Rudolf Virchow (1821–1902) war der erfolgreichste deutsche Mediziner des 19. Jahrhunderts. Neben seinen klinischen und theoretischen Errungenschaften verschafften ihm seine Leistungen auf dem Gebiet der Sozialmedizin einen Einfluss, der weit über das Medizinische hinausging. Seine lange Karriere versinnbildlicht den Aufstieg der deutschen Medizin ab 1840: die vollständige Verwandlung einer bis dahin im Wesentlichen noch rein klinischen und vorwissenschaftlichen Disziplin.
Virchow wurde in der pommerschen Kreisstadt Schivelbein geboren und von Privatlehrern mit altsprachlichem Unterricht auf den Besuch des Gymnasiums vorbereitet, wo er sich dann jedoch von Anfang an mehr für die naturwissenschaftlichen Fächer interessierte. Dank seiner guten Noten erhielt er 1839 ein Stipendium der Berliner Militärärztlichen Akademie für eine Ausbildung am »Medicinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Institut«, der ehemaligen Pepiniere, das ausschließlich der Aus- und Weiterbildung von Militärärzten diente. Wer dort angenommen worden war, der musste sich für eine bestimmte Zeit nach der Ausbildung zum Militärdienst verpflichten. Virchow studierte bei Johannes Müller und Johann Lukas Schönlein, die ihn mit der Arbeit im experimentellen Labor, mit moderner Diagnostik und Epidemiologie vertraut machten – damals alles noch relativ neue Gebiete. 1843 promovierte Virchow und trat als Unterarzt seinen ersten »Feldeinsatz« in der militärärztlichen Ausbildungsklinik Charité an, wo er dann mikroskopische Untersuchungen über Gefäßentzündungen machte und die Krankheitsbilder von Thrombose und Embolie erforschte.
Auf seine typisch direkte Art machte Virchow 1845 bei einer Festrede am Friedrich-Wilhelms-Institut vor einem einflussreichen Auditorium kurzen Prozess mit dem Glauben an die metaphysischen Einflüsse auf die Medizin. Unter anderem stellte er fest, »daß die Forschung über Krankheit und Heilung absolut einen dreifachen Weg gehen muß. Der erste ist der der Klinik: die Untersuchung des Kranken mit allen Hilfsmitteln der Physik und Chemie unter oberster Leitung der Physiologie. Der zweite ist der des Experiments: die Erzeugung der Krankheit und die Erforschung der Wirkung eines Arzneimittels am Tier. Der dritte endlich ist der der Nekroskopie: das Studium des Leichnams und seiner einzelnen Teile mit dem Skalpell, dem Mikroskop und dem Reagens.« Dem hatte er noch die Bemerkung vorangestellt: »Die medizinische Wissenschaft [...] hat nachgewiesen, daß Leben nur ein Ausdruck für eine Summe von Erscheinungen ist, deren jede einzelne nach den gewöhnlichen physikalischen und chemischen (d. h. mechanischen) Gesetzen vonstatten geht.«1 Virchow war sechsundzwanzig, als er sich 1847 habilitierte und Privatdozent wurde.
Aber er war nie bloß Mediziner gewesen. 1848 reiste er auf Geheiß der Regierung mit einem Ärzteteam in die preußische Provinz Oberschlesien, wo seit dem Vorjahr eine Hungertyphus-Epidemie grassierte, um die medizinische Lage zu begutachten. Dort erlebte er aus erster Hand die verzweifelte Lage der schlesischen Minderheit, die unter schrecklichen Umständen dahinvegetierte. Anstatt also mit rein medizinischen Ratschlägen im Gepäck zurückzukehren, verfasste Virchow einen Bericht, in dem er die Politik vieler Fehler bezichtigte und weitreichende sozialpolitische und wirtschaftliche Maßnahmen von der Regierung forderte. Das war gewiss nicht, womit diese gerechnet hatte.
Als noch im selben Jahr die Revolution in Berlin ausbrach, fühlte sich Virchow seiner politischen Überzeugungen wegen verpflichtet, ebenfalls auf die Barrikaden zu gehen. Im Oktober nahm er am Demokratischen Kongress in Berlin teil, anschließend gründete er mit Gleichgesinnten die medizinalpolitische Wochenschrift Die Medicinische Reform. Das war ein ziemlich verwegener Schritt, und dieses politische Engagement sollte ihn denn auch prompt seine Stelle an der Charité kosten. 1849 folgte er dem Ruf auf den 1845 geschaffenen ersten deutschen Lehrstuhl für pathologische Anatomie an der Universität Würzburg, der ihm jedoch nur unter der Voraussetzung angeboten worden war, dass er bereit war, auf jede öffentliche Bekundung seiner politischen Überzeugungen zu verzichten. Und hier nun, wo er sich ganz auf die Forschung konzentrierte, leistete er seine bedeutendsten Beiträge zur Wissenschaft, insbesondere mit der Entwicklung seiner Theorie der »Zellularpathologie«. 1856 kehrte Virchow als Professor für Pathologische Anatomie an der Universität und als Leiter des ersten Pathologischen Instituts auf dem Gelände der Charité nach Berlin zurück.
Doch nun, da Virchow wieder in Berlin war, erwachten auch seine politischen Instinkte zu neuem Leben. 1861 wurde er Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung, wo er sich mit dem öffentlichen Gesundheitswesen befasste und entscheidend zur Verbesserung der Abwasserbeseitigung und Wasserversorgung der Stadt beitrug. 1862 wurde er als Abgeordneter der von ihm mitbegründeten Deutschen Fortschrittspartei ins Preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Die Fortschrittlichen opponierten vor allem gegen Bismarcks Aufrüstungs- und Zwangsvereinigungspolitik, was diesen derart empörte, dass er Virchow sogar zum Duell herausforderte. Aber Virchow war vernünftig genug, diesen Köder nicht zu schlucken; abgesehen davon sollte er sich im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 – in dem er half, Lazarette und Sanitätszüge für die Verwundeten zu organisieren – selbst als ziemlicher Nationalist erweisen.
Zur Epidemiologie hatte Virchow eine sehr moderne Einstellung. So unterschied er zwischen natürlichen und »künstlichen« Seuchen, die er als ein soziales Problem betrachtete, weil er erkannt hatte, dass politische und sozioökonomische Faktoren entscheidende ätiologische Elemente waren. Er stellte sogar fest: »Epidemien gleichen grossen Warnungstafeln, an denen der Staatsmann von grossem Styl lesen kann, daß in dem Entwicklungsgange seines Volkes eine Störung eingetreten ist«, die sich nur durch soziale Veränderungen beheben lasse. Nicht weniger umstritten war seine Aussage: Eine »vernünftige Staatsverfassung muss das Recht des Einzelnen auf eine gesundheitsgemässe Existenz unzweifelhaft feststellen«.2 Genau diese Art von medizinischer Bildung wurde zur Grundlage für die Bioethik.
In manchen Dingen irrte Virchow. Der Bakteriologie zum Beispiel stand er skeptisch gegenüber. Er war überzeugt, dass Bakterien nicht die einzigen Überträger von ansteckenden Krankheiten seien und dass für die Typhus- und Choleraepidemien zwischen 1847 und 1849 eindeutig umweltbedingte und soziale Faktoren verantwortlich gewesen seien.
Um das Jahr 1870 begann sich Virchow einer anderen Wissenschaft zuzuwenden: der Anthropologie. 1869 hatte er die »Berliner Anthropologische Gesellschaft« mitbegründet und begonnen, Schädelformen zu studieren. Dann führte er eine landesweite Rassenstudie über die Haar-, Haut- und Augenfarben bei Kindern durch, die ihn zu dem höchst kontroversen Schluss brachte, dass es nur »Mischformen« und keine »rein« germanische Rasse gebe. Die Anthropologie brachte ihn auf die Archäologie. 1870 begann er mit eigenen Ausgrabungen in Pommern; 1879 beteiligte er sich an Heinrich Schliemanns Grabungen in Hissarlik, wo dieser Troja vermutete (siehe Kapitel 21), und trug anschließend viel dazu bei, dass die berühmten Altertümer, deren sich die Stadt später so rühmen sollte, ihren Weg nach Berlin fanden.3
Sein achtzigster Geburtstag wurde 1901 weltweit gefeiert, sogar in St. Petersburg und Tokio; in Berlin wurde ein Fackelzug veranstaltet. Aber nicht nur Virchows Vorliebe für öffentliche Debatten, auch sein Dogmatismus hatten ein paar unglückselige Nebenwirkungen, darunter vor allem, dass er die Erkenntnis von Ignaz Semmelweis – durch Händewaschen zwischen den Untersuchungen könne der Arzt Patientinnen vor Kindbettfieber schützen – schlicht für Unfug hielt. Dennoch, im Lauf eines knappen halben Jahrhunderts war Deutschland von spekulativen und metaphysischen Heilweisen zu wissenschaftlichen vorangeschritten und zu einem Weltzentrum der modernen, wissenschaftlich begründbaren Medizin geworden. Und an dieser Verwandlung hatte Virchow wahrscheinlich mehr Anteil als jeder andere Mediziner.
Ebenso bedeutend wie Virchow, wenn nicht gar noch bedeutender, war Robert Koch (1843–1910), der Mann, der so viele Grundlagen und Forschungstechniken der modernen Bakteriologie entdeckte.4 Er war es, der die Erreger des Milzbrands, der Tuberkulose und der Cholera identifizierte und im Zuge dieser Forschungen auf seinen vielen Reisen auch die Behörden anderer Länder überzeugte, Gesetze für das öffentliche Gesundheitswesen einzuführen, die auf den neuesten mikrobiologischen Erkenntnissen über Infektionen beruhten.
Heinrich Hermann Robert Koch war als drittes der insgesamt dreizehn Kinder (zwei starben als Säuglinge) eines Bergmanns in Clausthal geboren worden. Schon als Junge hatte er sich nicht nur für die Pflanzen- und Tierwelt, sondern auch für die neue Kunst der Fotografie interessiert; Lesen und Schreiben hatte er sich bereits vor seiner Einschulung selbst beigebracht. Als es ans Studieren in Göttingen ging, hatte er vorübergehend die Philologie ins Auge gefasst (und kurz überlegt, nach Amerika auszuwandern), sich dann aber doch in Naturwissenschaften eingeschrieben und war bald darauf zur Medizin übergewechselt.
Bakteriologie wurde in Göttingen zwar noch nicht gelehrt, doch der Anatom Jakob Henle hatte bereits in Betracht gezogen, dass auch lebende Organismen zu den Überträgern von Krankheiten zählen könnten.5 Nach der Promotion hielt sich Koch vorübergehend in Berlin auf, um »zu hospitieren« und »einen praktischen Kurs bei Virchow« an der Charité zu belegen.6 In so mancher Hinsicht ähnelten sich die Karrieren der beiden Männer. Auch Koch hatte sich freiwillig als Feldarzt im Deutsch-Französischen Krieg gemeldet; und auch er begann sich schließlich für Archäologie und Anthropologie zu interessieren. Doch seine Erfolge waren – mehr noch als in Virchows Fall – vor allem den akribischen Forschungen am Mikroskop zu verdanken. In seiner Mietwohnung in Wollstein hatte er sich ein Labor eingerichtet, wo er zwischen mehreren mikrofotografischen Geräten und einer eigens eingerichteten Dunkelkammer an einem vorzüglichen Mikroskop aus Edmund Harnacks Werkstatt in Potsdam saß. Als Erstes begann er den Milzbrand zu studieren.
Es war schon eine Weile bekannt gewesen, dass Milzbrand durch stäbchenförmige Mikroorganismen verursacht wurde, die man im Blut von infizierten Schafen entdeckt hatte.7 Kochs erste Leistung war die Erfindung der isolierten Züchtung von Bakterien auf einem Nährboden. Er züchtete solche Stäbchen in Proben der Augenkammerflüssigkeit von Rindern an, um sie dann unter seinem Mikroskop zu studieren; er verfolgte ihre Lebenszyklen, erkannte die Sporenbildung und Verschmelzung und entdeckte schließlich etwas Entscheidendes, nämlich, dass die Bazillen selbst relativ kurzlebig waren, die Sporen aber über Jahre hinaus infektiös blieben. Schließlich wies er nach, dass Mäuse nur dann Milzbrand entwickelten, wenn das Inokulum lebensfähige Stäbchen oder Sporen des Bacillus anthracis enthielt. 1876 veröffentlichte er seine Erkenntnisse unter dem Titel Die Ätiologie der Milzbrandkrankheit, begründet auf die Entwicklung des Bacillus Anthracis; 1877 publizierte er zudem eine detaillierte Beschreibung seiner Methoden: Er strich einen dünnen Film von Bakterien auf einen gläsernen Objektträger und färbte ihn mit Anilinfarben ein, was es ihm ermöglichte, deren Strukturen zum besseren Studium fotografisch festzuhalten. Somit war die Medizin der unmittelbare Nutznießer von drei neuen Entwicklungen aus drei Bereichen gewesen: der Farbstoffe, der mikroskopischen Technik und der Mikrofotografie.
Als Nächstes beleuchtete Koch sein Mikroskop mit dem neuen »Abbeschen Kondenser« und stattete es mit einem hochauflösenden Ölimmersionsobjektiv von Zeiss aus, unter dem er Organismen aufspüren konnte, die noch wesentlich kleiner waren als Anthraxbazillen.8 Er identifizierte (bei Mäusen und Kaninchen als Versuchstieren) sechs übertragbare, pathologisch und bakteriologisch unverwechselbare Infektionen und schloss daraus, dass auch auf den Menschen Krankheiten durch solche pathogenen Bakterien übertragen wurden.
Aufgrund dieser Arbeiten wurde Koch 1880 als Regierungsrat an das Kaiserliche Gesundheitsamt nach Berlin berufen, wo ihm erstmals Mitarbeiter in seinem anfänglich noch sehr kleinen Labor zur Seite standen, darunter der Assistenzarzt Friedrich Löffler und der Stabsarzt Georg Gaffky, beide von der Armee ans Gesundheitsamt abkommandiert. Ihre Aufgabe war ein »Ausbau der bakteriologischen Methodik«, wobei es vor allem um einheitliche Verfahrensweisen bei der Durchführung von Experimenten mit pathogenen Bakterien und ganz allgemein um die Einführung von wissenschaftlich begründbaren Verbesserungen im Bereich der öffentlichen Hygiene und Gesundheit ging. (Deutsche Ärzte hatten erst zwischen 1850 und 1860 zu begreifen begonnen, dass Hospitäler Orte waren, in denen sich wissenschaftliche Studien durchführen ließen.) Koch trug wesentlich zur Entwicklung von Sterilisierungstechniken bei, isolierte neue Desinfektionsstoffe und verglich die Zerstörungskraft, mit der diese Substanzen unterschiedliche Bakterienarten vernichten konnten.9 Dabei stellte er fest, dass Karbolsäure (Phenol) weniger wirksam war als Quecksilberchlorid – was das phenolhaltige Desinfektions- und Wundspray des englischen Mediziners Joseph Lister (Lister’sches Carbol-Spray) schnell »entthronte« –, und fand heraus, dass sich »Frischdampf« wesentlich besser zur Sterilisation eignete als heiße Luft. Damit revolutionierte er auch die Praktiken im Operationssaal.
1881 wandte sich Koch der Tuberkuloseforschung zu. Im Lauf von nur sechs Monaten – in denen er alleine gearbeitet hatte, ohne seinen Kollegen auch nur einen Hinweis zu geben, woran er forschte – bestätigte er die Ühertragbarkeit der Krankheit (was nicht von jedermann akzeptiert wurde) und isolierte den Bazillus mit Hilfe der Bakterieneinfärbung bei einer Reihe von tuberkulösen Proben menschlicher wie tierischer Herkunft. Dann spritzte er verschiedenen Tieren Reinkulturen dieses Bakteriums und infizierte sie so mit TB. Am 24. März 1882 hielt er vor der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin einen Vortrag über »die Ätiologie der Tuberkulose«. Paul Ehrlich schrieb später, dass ihm »jener Abend stets als mein größtes wissenschaftliches Erlebnis in Erinnerung geblieben« sei.10 Bald darauf wurde der Nachweis des Tuberkelbazillus im Sputum als das gültige Diagnoseverfahren anerkannt.
Ein Jahr später brach im Nildelta die Cholera aus. Louis Pasteur hatte sofort die französische Regierung alarmiert, dass die Epidemie Europa erreichen könnte, und erklärt, dass ihre Ursache »vermutlich mikrobiologischer Art« sei. Also entsandten die Franzosen ein Team von vier Forschern nach Alexandria. Robert Koch traf rund eine Woche später als Leiter einer deutschen Untersuchungskommission ein. Nach nur wenigen Tagen hatte er ganze Kolonien von winzigen Stäbchen aus den Dünndarmwänden von zehn Erkrankten isoliert, die im Europäischen Krankenhaus an der Cholera gestorben waren. Die gleichen Organismen fand er in rund zwanzig noch lebenden Cholerapatienten. Doch als er dann vielversprechende Tests durchführte, indem er Affen und andere Tiere mit dem Organismus infizierte, brach keine Cholera unter ihnen aus. Kurz darauf sollten sich seine Beobachtungen aus Ägypten jedoch bestätigen: Ende 1883 machte sich die deutsche Kommission von Ägypten aus auf den Weg nach Indien, wo die Cholera endemisch war. Bis Frühjahr 1884 hatte Koch das Wasser als Quelle für die Choleraendemie in Bengalen identifiziert, insbesondere das Brunnenwasser, das in den Dörfern nicht nur zu Haushaltszwecken, sondern eben auch als Trinkwasser verwendet wurde. In einem dieser Brunnen hatte er Cholerabazillen gefunden.11
Obwohl es Robert Koch und seine Forschung waren, die nun alle Blicke auf sich zogen (und denen nach wie vor das Interesse gilt), wurden die Erreger des Schweinerotlaufs, des Lungenrotzes (einer ansteckenden Pferdekrankheit) und der Diphtherie von Friedrich Löffler entdeckt und der Typhuserreger in Reinkultur erstmals von Georg Gaffky gezüchtet.12 Jetzt folgte eine Erkenntnis der anderen, und zwar in solchem Tempo, dass ständig weitere Gesundheitsämter in Preußen eingerichtet werden mussten. Koch wurde 1885 zum Direktor des neuen Instituts für Hygiene in Berlin ernannt und als Professor für Hygiene auf einen eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl an der Berliner Universität berufen. Einen Schönheitsfehler gab es allerdings: Koch hatte angekündigt, dass er eine Substanz gefunden habe, die das Wachstum des Tuberkelbazillus verhindern würde; aber dann fand man heraus, dass dieser Stoff nicht immer anschlug und manchmal sogar toxische Nebenwirkungen hatte.13 Doch auch das war eine wichtige Erfahrung gewesen, denn auf diese Weise begann man zu verstehen, von welch grundlegender Bedeutung die verabreichte Dosis war. Diese Episode hatte für heftige Spannungen zwischen Rudolf Virchow und Robert Koch gesorgt, doch trotz aller Einwände Virchows wurde 1891 an der Charité das eigens für Koch eingerichtete »Königlich Preußische Institut für Infektionskrankheiten« mit einer experimentellen und einer klinischen Abteilung eröffnet. Mittlerweile hatte sich um Koch ein noch beeindruckenderer Kreis von Männern versammelt als um Virchow, darunter Paul Ehrlich und August von Wassermann. Im Jahr 1900 wurde dank Kochs Forschungen das Reichsseuchengesetz verabschiedet; im selben Jahr wurde der berühmteste medizinische Gebäudekomplex der Welt eröffnet: das »Institut für Infektionskrankheiten« bezog einen eigenen Neubau neben der neuen Klinischen Abteilung des Rudolph-Virchow-Krankenhauses in Berlin-Wedding.
Koch wurde zu einer Berühmtheit wie vermutlich kein zweiter Mediziner. Gegen Ende seines Lebens erreichten ihn Hilferufe aus aller Welt – aus Südafrika, wo er die Rinderpest erforschte; aus Bombay, wo er herausfand, dass die Menschenpest durch Ratten verursacht wird (aber übersah, dass die Überträger Rattenflöhe sind); aus St. Petersburg (Typhus) und aus Dar Es Salaam (Malaria und Schwarzwasserfieber). Schließlich isolierte er noch vier Malariastämme.14
1905 wurde Robert Koch mit den höchstmöglichen Ehren ausgezeichnet: dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Am 9. April 1910 starb er an Angina pectoris. Der »schachsüchtige« Forscher und große Bewunderer Goethes brachte der Menschheit – den Ärmsten wie den Wohlhabenderen – mehr Nutzen als irgendein anderer Mediziner seiner und vielleicht sogar noch der heutigen Zeit.
Trotz der aufsehenerregenden Errungenschaften von Virchow und Koch wurden deren Auswirkungen noch immer nicht voll und ganz verstanden. Nach wie vor litten die Bewohner der Ersten Welt am Beginn des 20. Jahrhunderts unter der »grausamen Dreifaltigkeit« Tuberkulose, Alkoholismus und Syphilis. TB war der Stoff, aus dem Dramen und Romane sind. Sie befiel Jung und Alt, Reich und Arm und brachte dem Erkrankten fast immer ein langsames Dahinsiechen bis zum Tode. Welche Auszehrungen sie verursacht, führt uns nicht zuletzt die Kunst vor Augen, sei es in La Bohème, La Traviata, dem Tod in Venedig oder dem Zauberberg, und auch Künstler starben an dieser Seuche, sei es Anton Tschechow, Katherine Mansfield oder Franz Kafka.15
Die Ängste vor der Syphilis und der Abscheu vor allen Menschen, die unter dieser Krankheit litten, waren so groß, dass ungeachtet ihrer massiven Verbreitung kaum je darüber gesprochen wurde. Doch dann begründete Alfred Fournier 1899 in Brüssel das medizinische Fachgebiet der »Syphilidologie« und bewies mit epidemiologischen und statistischen Techniken, dass die Krankheit nicht nur die Demimonde, sondern alle Gesellschaftsschichten befiel, dass sich bei Frauen früher erste Symptome zeigten als bei Männern und dass sie in überwältigend hohem Maße bei jungen Frauen auftrat, die sich durch Armut zur Prostitution gezwungen sahen. Diese Erkenntnisse bereiteten den Weg für die ersten klinischen Forschungen. Im März 1905 entdeckte der aus Ostpreußen stammende Berliner Zoologe Fritz Schaudinn unter dem Mikroskop eine sehr kleine, bewegliche und schwer zu beobachtende Spirochäte in der Blutprobe eines Syphilitikers. Eine Woche später beobachteten er und der aus Pommern stammende Bakteriologe Erich Achille Hoffmann Spirochäten auch in Blutproben, die unterschiedlichen Körperteilen eines Patienten entnommen worden waren, der bereits Resolea entwickelt hatte – jene roten Ausschläge, die die Haut eines Syphilitikers ab einem bestimmten Krankheitsstadium verunstalten. So schwierig diese Spirochäte wegen ihrer Winzigkeit auch zu beobachten war, so war sie doch eindeutig als Syphilismikrobe zu identifizieren. Sie erhielt den Namen Treponema (wegen ihrer Ähnlichkeit mit einem gedrehten Faden) pallidum (wegen ihrer blassen Farbe). Dass sie überhaupt entdeckt werden konnte, war wesentlich dem Ultramikroskop zu verdanken, das der österreichische Chemiker Richard Zsigmondy bei den Glaswerken Schott in Jena erfunden hatte, wo das Spezialglas für Zeiss hergestellt wurde. Damit konnte man nun problemloser mit der Spirochäte experimentieren, als Schaudinn es je für möglich gehalten hatte. Noch vor Jahresende hatte August Wassermann einen Färbetest für die Diagnostik entwickelt, was bedeutete, dass man Syphilis nun frühzeitig identifizieren und ihre weitere Ausbreitung verhindern konnte. Aber es fehlte noch ein wirksames Heilmittel.16
Der Mann, der dieses dann entdeckte, war Paul Ehrlich (1854–1915), ein Oberschlesier, der bereits selbst einmal unter einer Infektionskrankheit gelitten hatte: Als junger Arzt hatte er sich bei seiner Tuberkuloseforschung angesteckt und bis nach Ägypten reisen müssen, um sich in dem trockenen Wüstenklima auszukurieren. Während nun ein Bazillus nach dem anderen entdeckt und mit unterschiedlichen Krankheiten in Verbindung gebracht wurde, hatte er die entscheidende Beobachtung gemacht, dass infizierte Zellen bei der Einfärbung jeweils anders auf Farbstoffe reagierten. Offensichtlich wurde die Biochemie dieser Zellen dabei je nach Bazillus unterschiedlich verändert. Dieser Rückschluss brachte ihn auf die Idee, dass es ein natürliches Antitoxin geben müsse – »Zauberkugeln«, wie er es nannte –, eine spezifische körpereigene Substanz, die gegen Eindringlinge abgesondert wird.
Bis 1907 hatte Ehrlich nicht weniger als sechshundertsechs verschiedene Substanzen oder »Zauberkugeln« gegen eine Vielzahl von unterschiedlichen Krankheiten entwickelt. Die meisten davon hatten allerdings absolut keine Zauberkräfte besessen. Doch dann stellte sein japanischer Assistent Sachahiro Hara fest, dass das vom Labor bereits abgeschriebene »Präparat 606« in Wirklichkeit sehr effektiv wirkte. Ehrlich gab dieser Zauberkugel mit der chemischen Bezeichnung Asphenamin den Namen »Salvarsan«. Und damit hatte er nicht nur das Prinzip der Antibiotika, sondern auch das des menschlichen Immunsystems erkannt. Er begann wie besessen nach weiteren Antitoxinen zu suchen, diese herzustellen und Patienten als Serum zu injizieren. Neben der Syphilis erforschte er Tuberkulose und Diphtherie. 1908 erhielt er für seine gesamten Forschungen auf dem Gebiet der Immunologie den Nobelpreis.17
Selbst nach all der Zeit, die inzwischen vergangen ist, liest sich der Zufall, der zur Wiederentdeckung der botanischen Arbeiten des Benediktinermönchs Gregor Mendel geführt hatte, immer noch spannend und bewegend. Zwischen Oktober 1899 und März 1900 veröffentlichten drei Botaniker – der Deutsche Paul Correns, der Österreicher Erich Tschermak und der Holländer Hugo de Vries – jeweils eine Abhandlung über die Pflanzenbiologie. Jeder von ihnen nahm in diversen Fußnoten Bezug auf Mendel und erkannte somit dessen Vorrang bei der Grundlagenforschung auf dem Gebiet an, das wir heute als Genetik bezeichnen. Dank ihrer Gewissenhaftigkeit ist der einst vergessene Name Mendel heute ein weltweiter Begriff.18
Johann Gregor Mendel (1822–1884) wurde im mährischen Heinzendorf geboren (Hynčice, damals Donaumonarchie, heute Tschechien). Sein Vater war ein Kleinbauer (er hatte in den Napoleonischen Kriegen gekämpft), und seine Mutter stammte aus einer Gärtnerfamilie. Der ganze Familienalltag wurde also von Pflanzen bestimmt: Anbaupflanzen, Obstbäume, Waldpflanzen. 1843 sah sich Mendel offenbar nicht aus religiösen, sondern aus rein wirtschaftlichen Gründen gezwungen, in das Augustinerkloster St. Martin in Brünn einzutreten, wo er dann jedoch genug Muße fand, um sich seinen Pflanzen zu widmen. Der Abt war sehr an einer Verbesserung der Landwirtschaftsprodukte interessiert und hatte im Kloster deshalb einen eigenen Versuchsgarten anlegen lassen, für den Mendels Mitbruder František Matouš Klácel zuständig war, der sich seinerseits sehr für Variationen und für die Anzucht und Entwicklungsstadien von Pflanzen interessierte. Doch er übergab den Versuchsgarten bald Mendel, um sich ganz der Philosophie zu widmen. Klácel favorisierte die hegelianische Idee von der graduellen Entwicklung, was der christlichen Orthodoxie widersprach. Er verließ das Kloster und wanderte schließlich in die Vereinigten Staaten aus.
Mendel eignete sich nicht für die Seelsorge (als empfindsame Seele bedrückte ihn das Leid der Armen zu sehr). Also wurde er an die Universität Wien geschickt, um seinen geistigen Horizont zu erweitern.19 Er hörte »Demonstrative Experimental-Physik« bei Christian Doppler (dem Entdecker des Doppler-Effekts) und höhere Mathematik und Physik bei dem Statistiker Andreas von Ettingshausen, was sich als ausgesprochen wichtig für seine Ideen über die Pflanzenzucht erweisen sollte. Auch die Vorlesungen des Pflanzenphysiologen Franz Unger besuchte er. Unger hatte sich mit seinen Ansichten über die Evolution einen Namen gemacht und lehrte, dass geschlechtliche Fortpflanzung die Grundlage für die große Vielfalt unter den Kulturpflanzen sei und neue Pflanzenarten sich durch das Zusammenwirken verschiedener Elemente in der Zelle entwickelten, das er sich allerdings noch nicht genau erklären konnte.20
1868 wurde Mendel zum Abt der Abtei Altbrünn gewählt und nutzte dieses Amt, um sich für die Landwirtschaft einzusetzen. 1877 trug er beispielsweise zu einem Wettervorhersagesystem für die mährischen Bauern bei, dem ersten, das in Mitteleuropa eingerichtet wurde.21 Entscheidender aber waren seine bereits begonnenen Versuche mit Erbsenpflanzen. Die Erkenntnisse, derentwegen wir uns an ihn erinnern, waren die Frucht von zehn Jahren mühsamer Kleinarbeit: Er experimentierte mit der Anzucht und Kreuzung von Pflanzen, sammelte Samen, etikettierte alles ganz genau, sortierte aus und zählte, zählte, zählte: Fast dreißigtausend Pflanzen hatte er für seine Experimente gezüchtet. Das Dictionary of Scientific Biography schreibt: »Es ist kaum vorstellbar, dass all das ohne einen konzisen Plan und ohne jede Vorstellung von den zu erwartenden Ergebnissen hatte gelingen können.« Mit anderen Worten: Mendels Experimente waren zur Erprobung einer konkreten Hypothese gedacht.
Zwischen 1856 und 1863 dokumentierte Mendel Versuche mit Pflanzen am Beispiel von sieben Merkmalen, die »deutlich und entschieden hervortreten« mussten. Dabei mutmaßte er, dass die Merkmale oder Eigenschaften der Eltern als »unveränderliche Einheiten« an die nächste Generation weitergegeben werden und sich nicht »vermischen«, wie viele glaubten. Er beobachtete also, dass diese sieben Merkmale (wie zum Beispiel die runde Form eines reifen Samens) in der ersten Generation bei allen Hybriden gleich blieben, ebenso wie alle elterlichen Merkmale unverändert vorhanden blieben. Diese Merkmale waren demnach dominant. Es gab aber auch rezessive oder verborgene Merkmale (wie zum Beispiel einen »kantigen« Samen), die nicht unmittelbar, sondern erst in der nächsten Generation ausgeprägt wurden. »Diese Entwicklung erfolgt nach einem constanten Gesetze, welches in der materiellen Beschaffenheit und Anordnung der Elemente begründet ist, die in der Zelle zur lebensfähigen Vereinigung gelangten«, ohne einander zu beeinflussen.22 Bei der hybriden Nachkommenschaft erscheinen wieder beide elterlichen Formen, was, wie Mendel bewusst wurde, auch mathematisch respektive statistisch dargestellt werden konnte. Wenn A für die dominante runde Form des Samens und a für die rezessive kantige Form steht, und wenn beide zufällig zusammenkommen, dann ergibt sich die folgende Kombination:
¼AA + ¼Aa + ¼aA + ¼aa
Ab 1900 kannte man diese Formel unter dem Namen »Mendel’sches Spaltungsgesetz« (auch »Spaltungsregel« genannt). Die Entwicklungsreihe für die Nachkommen von Hybriden lässt sich mathematisch vereinfacht ausdrücken als
A + 2Aa + a
Mendel stellte fest, dass »alle constanten Verbindungen, welche bei Pisum [Erbse] durch Combinirung der angeführten 7 characteristischen Merkmale möglich sind«, tatsächlich »durch wiederholte Kreuzung« erhalten blieben. »Ihre Zahl ist durch 27 = 128 gegeben.« So kam er zu dem Schluss, dass bei der Kreuzung von Individuen einer bestimmten Art, die sich in mehreren Merkmalen reinerbig unterscheiden, die einzelnen Merkmale unabhängig voneinander vererbt werden. Dieses Prinzip wurde später als das »Mendel’sche Unabhängigkeitsgesetz« bezeichnet (heute auch »Gesetz von der freien Kombinierbarkeit der Gene« genannt).23
Das Studium am Beispiel großer Pflanzenpopulationen, wie Mendel es betrieb, war etwas ganz Neues. Erst das ermöglichte es ihm, »Gesetze« aus zufällig wirkendem Verhalten abzuleiten – die Statistik auf dem Gebiet der Biologie war den Kinderschuhen entwachsen.24 Die Bedeutung seiner Forschungen fasste Mendel in seiner Abhandlung Versuche über Pflanzenhybriden zusammen (1865/1866). Es war sein Opus magnum, eine der bedeutendsten Abhandlungen in der Geschichte der Biologie und der Grundstein für die Genetik. Aber er erfuhr nie wirklich Anerkennung dafür, nicht zuletzt, weil er große Schwierigkeiten hatte, an seine Forschung mit den Erbsen anzuknüpfen. Seine Versuche mit fünfzig Bienenvölkern scheiterten an den komplexen Problemen, vor die der Versuch einer kontrollierten Befruchtung von Bienenköniginnen stellte. Und obwohl er noch nachweisen konnte, dass sich die Hybriden von Levkojen, Maispflanzen und der Wunderblume exakt so wie die von Erbsen verhielten, blieben Kollegen wie Carl Nägeli, mit dem er im intensiven Briefwechsel stand, doch skeptisch.25
Mendel hatte Darwins Entstehung der Arten gelesen. Ein Exemplar mit Mendels Randbemerkungen wird im Brünner Mendelianum verwahrt. Und diese Bemerkungen beweisen, wie bereitwillig er die Theorie von der natürlichen Zuchtwahl akzeptiert hatte. Darwin hingegen scheint nie verstanden zu haben, dass die Hybridisierung eine grundlegende Erklärung für die Entwicklung von Variationen bot. So kam es, dass Mendel einsam als verkanntes Genie starb.
So wie seit dem späten 18. Jahrhundert irgendeine Vorstellung von »Evolution« als Idee in den Köpfen vieler Biologen und Philosophen herumgespukt hatte, war auch schon seit Langem die Idee von der Existenz eines Unbewussten aufgekeimt. Zeremonien, um den »Geist freizulassen«, waren in Kleinasien bereits um 1000 v. d. Z. üblich gewesen.26
Zu den allgemeinen Hintergrundfaktoren, die der kanadische Psychiater und Medizinhistoriker Henri Ellenberger 1970 in seinem maßgeblichen Werk The Discovery of the Unconscious (Die Entdeckung des Unbewussten, 1973) als Wegbereiter für den Aufstieg des »Unbewussten« angab, zählte auch die Romantik. Denn zu den Grundvorstellungen der romantischen Philosophie gehörten die »Urphänomene« und all die Metamorphosen, die aus ihnen hervorgegangen waren, darunter zum Beispiel die Idee von einer »Urpflanze« als Vorgängerin aller Pflanzen, oder der mit der Vorstellung vom Unbewussten eng verwandte »All-Sinn«. Johann Christian August Heinroth (1773–1843), der von Ellenberger zu den »Medizinern der Romantik« gezählt wird, siedelte den Ursprung des Gewissens in einem »Über-Uns« an, einem weiteren Urphänomen.
Mehrere Philosophen nahmen Freud’sche Begriffe vorweg. Arthur Schopenhauer bezeichnete den Willen in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung als »den dynamischen Charakter blinder Antriebskräfte«: Der Mensch ist ein irrationales Wesen, gelenkt von inneren Kräften, die er nicht kennt und von denen er kaum etwas weiß. Eduard von Hartmann benannte ein in drei Schichten gelagertes »Unbewußtes«: »I. Das absolute Unbewußte, das die Substanz des Universums darstellt und die Quelle der anderen Formen des Unbewußten ist. 2. Das physiologische Unbewußte, das [...] bei der Entstehung, Entwicklung und Evolution der Lebewesen, einschließlich des Menschen, wirksam ist. 3. Das relative oder psychische Unbewußte, das am Ursprung unseres bewußten geistigen Lebens liegt.«27
Auch Nietzsche nahm mit seiner Vorstellung von einem gerissenen, im Verborgenen agierenden und von den Trieben gesteuerten Unbewussten, das häufig traumatisiert ist, sich auf surreale Weise tarnt und am Ende pathologisch werden kann, viele Freud’sche Gedanken vorweg. Ernest Jones, der erste (und offizielle) Biograf Freuds, lenkte die Aufmerksamkeit auch auf die polnische Psychologin Luise von Karpinska, die erstmals Ähnlichkeiten zwischen den Kerngedanken von Freud und dem Denken von Johann Friedrich Herbart aufgedeckt hatte (welcher sie siebzig Jahre vor Freud zu Papier gebracht hatte). Herbart hatte den Geist als etwas Dualistisches dargestellt, das sich im ständigen Konflikt mit bewussten und unbewussten Prozessen befindet. Gedanken, denen es nicht gelingt, in das Bewusstsein einzudringen, weil sie sich gegen widersprechende Gedanken nicht durchsetzen können, nannte er »verdrängt«. Gustav Theodor Fechner (1801–1887), der Mitbegründer der Psychophysik, eines Teilgebiets der experimentellen Psychologie (und noch ein Pastorensohn), hatte seinerseits auf Herbart aufgebaut, insbesondere mit seinem Gedankengang, das Bewusstsein mit einem Eisberg zu vergleichen, der zu neun Zehnteln unter Wasser liegt.
Der französische Neurologe Pierre Janet dokumentierte, dass er mit Hilfe der Hypnose angeblich »zwei sehr verschiedene Arten psychischer Erscheinungen« hervorrufen konnte: Einerseits begannen die Versuchspersonen »Rollen« zu spielen, um dem Hypnotiseur zu gefallen, andererseits trat »die unbekannte Persönlichkeit auf, die sich spontan manifestieren kann, besonders als eine Rückkehr zur Kindheit«. (Beispielsweise bestanden Patienten plötzlich darauf, mit den Kosenamen aus ihrer Kindheit angesprochen zu werden.) Als Janet nach Paris übersiedelte, begann er die Technik seiner »psychologischen Analyse« zu entwickeln und machte dabei die Feststellung, dass der Geist seiner Patientinnen nach den Krisen, die er durch Hypnose und »automatisches Schreiben« bei ihnen ausgelöst hatte, wesentlich klarer wurde, während die Krisen selbst umso schwerer waren, je früher im Leben die Patientinnen eine fixe Idee ursprünglich entwickelt hatten.28
Das 19. Jahrhundert hatte sich erstmals auch mit dem Thema der kindlichen Sexualität konfrontiert gesehen. Anfangs war sie von Medizinern als eine seltene Anomalie betrachtet worden, doch 1846 wies der Arzt und Moraltheologe Pater Pierre J. C. Debreyne in einer Abhandlung auf die Masturbation bei Kindern hin, auf die häufigen Sexualspiele von Kleinkindern und auf die Verführung sehr kleiner Kinder durch Ammen und Dienstboten. Am berühmtesten aber wurden die Warnungen, die Jules Michelet in seinem Buch Nos fils (1869) hinsichtlich der allgemeinen Folgen infantiler Sexualität und insbesondere des Phänomens, das später als »Ödipuskomplex« bezeichnet wurde, an Eltern gerichtet hatte.29
Die Menschen im 19. Jahrhundert waren fasziniert von der möglichen Koexistenz zweier »Persönlichkeiten«, für die schließlich der Begriff »Doppel-Ich« beziehungsweise »Dipsychismus« erfunden wurde. Die Theorie vom Dipsychismus wurde von Max Dessoir (1867–1947) in seinem einst gefeierten Buch Das Doppel-Ich (1890) entwickelt, in dem er die menschliche Seele in zwei Ich-Formen aufteilte, die er das »Oberbewußtsein« und das »Unterbewußtsein« nannte. Letzteres, erklärte er, enthülle sich gelegentlich in Träumen.30
Sigmund Freud legte seine Ansichten erstmals in den Studien über Hysterie dar, die er 1895 mit Josef Breuer veröffentlichte und anschließend vollständiger ausgearbeitet in seiner Schrift Die Traumdeutung darlegte, als deren Erscheinungsdatum das Jahr 1900 angegeben wurde, obwohl sie bereits im November des Vorjahres in Leipzig und Wien publiziert worden war (die erste Rezension erschien im Januar 1900 in Wien). Da war der jüdische Arzt aus Freiberg in Mähren bereits vierundvierzig Jahre alt gewesen.
In der Traumdeutung finden die vier Fundamente von Freuds psychoanalytischer Theorie erstmals zusammen: das Unbewusste, die Verdrängung, die frühkindliche Sexualität (die Freud dann zum Ödipuskomplex führte) und die Dreiteilung des Geistes in das Ich, also das Bewusstsein von sich selbst; das Über-Ich, welches verallgemeinernd ausgedrückt das Gewissen darstellt; und das Es, der primäre biologische Ausdruck des Unbewussten. Freud fühlte sich in der von Darwin begründeten biologischen Tradition beheimatet. Nachdem er seine Zulassung als Arzt erhalten hatte, bekam er ein Stipendium bei Jean-Martin Charcot, der zu dieser Zeit in seinem Pariser Asyl Studien an nervenkranken Frauen durchführte und dabei nachgewiesen hatte, dass mit hypnotischer Suggestion systematisch Hysterie ausgelöst werden konnte. Nach einigen Monaten kehrte Freud nach Wien zurück und begann seine Kooperation mit Josef Breuer (1842–1925), einem weiteren brillanten Wiener Arzt und ebenfalls Jude, der bereits zwei bedeutende Entdeckungen gemacht hatte: über die Rolle, die der Vagus (der 19. Gehirnnerv) bei der Atmungsregulierung spielt, und über die Funktion der Bogengänge des Innenohrs in Bezug auf das physische Gleichgewicht. Wichtig für Freud und die Psychoanalyse waren jedoch die Erkenntnisse, die Breuer 1881 bei der von ihm erfundenen »Redecur« gewann.
Seit Dezember 1880 hatte Breuer eine junge Wiener Jüdin namens Bertha Pappenheim (1859–1936) wegen »Hysterie« behandelt (in seiner berühmten Fallstudie nannte er sie »Anna O.«). Ihr Leiden äußerte sich in wechselnden Symptomen, etwa in Form von Schlafwandeln, Lähmungen, Halluzinationen, einer Persönlichkeitsspaltung bis hin zu Sprachregressionen und sogar einer Scheinschwangerschaft. Im Verlauf der Behandlung entdeckte Breuer, dass Berthas Symptome zeitweilig verschwanden, sobald er ihr gestattete, im Zustand einer Art von Autohypnose detailliert von sich zu erzählen. (Tatsächlich war sie es gewesen, die Breuers Methode »Redecur« getauft oder auch als »Kaminfegen« bezeichnet hatte.) Nach dem Tod ihres Vaters begann sich ihr Zustand massiv zu verschlechtern – es kam zu immer neuen Halluzinationen und schweren Angstzuständen. Wieder stellte Breuer fest, dass sich Bertha an die Gefühle zu erinnern schien, die sie am Krankenlager des Vaters verdrängt hatte, und diese »verlorenen« Gefühle nach ihrer Wiederentdeckung nun einfach »wegerzählen« konnte. Der nächste Fortschritt ergab sich eher zufällig: Einmal berichtete »Anna« von einem bestimmten Symptom (Schluckbeschwerden), danach war es prompt verschwunden. Breuer entdeckte schließlich, dass er sie nur zu überzeugen brauchte, sich chronologisch rückwärts bis zum ersten Auftreten eines Symptoms zu erinnern – die Geschichte bis zum Anfangspunkt zurückzuerzählen –, damit das Symptom in den meisten Fällen verschwunden war. Im Juni 1882 konnte Fräulein Pappenheim ihre Behandlung abschließen, »seither erfreute sie sich vollständiger Gesundheit«.31
Der Fall von »Anna O.« beeindruckte Freud. Eine Weile versuchte auch er nun »Hysterikerinnen« nicht nur mit Elektrotherapien, Massagen und Hydrotherapien, sondern auch mit Hypnose zu behandeln, ließ von diesem therapeutischen Ansatz aber wieder ab und wandte sich der »freien Assoziation« zu, einer Technik, die es den Patientinnen erlaubte, über alles zu reden, was ihnen in den Sinn kam. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass viele Menschen unter den richtigen Umständen in der Lage seien, sich an längst vergessene Ereignisse aus der Kindheit zu erinnern, und daraus wiederum schloss er, dass frühe Erlebnisse das Verhalten einer Person selbst dann noch stark prägen konnten, wenn diese selbst vollständig in Vergessenheit geraten waren. Sein Konzept des »Unbewussten«, mitsamt dem Begriff der »Verdrängung«, war geboren. Nun postulierte Freud auch, dass viele frühe Erinnerungen, die durch freie Assoziation – wenn auch unter Schwierigkeiten – an die Oberfläche drängten, sexueller Natur seien. Als er dann jedoch feststellen musste, dass solche »erinnerten« Begebenheiten in Wirklichkeit oft gar nicht stattgefunden hatten, begann er an seiner Ödipustheorie zu arbeiten. Mit anderen Worten: Er betrachtete die von seinen Patientinnen erfundenen sexuellen Traumata und Verwirrungen als eine Art Code für das, was sie sich insgeheim gewünscht hatten. Damit schien ihm bestätigt, dass schon das Kleinkind durch eine sehr frühe Phase des sexuellen Erlebens ging, die es mit sich brachte, dass sich ein Sohn zur Mutter hingezogen fühlte und den Vater als Rivalen erlebte (Ödipuskomplex), eine Tochter hingegen das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen erlebte (Elektrakomplex). Diese Grundmuster blieben, so glaubte Freud, ein Leben lang erhalten und trügen deutlich zur individuellen Charakterbildung bei.32
Der Anstoß zu Freuds Selbstanalyse kam durch den Tod seines Vaters Jakob im Oktober 1896. Obwohl sich Vater und Sohn während vieler Jahre nicht sehr nahe gewesen waren, stellte Freud zu seiner Überraschung fest, dass ihn der Tod des Vaters unerklärlich stark bewegte und lange vergrabene Erinnerungen spontan an die Oberfläche schwemmte. Auch seine Träume veränderten sich. Plötzlich entdeckte er darin eine unbewusste und bisher verdrängte Feindseligkeit dem Vater gegenüber, die ihn schließlich zu der Überzeugung brachte, dass Träume der Königsweg zum Unbewussten seien. Der zentrale Gedanke seiner Traumdeutung war, dass sich das Ich im Schlaf wie ein Wachposten verhält, der eingenickt ist: Die übliche Wachsamkeit gegenüber den Trieben des Es lässt nach. Deshalb seien Träume das Vehikel für das Es, sich zu zeigen, wenn auch in verschleierter Form.33
In jüngerer Zeit wurde Freud einer nicht nachlassenden Kritik und Revision unterzogen. Heute ist er diskreditiert.34 Zu Freuds Lebzeiten, vor allem am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde sein »Unbewusstes« jedoch ungemein ernst genommen und spielte insofern eine wegweisende Rolle, als es einen Wandel beförderte, der sich grundlegend auf das Denken und vor allem auf die Kunst auswirken sollte: auf jenes Phänomen, welches man als »Modernismus« bezeichnet.