symbolik sind oder nicht – fest steht, dass es allesamt in erster Linie spirituelle, »von mystischer Atmosphäre durchdrungene« Kompositionen sind. Friedrichs Freundschaften mit romantischen Schriftstellern hatten ihn der eigenen Aussage nach davon überzeugt, dass der Quell jeder Kunst im inneren Sein des Menschen zu finden sei, jedoch immer von dessen moralischreligiösen Wertvorstellungen abhänge.48

Ein anderes berühmtes Gemälde von Friedrich ist Der Wanderer über dem Nebelmeer: Eine seiner typischen »Rückenfiguren« steht auf dem Gipfel eines Berges und blickt auf die in Nebelschwaden gehüllten Bergspitzen unter sich und in der Ferne. Es soll dieses so geheimnisvolle und technisch makellose Bild gewesen sein, welches Schinkel derart beeindruckte, dass er die Malerei aufgab und sich der Architektur zuwandte.

Auch die politischen Ereignisse der Zeit beeinflussten Friedrichs Stil. Nach den Napoleonischen Kriegen entwickelte er tiefe Verachtung für Frankreich und zugleich intensive Leidenschaft für Deutschland. Dass er Sympathie für deutsche Befreiungsbewegungen hatte, brachte er auch bildlich zum Ausdruck, mit Szenen, in denen französische Soldaten verloren in einer unwirtlichen deutschen Bergwelt stehen. Doch generell ging es ihm eher darum, die Erfahrung des Göttlichen in einer gottlosen Welt darzustellen, so wie in seinen melancholischen Huldigungen an die Ruinen gotischer Kirchen oder in seinen dramatischen Waldlandschaften. In seinem Werk ist der Mensch fast immer hilflos den Kräften einer überwältigenden Natur ausgeliefert – Kants Idee vom Erhabenen.

Den Höhepunkt seines Ruhms erlebte Friedrich, als die künftige Zarin Alexandra Fjodorowna (Prinzessin Charlotte von Preußen) im Jahr 1820 mehrere Gemälde bei ihm in Auftrag gab. Im Kielwasser der preußischen Restauration ließen ihn seine politischen Ansichten dann mehr und mehr ins Abseits geraten. Seine Kunst wurde von offizieller Seite abgelehnt und er selbst schließlich, wie Cornelius, zu einem Anachronismus. Als er 1837 starb, war er außer bei einer Handvoll von Verehrern in Vergessenheit geraten.

Anfang des 20. Jahrhunderts sollte man seinen emotionalen Malstil jedoch wiederentdecken. Deutsche Expressionisten sowie Max Ernst und andere Surrealisten hielten Friedrich für einen Visionär. Auch in Amerika wurden viele Maler von ihm beeinflusst, darunter die Künstler der Hudson River School, der Rocky Mountain School und die neuenglischen Luministen. Neben anderen romantischen Malern wie William Turner oder John Constable war es Caspar David Friedrich, dem zu verdanken ist, dass die Landschaftsmalerei zu einem so wichtigen Genre der abendländischen Kunst wurde.