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Berlin: Die Geschäftige

Nach der deutschen Reichsgründung von 1871 mit Berlin als Hauptstadt der neuen Nation, war die Stadt noch nicht die Metropole, zu der sie sich später entwickeln sollte. Aber der Sieg über Frankreich wurde mit der größten Militärparade gefeiert, die die Stadt je erlebt hatte. Am 16. Juni 1871, einem strahlenden, heißen Sonntag, marschierten vierzigtausend Soldaten mit Eisernen Kreuzen an der Uniformbrust vom Tempelhofer Feld durch das Brandenburger Tor zum königlichen Schloss Unter den Linden. Eine Formation trug die einundachtzig erbeuteten französischen Kriegsfahnen, viele davon waren zerschlissen.1 Unter den Honoratioren, die an der Spitze der langen Parade ritten, befanden sich auch Helmuth von Moltke, in der Hand den Marschallstab, der ihm gerade überreicht worden war, und der jüngst in den Fürstenstand erhobene Otto von Bismarck. Ihm folgte der frischgebackene deutsche Kaiser Wilhelm I., »dessen aufrechte Haltung nicht verriet, daß er 74 Jahre alt war«.2 Mehrere Reiter fielen der Hitze wegen in Ohnmacht, nicht jedoch der zwölfjährige Kaiserenkel Friedrich Wilhelm, der trotz seines verkrüppelten linken Armes aufrecht und stolz im Sattel saß.

Nicht jeder war einverstanden gewesen mit der Idee, Berlin zur Hauptstadt zu machen. Der Kaiser (der diesen Titel nur widerstrebend akzeptiert hatte) hätte Potsdam vorgezogen, wo sich Preußens bedeutendster König Friedrich der Große bevorzugt aufgehalten hatte. Nichtpreußischen Deutschen gefielen die östliche Lage und Orientierung der Stadt nicht: Sie »sprachen geringschätzig von der »Hauptstadt Ostelbiens‹, als sei Berlin eine Pioniersiedlung am Rande der slawischen Wildnis«; Katholiken hielten Berlin für eine gefährliche protestantische Hochburg; und Theodor Fontane fand die Stadt viel zu gewinnorientiert:3 »Die große Stadt hat nicht Zeit zum Denken, und was noch schlimmer ist, sie hat auch nicht Zeit zum Glück.«4 Diese Ambivalenz spiegelte sich in dem Umstand, dass der Reichstag noch bis 1894 auf ein eigenes Gebäude warten und die Geschäfte derweil in einer stillgelegten Porzellanmanufaktur führen musste.5

Zum Zeitpunkt der Siegesparade belief sich die Einwohnerschaft Berlins auf 865 000, 1905 wurde die Zwei-Millionen-Marke überschritten. Das Wachstum war der massiven Zuwanderung aus dem Osten zu verdanken, wobei das Gros aus Brandenburg, Ostpreußen und Schlesien kam. 1860 hatten 18 900 Juden in Berlin gelebt, bis 1880 war diese Zahl auf 53 900 gestiegen. Nachdem sie in ihren Herkunftsländern aus rassistischen Gründen verfolgt worden waren und ihnen der Besitz eigenen Landes, viele Berufe und eine Militärlaufbahn verwehrt gewesen waren, hatten sich diese »Ostjuden« andere Fertigkeiten erwerben müssen und sich auf Handel, Finanzdienstleistungen, Journalismus, Kunst oder Jurisprudenz spezialisiert, »also genau auf die Metiers, die in einer modernen Metropole besonders gefragt waren«. Jedenfalls verwandelte sich Berlin nach 1871 in eine »boomende Spree-Metropole«. Und dafür hatten vor allem noch drei Faktoren gesorgt: die Abschaffung der letzten Binnenzölle, die gelockerten Regeln für den Banken- und Aktienmarkt und der plötzliche Zustrom von nicht weniger als fünf Milliarden Goldmark an Reparationen aus Frankreich. Das entsprach zwei Karat Gold für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind im Reich. Wie der amerikanische Historiker David Clay Large schrieb: »Das Deutsche Reich wurde mit einem goldenen Löffel im Mund geboren.«6

Und dieser Umstand zeigte sich überall in Berlin. Nur zwei Jahre nach der Reichsgründung hatten sich siebenhundertachtzig neue Unternehmen in Preußen etabliert; in Berlin waren die Deutsche, die Dresdner und die Darmstädter Bank (die drei »D«) gegründet und vorzügliche Zeitungen ins Leben gerufen worden.7 Juden spielten in diesem neuen liberalen Klima eine entscheidende Rolle, an vorderster Stelle im Verlagswesen, bei der Gründung von Kaufhäusern (Wertheim, Hermann Tietz [Hertie], Nathan Israel), an der Börse und im Bankenwesen. Ab 1871 kontrollierten Juden mehr als 40 Prozent aller Banken im Reich, nur ein Viertel befand sich im ausschließlichen Besitz von Christen.

Besonders einflussreich auf diesem Gebiet war Gerson von Bleichröder, Bismarcks persönlicher Bankier und Finanzberater, dessen Vater sich zum Berliner Agenten der mächtigen Bankiersdynastie Rothschild hochgearbeitet und derweil selbst ein leistungsfähiges Bankgeschäft aufgebaut hatte. Seine Aufgabe war es, Bismarck mit seinem scharfsinnigen Rat zu einem »respektablen Fürsten« zu machen, und dieser dankte es ihm, indem er ihn als ersten ungetauften Juden des neuen Kaiserreichs in den erblichen Adelsstand erhob. (Andererseits machte Bismarck hinter Bleichröders Rücken antisemitische Witze über ihn, »als sei es ihm ein Stück weit peinlich, seine privaten Reichtümer einem solchen ›Privatjuden ‹ zu verdanken«.)8

Es wurden zahlreiche Anstrengungen unternommen, um Berlin in eine Stadt mit einer Lebensqualität zu verwandeln, die mit Paris oder London zu vergleichen war. Die berühmte Straße Unter den Linden, die bis dahin vorwiegend von den Palais des Adels und der wohlhabenden Bürger gesäumt worden war, wurde nun zu einem Boulevard, an dem sich Modesalons, Restaurants, Banken und Hotels aneinanderreihten. In der 1873 eröffneten Kaisergalerie, einer glasüberdachten Einkaufspassage nach dem Vorbild der Mailänder Galleria Vittorio Emanuele, befanden sich fünfzig Läden, Cafés, Restaurants und Vergnügungsstätten. Auch die Hotels mussten Schritt halten, denn im Vergleich zu den rund fünftausend Besuchern, die vor der Reichsgründung täglich eingetroffen waren, galt es nun rund dreißigtausend unterzubringen.9

Doch die Bedingungen besserten sich letztendlich nur oberflächlich – unter dem Pflaster sah es weit weniger beeindruckend aus. Eine moderne Abwasserkanalisation wurde erst Ende der siebziger Jahre gebaut, weshalb die Stadt, was den Gestank betraf, »einsame Spitze« war. Erst viel später sollte die »Berliner Luft« Anlass zum Stolz geben. Männer hatten ständig eine Zigarre zwischen den Lippen, um sich vor den Gerüchen zu schützen, selbst beim Essen wurde geraucht. Die Manieren ließen ohnedies zu wünschen übrig: »Sogar im Theater und bei Konzerten stopften sie sich mit Eßbarem voll, um anschließend fröhlich zu rülpsen und zu furzen.« Besuchern fiel auch die Unterwürfigkeit auf, welche die Bewohner gegenüber den Soldaten an den Tag legten, die das Straßenbild beherrschten. Da konnte man dann beispielsweise beobachten, wie »ein Händler, der einen Turm aufeinandergestapelter Hüte trug, vom Gehweg auf die Straße trat, um einem entgegenkommenden Feldwebel Platz zu machen«. Auch die volkstümlichen Vergnügungen hatten für auswärtige Besucher »etwas Rohes und Ungezügeltes«. In den vielen »lärmenden Biergärten« saßen Männer und Frauen aller Schichten »dicht gedrängt auf primitiven Bänken«; und in den »verruchten Tanzlokalen« waren erotische Wandmalereien von »nackten Wesen in schwer zu beschreibenden Posen« zu bewundern.10

 

Am 8. Februar 1873 hielt der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Eduard Lasker eine dreistündige Parlamentsrede, in der er das korrupte System, an dessen Spitze er den Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg stellte, für die Qualität des Wirtschaftsaufschwungs im Deutschen Reich verantwortlich machte: Zwielichtige Spekulanten hätten, von käuflichen Beamten protegiert, ein einziges riesiges Kartenhaus errichtet. Die Folge von Laskers schwer verdaulichen Enthüllungen war eine Lawine von Verkäufen an der Börse, und nachdem auch noch die Nachrichten vom Crash der Wiener Börse und der plötzlichen Schließung der New Yorker Börse eintrafen, mussten mehrere deutsche Unternehmen Konkurs anmelden. Binnen eines Jahres gingen einundsechzig Banken, hundertsechzehn Industrieunternehmen und vier Eisenbahngesellschaften unter.11

Zuerst wurden die Liberalen wegen ihrer Laissez-faire-Politik dafür verantwortlich gemacht, doch es dauerte nicht lange, bis man mit dem Finger auf die Juden zu zeigen begann, von denen nicht wenige zu den führenden Liberalen und Bankiers gehörten. Heinrich von Treitschke wetterte in einem Beitrag für die Preußischen Jahrbücher gegen den »zersetzenden Einfluß« der Juden und endete mit seinem berüchtigten Satz: »Die Juden sind unser Unglück.« Sogar Theodor Fontane räumte ein, dass der Börsenkrach seinen »Philosemitismus« auf eine harte Probe gestellt habe. Bismarck schritt zur Schadensbekämpfung, ohne sich hinter die Juden zu stellen, indem er sich darauf konzentrierte, den Wirtschaftsliberalismus der Gründerzeit über Bord zu werfen und eine Politik der hohen Schutzzölle und staatlichen Beihilfen für bedrängte Unternehmer in die Wege zu leiten. Der Wirtschaftsnationalismus wurde zur Tagesparole.12

Aber das Gift des Antisemitismus begann zu wirken (den Begriff prägte der Berliner Journalist Wilhelm Marr mit seiner »Antisemitenliga«), vor allem, als die Zuwanderung von Juden zur Zeit der antijüdischen Stimmungsmache in Westpreußen und der von Zar Alexander II. lancierten Pogrome in Russland während der achtziger Jahre stetig zuzunehmen begann. Dennoch, auch wenn diese »Ostjuden« nun zu einem großen gesellschaftspolitischen Thema wurden, brach sich der Antisemitismus in Berlin doch noch auf weniger verstörende Weise Bahn als in Wien. In Berlin gab es aber noch andere Stimmen, solche, die gegen Antisemiten wie Treitschke oder Marr zu Felde zogen – zum Beispiel die Universitätsprofessoren, liberalen Politiker und fortschrittlichen Industriellen, die 1880 eine Erklärung veröffentlichten, in der sie den Antisemitismus als eine »nationale Schande« bezeichneten und vor einer Neubelebung dieses »alten Wahnes« warnten.13

Gegen Ende der siebziger Jahre begann sich die Wirtschaft des Kaiserreichs zu erholen. Diese »zweite Industrierevolution« war nicht zuletzt von der Anpassung an den Goldstandard und der Einführung einer nationalen Währung begünstigt worden.n Auch erste infrastrukturelle Verbesserungen wurden nun in Angriff genommen: In den siebziger Jahren führte man eine schienengebundene Pferdebahn ein, kurz darauf eine dampfbetriebene Ringbahn, die dem Verlauf der alten Stadtmauer folgte, und als Nächstes die Stadtbahn, die Berlins Stadtmitte erstmals mit den Vororten verband. In den achtziger Jahren wurden außerdem die wichtigsten Berliner Hauptstraßen mit elektrischer Beleuchtung versehen.14 Mark Twain befand, Berlin sei »das deutsche Chicago«; Julius Langbehn erklärte die Stadt zum »Epizentrum aller modernen Übelstände [...], krankend an einer ›gewissen geistigen Leere‹«.15

Der kaiserliche Besserwisser

Auch Kaiser Wilhelm II. hegte eine Abneigung gegen Berlin. Vor allem herrschten dort für seinen Geschmack viel zu viel Freigeistigkeit und viel zu wenig Respekt vor dem Thron. Nichtsdestotrotz brauchte das Reich eine Kapitale, die es mit den kaiserlichen Ambitionen aufnehmen konnte, also beschloss er, Berlin wenigstens zur schönsten Stadt der Welt zu machen. Überall hatte er nun seine Hand im Spiel: Ob es um den Bau von Kirchen oder Gefängnissen ging, um Kasernen oder Hospitäler – allem drückte er seinen Stempel auf.16 Doch der bedeutendste Berliner Neubau während seiner Amtszeit war weder in seinem Auftrag entstanden, noch sollte er Gnade vor seinen Augen finden. Der neue Reichstag, mit dessen Bau 1884 begonnen und der ein Jahrzehnt später eingeweiht wurde, war ursprünglich als ein einfaches Gebäude in der Wilhelmstraße geplant gewesen. Doch dann hatten Berliner Politiker und Architekten protestiert: So etwas sei für das Parlament der »neu geeinigte[n] deutsche[n] Nation, im Begriff, die Führung Europas zu übernehmen«, kein angemessenes Domizil. Am Ende hatte Paul Wallot, der Architekt, den man mit der Aufgabe betraut hatte, »den deutschen Geist in Stein zu meißeln«, die reinste Stilmixtur fabriziert, »so etwas wie eine Kreuzung zwischen der Pariser Oper und einem Palazzo von Palladio«.17

Nicht besser erging es der 1901 eingeweihten Siegesallee, die dem Kaiser ungemein am Herzen lag und, von den Marmorbüsten ruhmreicher Mitglieder des Hauses Hohenzollern gesäumt, als Flaniermeile den Tiergarten durchzog. Die Porträts für die Büsten hatte der Kaiser persönlich nach den Gesichtszügen lebender Freunde und Anhänger seiner Dynastie gezeichnet – weshalb Kurfürst Friedrich I., der Begründer der brandenburgischen Hohenzollernherrschaft, mit einem Mal eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem kaiserlichen Freund Philipp zu Eulenburg aufwies. Den meisten Berlinern war diese vom Ausland belächelte Selbstdarstellung einfach nur peinlich. Der Volksmund taufte die Siegesallee schnell in »Puppenallee« um, und auch das Ansehen des Kaisers im Volk hatte merklich gelitten: Er könne, sagten seine Untertanen, nicht einmal an einer Beerdigung teilnehmen, ohne selbst die Leiche sein zu wollen.18

Auch was das geistige und künstlerische Leben Berlins betraf, so betrachtete Wilhelm II. es als sein gutes Recht und seine Pflicht, sich in alles einzumischen. Dafür hielt er sich ohnedies besonders qualifiziert, da er selbst gerne zeichnete, beispielsweise Schiffe, und Theaterstücke schrieb, wie Sardanapal, in dem es um einen König geht, der sich selbst opfert, um sich der Gefangennahme durch seine Feinde zu entziehen. Mit Vorliebe zwang Wilhelm seine Staatsgäste, sich dieses Stück anzusehen, darunter auch seinen Onkel Edward VII. von England, der prompt einschlief, erst wieder aufwachte, als der Dramaturgie folgend eine »Feuersbrunst« die Bühne »verschlang«, und prompt aufgeregt nach der Feuerwehr rief. In künstlerischen und kulturellen Dingen war Wilhelm ein erzkonservativer Traditionalist. Und es waren seine ständigen Einmischungen, die die Berliner Kulturelite schließlich zu einer deutlichen Gegenreaktion provozierten.19

1889 spitzte sich die Stimmung in der Berliner Theaterszene zu. »1889 war das Jahr der deutschen Theaterrevolution, genau wie 1789 das Jahr der Menschheitsrevolution war«, schrieb Otto Brahm, Begründer der Berliner »Freien Bühne« etwas übertrieben, um den Ernst der Lage zu betonen. Die Freie Bühne war ein privater Theaterverein und unterlag im Gegensatz zu den Staatstheatern nicht der Zensur. Deshalb konnte Brahm dort auch Ibsens Stück Gespenster auf die Bühne bringen, das verboten worden war, weil es sich mit dem Tabuthema Syphilis befasste. Als Nächstes wagte er sich sogar an die sozialrealistische Studie Vor Sonnenaufgang aus der Feder von Gerhart Hauptmann (1862-1946), dem 1912 der Literaturnobelpreis zugesprochen werden sollte und der einer der Gründer des modernen Realismus war – noch so ein Begriff, der heute kaum noch eine Reaktion auslöst, damals aber zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Jedenfalls kam es während einer Aufführung zu einer handfesten Schlägerei zwischen den Gegnern und den Verfechtern dieses Modernismus.20

Derart ermutigt, übernahm Brahm das bis dahin staatliche Deutsche Theater und brachte immer politischere Stücke auf die Bühne. Der Frontalangriff auf das Establishment aber war die Inszenierung von Hauptmanns Drama Die Weber im Jahr 1894, eine wütende Anklage gegen das Regime wegen des schrecklichen Elends, unter dem die schlesischen Textilarbeiter in den vierziger Jahren litten. Prompt verbot der Berliner Polizeipräsident das Stück: Er befürchtete, dass es die »Unterschicht« bloß aufwiegeln würde. Doch kurz darauf hob ein Gericht das Verbot mit der Begründung wieder auf, dass sich das Volk, das durch dieses Stück hätte aufgewiegelt werden können, kaum einen derart teuren Theaterbesuch leisten konnte. Die Weber (schlesisch De Waber) wurden uraufgeführt und zu einem riesigen Erfolg.

Für den Kaiser war dieser Erfolg Hauptmanns ein Schlag ins Gesicht. Die Bühne sei eine »Waffe gegen Materialismus und undeutsche Kunst«, erklärte er, und ein Theaterstück solle die Menschen nicht verzagt machen, sondern erbauen und mit Kraft erfüllen, auf dass sie allzeit zum Kampf für die Ideale bereit seien, nach denen jeder aufrechte Mensch strebe. Weil Hauptmanns Stücke diesen Regeln so offensichtlich widersprachen, befahl Wilhelm die Verhaftung des Dramatikers; als das Gericht dann jedoch keinen guten Grund fand, ihn einzukerkern – was man den Richtern zugutehalten muss –, probierte es der Kaiser mit anderen Einschüchterungsversuchen und ließ Hauptmann sogar den Schillerpreis für herausragende dramatische Leistungen aberkennen, um stattdessen einen seiner konservativen Lieblingsschreiber, Ernst Wildenbruch, damit zu beglücken.21

Sehr ähnlich erging es auch dem jüdischen Theaterregisseur Max Reinhardt aus Wien (eigentlich Maximilian Goldmann, 1873-1943), der um die Jahrhundertwende nach Berlin gekommen war, um Karriere als Schauspieler zu machen. Es war die Zeit, in der das moderne Theater gerade zum Sprung in alle Richtungen ansetzte – mit Wagner, Zola, Ibsen, Strindberg... Für Reinhardt war Berlin jedenfalls »eine herrliche Stadt – Wien mehr als zehnmal multipliziert«, wie er einem Freund schrieb. Aus seiner Schauspielerei wurde nichts, dafür erwies er sich auf der von ihm mitbegründeten Kleinkunstbühne »Schall und Rauch« als grandioser Regisseur. Bald nahm er die großen Bühnen ins Visier, übernahm 1903 das »Kleine« und das »Neue Theater«, 1905 schließlich von Brahm auch das Deutsche Theater, an dem er 1906 die Kammerspiele eröffnete und das er aus einer »Bastion des bitteren Naturalismus in eine Arena des Zaubers und der Spannung verwandelte«.22 Obwohl sein Repertoire alles umfasste, von Sophokles bis Büchner, verwandelte er die Bühne mit neuen Lichteffekten und einer ganz neuen Bühnentechnik in das Spektakulärste und Modernste, was Berlin je gesehen hatte. (Der amerikanische Maler Marsden Hartley meinte einmal, dass wohl niemand und nichts, abgesehen von Feldherren, Vulkanausbrüchen und Eisenbahnunglücken, derart gewaltige Szenerien inszenieren konnte wie Reinhardt auf der Bühne.23) Es gab wenig, was der Kaiser an Reinhardts Bühnentechnik hätte bemängeln können – es war ganz einfach die Modernität, die er so gar nicht leiden konnte. Und da er seinen Geschmack mit keinem Gesetz durchzusetzen vermochte, befahl er wenigstens seinem Militär, sich von Reinhardts Inszenierungen fernzuhalten. Kindisch bockig bis zum Schluss, lehnte Wilhelm nach Kriegsausbruch 1914 sogar Reinhardts Angebot ab, mit seinem Ensemble zur Truppenbetreuung an die Front zu gehen.24

Ein anderer großer Name aus dem Berliner Kulturbetrieb, dem der Kaiser seine Achtung verwehrte, war der Dirigent Hans von Bülow. Was die Musik anbelangte, so hatte Berlin schon lange vor der Jahrhundertwende internationale Anerkennung gewonnen. Bereits 1841, als Felix Mendelssohn Bartholdy Kapellmeister geworden war, hatte das Hoforchester einen hervorragenden Ruf genossen. Seit 1867 hatte es außerdem ein privat finanziertes Unterhaltungsorchester gegeben, das nach seinem Gründer Benjamin Bilse, dem Dirigenten und Leiter der Stadtkapelle Liegnitz, »Bilse’sche Kapelle« genannt wurde. Es pflegte im »Berliner Concerthaus« zu spielen, verwandelte sich dabei aber zunehmend in ein Sinfonieorchester und wurde so zu einem Konkurrenten der Hofkapelle. Doch da Bilse ein ziemlicher Zuchtmeister war und vierundfünfzig seiner Musiker es leid waren, ständig von oben herab behandelt zu werden, beschlossen diese im Jahr 1882, ihr eigenes Orchester zu gründen, das sich zuerst »Vormals Bilse’sche Kapelle« und dann, nachdem ein Konzertagent die Organisation übernommen hatte, »Berliner Philharmonisches Orchester« nannte. Die Anfänge waren schwierig, beispielsweise musste als feste Spielstätte zuerst eine ehemalige Rollschuhbahn herhalten. Doch 1887 engagierte der Konzertagent Hermann Wolff dann Hans von Bülow als Leiter, der nicht nur selbst ein brillanter und charismatischer Dirigent war und klassische Musik ebenso mochte wie zeitgenössische, sondern auch ein paar interessante Freunde hatte. Und einen davon, Johannes Brahms, holte er 1889 nach Berlin, damit er sein D-Moll-Konzert selbst dirigierte. Der Abend war eine Sensation.

Dass der Kaiser moderne Musik mindestens so verabscheute wie moderne Kunst und modernes Theater, wird niemanden überraschen. Mit Bülow überwarf er sich dann aber vor allem wegen Wagner. Bülow war ein erfahrener Wagner-Interpret und liebte dessen Musik, ungeachtet der Tatsache, dass der Komponist ihm seine Frau Cosima ausgespannt hatte. Die Wagner-Abende der Berliner Philharmoniker wurden zu einem strahlenden Juwel der Berliner Musikszene, die seit Meyerbeer in den vierziger Jahren keine große Opernmusik mehr aufzubieten gehabt hatte. Dennoch, die Berliner hatten ein gutes Gedächtnis, und viele Musikliebhaber konnten es dem Komponisten einfach nicht verzeihen, dass er sich 1848 auf die Seite der Revolution geschlagen hatte. Auch der Kaiser nutzte diesen Umstand, um Wagner zu verteufeln. Schon kurz nach seiner Thronbesteigung hatte er erklärt, dass sein Mann Gluck heiße und Wagner ihm viel zu viel Radau mache. Eine ähnliche Meinung hatte er von Richard Strauss, den er nur als Kapellmeister an der Hofoper duldete, weil er hoffte, Berlin dank seines Namens zu einem noch internationaleren musikalischen Flair verhelfen zu können. Doch dann komponierte Strauss immer weiter die Disharmonien, die der Kaiser so hasste. »Det is ne schöne Schlange, die ick mir an meinem Busen jenährt habe«, soll Wilhelm geschnaubt haben, um Strauss dann ins Gesicht zu sagen, dass er seine Musik schlicht »wertlos« finde.25

Zur Zeit der deutschen Reichsgründung im Jahr 1871 war der Berliner Kunstbetrieb der Münchner Kunstszene, die damals wie gesagt die bei Weitem größte Dichte an Malern und Bildhauern aufzubieten hatte, ein gutes Stück hinterhergehinkt. Doch als Berlin im Lauf der achtziger und neunziger Jahre dann mit immer mehr Denkmälern und Museen geschmückt wurde, begannen die bildenden Künstler in die neue Hauptstadt abzuwandern. Aber auch ihnen gegenüber konnte der Kaiser nie seine Meinung für sich behalten.

Bis zu diesem Zustrom an bildenden Künstlern war der geborene Breslauer Adolph von Menzel (1815-1905), der seit 1830 in Berlin gelebt hatte, der bekannteste Künstler der Stadt gewesen. Als junger Maler hatte er impressionistische Studien der hässlichen Hinterhöfe, düsteren Ecken und primitiven Werkstätten Berlins gemalt. (Edgar Degas zählte zu seinen Bewunderern.) Doch in den siebziger Jahren änderte er seine Technik wie seine Sujets und konzentrierte sich ganz auf die Geschichte des Staates und der Monarchie. In seinen Werken Das Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci und Die Tafelrunde in Sanssouci zum Beispiel mythologisierte er ehrfürchtig den Hof Friedrichs des Großen, in anderen Gemälden verherrlichte er unkritisch die Macht und Glorie Preußens. Und mit diesem Wandel erreichte er denn auch prompt sein Ziel, nämlich Zugang zum Hof zu bekommen. »Der zwergwüchsige, außerordentlich häßliche Maler« wurde schnell »zu einem Fixstern am Himmel der höfischen Gesellschaft«, die er nun in liebevollen Details porträtierte. Als Menzel 1905 starb, reihte sich Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich in den Trauerzug ein.26

Kaum weniger Protektion erfuhr der Historienmaler Anton von Werner (1843-1915), dessen überdimensionale, fast fotorealistische Ölgemälde in deutschen Schulbüchern abgedruckt wurden und im Kaiserreich so berühmt waren wie nur wenige andere Kunstwerke. Sein Bild Kaiserproklamation in Versailles, das den frisch gekrönten Kaiser und seine Generäle bei der Ausrufung des Deutschen Reiches im Versailler Spiegelsaal Ludwigs XIV. darstellt, war von Kaiser Wilhelm I. als Geschenk für Bismarck in Auftrag gegeben worden. 1875 wurde Werner zum Präsidenten der Akademie der Schönen Künste ernannt; nach der Thronbesteigung Wilhelms II. wurde er zu dessen Mentor in allen künstlerischen Fragen und bestärkte nur allzu bereitwillig den instinktiven Abscheu des Kaisers vor moderner Kunst.

Nun waren der Kaiser und sein Kunstberater zwar mächtig, aber mit ihrem Geschmack letztendlich doch in der Minderheit. 1892 lud eine fortschrittliche Gruppe aus dem Verein Berliner Künstler den Norweger Edvard Munch zu einer Ausstellung in Berlin ein. Er kam und brachte fünfundfünfzig Gemälde mit, denen sich die alte Garde mit pflichtschuldigem Entsetzen näherte. Auf Werners Beschluss hin wurde die Ausstellung vorzeitig geschlossen. Bei Max Liebermann hatten die Konservativen weniger Glück. Obwohl sich der Maler zutiefst mit der deutschen Kultur identifizierte, war er für Kaiser Wilhelm ein rotes Tuch: Kein Künstler sollte das Elend noch schlimmer darstellen, als es ohnedies schon war. Also tat der Kaiser sein Bestes, um Liebermann von offiziellen Ausstellungen auszuschließen, was diesen jedoch nicht daran hindern konnte, in privaten Galerien auszustellen. Schließlich wurde er so populär, dass seine Bilder in die staatliche Gemäldesammlung aufgenommen wurden. 1897 wurde er mit der Großen Goldenen Medaille ausgezeichnet und als Professor an die Königliche Akademie der Künste berufen.27

Den Fall Liebermann hatte der Kaiser also (vorerst) verloren, bei Käthe Kollwitz behielt er jedoch die Oberhand. 1898 empfahl eine Jury, die Malerin, die im Berliner Arbeiterviertel Prenzlauer Berg lebte, für ihre Radierungen, die sie nach dem Hauptmann-Stück über den Weberaufstand angefertigt hatte, mit der Kleinen Goldenen Medaille zu ehren. Eine solche Auszeichnung konnte jedoch nur mit der Zustimmung des Kaisers verliehen werden, und der verweigerte sie prompt. »Ich bitte Sie, meine Herren«, sagte er, »eine Medaille für eine Frau, das geht wirklich zu weit. [...] Orden und Ehrenzeichen gehören an die Brust verdienter Männer.«28

Nach der Munch-Affäre brachte dies das Fass endgültig zum Überlaufen. Noch im selben Jahr gründeten Liebermann und andere Künstler nach den Vorbildern von Wien und München die »Berliner Secession«, mit dem Ziel, ohne jede Einmischung von außen die Kunst ausstellen zu können, die sie dessen für würdig erachteten. Finanziell unterstützt wurden sie von wohlhabenden Sammlern, darunter nicht wenige Juden. Zu ihren wichtigsten Mäzenen wurden die Vettern Bruno und Paul Cassirer, die in der Kantstraße eine bedeutende Galerie für moderne Kunst besaßen und 1899 eigens eine Galerie für die Werke der Berliner Secession eröffneten.29 Die Reaktion des Kaisers kam wie erwartet: Er untersagte allen Soldaten in Uniform, eine Secessionsausstellung zu besuchen, dann verfügte er, dass kein Sezessionist als Juror für die Auswahl von Werken fungieren durfte, die in der staatlichen Gemäldesammlung ausgestellt werden sollten, und setzte sich dafür ein, dass die Secession auch von der Präsentation deutscher Kunst bei der Weltausstellung in St. Louis im Jahr 1904 ausgeschlossen wurde. Als das Kultusministerium schließlich mit dem Olivenzweig wedelte und eine Liebermann-Retrospektive im neuen Gebäude der Königlichen Akademie vorschlug, wollte er auch davon nichts wissen. »›Maler wie Liebermann‹, erklärte er, vergifteten ›die Seele des deutschen Volkes.‹«30 Fairerweise muss man dem Kaiser zugestehen, dass nicht alle Berliner Sezessionisten die Qualitäten eines Max Liebermann, Walter Leistikow und Lovis Corinth besaßen und wie diese die Zeiten überdauert haben.

Die Schlacht zwischen Kaiser und Künstler ging weiter. 1910 verlagerte die fünf Jahre zuvor in Dresden gegründete Expressionistengruppe »Die Brücke« ihren Schwerpunkt nach Berlin, wo ihr Sprachrohr Herwarth Walden dann eine Galerie und eine Zeitschrift namens Der Sturm ins Leben rief, die Herz und Verstand der deutschen Avantgarde in der unmittelbaren Vorkriegszeit wurde.31 Die Brücke-Maler befassten sich sehr viel direkter mit den Themen der Großstadt als die Sezessionisten. Die beiden wichtigsten Vertreter in diesem Zusammenhang waren Ludwig Meidner und Ernst Ludwig Kirchner – beide genau von der Seite Berlins fasziniert, für die der Kaiser keinen Platz in der Kunst sah: Meidner konzentrierte sich auf solche Dinge wie eiserne Hängebrücken, Gasometer und Schnellzuglokomotiven; Kirchner stellte »verunstaltete Figuren« in den Mittelpunkt, die seinen eigenen Worten zufolge die rohen Kräfte repräsentierten, welche er in den Straßen und Kneipen der Stadt am Werke sah. Die von Simmel identifizierte Psychologie der »sogenannten Verzeichnungen« in Kirchners Bildern waren, wie Kirchner selbst erklärte, »instinktiv durch die Ekstase des am meisten Gesehenen« entstanden; eine »statische Darstellung« sei unmöglich, wenn sich das Sujet in stetiger Bewegung befinde und alles »ein Gewimmel aus Licht und Aktion« sei. Die Stadt fordere von ihren Künstlern ein neues Sehen.32 Der Kaiser, das versteht sich, war erzürnt.

Berlins Ruf als ein Ort, der offen war für Neues und für moderne Kunst, war zwar noch alles andere als gefestigt, doch als die Museumsstadt hatte es schon als preußische Metropole gegolten, seit Karl Friedrich Schinkel 1830 auf der kleinen Insel in der Spree, die bald nur noch »Museumsinsel« genannt wurde, das Alte Museum fertiggestellt hatte. August Stülers Neues Museum kam 1855 hinzu, 1876 auch die Neue Nationalgalerie.33 Aber am meisten profitierte die wilhelminische Ära von Wilhelm von Bode, einem der genialsten europäischen Kunstkenner und Sammler, außerdem der Gründungsdirektor des 1904 eröffneten Kaiser-Friedrich-Museums auf der Museumsinsel.34 Er war es, der die beeindruckende Sammlung alter Meister für Berlin zusammentrug, darunter Rembrandts Mann mit dem Goldhelmo und Dürers Hieronymus Holzschuher. Dass er so erfolgreich schalten und walten konnte, lag nicht zuletzt daran, dass sich der Kaiser so vollkommen einig mit Bodes Absichten sah und sich deshalb ausnahmsweise einmal nicht einmischte, vielmehr sogar so weit ging, wohlhabenden Bürgern Adelstitel anzubieten, sofern sie bereit waren, nennenswerte Beträge für die Beschaffung weiterer Kunstwerke für Bodes Museum zu spenden.35

Was die zeitgenössische Kunst betraf, so gab es jedoch nach wie vor die altvertrauten Probleme. So verweigerte der Kaiser zum Beispiel auch Hugo von Tschudi – dem Direktor der Nationalgalerie, der ein ebenso großer Kunstkenner wie Bode und ein Experte auf dem Gebiet der französischen Malerei und Bildhauerei war – das freie Schalten und Walten, das er Bode gewährte. Nach einem Besuch der Nationalgalerie beschwerte sich Wilhelm beim Kultusminister, weil er festgestellt hatte, dass die Gemälde deutscher Künstler »von ihrem bevorzugten Platze beseitigt und durch Bildwerke der modernen Kunstrichtung zum Teil ausländischen Ursprungs ersetzt worden sind«. Er bestand darauf, dass diese wieder ordnungsgemäß gehängt wurden. Doch der Kaiser konnte seine Augen nicht überall haben, und Tschudi fand trotz alledem Mittel und Wege, einige zeitgenössische Meisterwerke zu erwerben, darunter als weltweit erster Museumsdirektor auch Werke von Cezanne (zu einer Zeit, als sich sogar die französischen Kultusbeamten noch weigerten, Bilder dieses Malers für ein staatliches Museum anzukaufen). Als Tschudi etwas später Werke von Eugène Delacroix, Gustave Courbet und Honoré Daumier erstand und der Kaiser diese bei einem Besuch in der Galerie entdeckte, explodierte er: Solches Zeug könne Tschudi vielleicht einem Monarchen ohne jeden Kunstverstand unterjubeln, aber doch nicht ihm. 1908 nahm Tschudi dankbar das Angebot an, als Leiter der königlichen Museen nach München zu übersiedeln.36

 

Auf dem Gebiet der Kunst mochte Kaiser Wilhelm II. einen konservativen, überholten Geschmack gehabt haben, doch auf die Naturwissenschaftler und Techniker, die den Grundstock für den Wohlstand im Deutschen Reiches legten, pflegte er mit großem Stolz zu blicken. Und da er sich selbst für einen Mann der Zukunft hielt, glaubte er auch, dass die Anwendung neuen Wissens der Schlüssel zum Fortschritt sei. Seit der Jahrhundertwende setzte er sich deshalb bei der Berliner Universität dafür ein, auch Abgänger der neuen Realgymnasien – die auf Kosten der altsprachlichen Fächer naturwissenschaftliche lehrten – zum Studium zuzulassen. Man muss wohl sagen, dass diese Aufwertung des Realgymnasiums das Beste war, was dieser so widersprüchliche Kaiser auf kulturell-geistigem Gebiet durchsetzte. Dazu zählte auch, dass er anlässlich des hundertsten Geburtstags der Friedrich-Wilhelms-Universität im Jahr 1910 die Gründung einer neuen, allein den Naturwissenschaften gewidmeten Forschungseinrichtung verkündete – der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Deutschlands Antwort auf das französische Pasteur-Institut und auf die amerikanischen Rockefeller-Institute. Die staatlichen und privatwirtschaftlichen Mittel, die für ihre Finanzierung bereitgestellt wurden, sollten sich in höchstem Maße bezahlt machen.