Oktober 1959, Riekenbüren
»Wenn das große Fest zu Arnes Volljährigkeit steigt«, hatte Robert König gesagt, »sollte alles erledigt sein. Also beeil dich. Linda ist an deinem Sohn interessiert. Und mit einem jungen Mann wie Arne, der soeben eine Enttäuschung erlebt hat, kann man machen, was man will.« Er hatte gegrinst, ein bisschen stolz, ein bisschen sorgenvoll. »Jedenfalls meine Linda.«
Der Einwand, dass Linda und Arne viel zu jung waren, hatte Robert mit einer kurzen Geste zurückgewiesen. »Natürlich soll noch nicht von Hochzeit die Rede sein, nicht einmal von Verlobung. Es reicht, wenn jeder weiß, dass die beiden zusammen sind und vielleicht später ein Paar werden könnten. Also zögere nicht, fahr los. Nicht dass dein Sohn eher in Riekenbüren ankommt als du!«
»Meinst du wirklich …?« Knut hatte die Frage nicht auszusprechen gewagt.
»Möglich ist alles. Und vergiss nicht, vorher in deinem Büro vorbeizufahren …« Robert hatte gegrinst und Knut sofort verstanden, was er meinte …
Er nahm nicht die A1, auf einer Autobahn fühlte er sich nicht wohl. Erst recht mochte er es nicht, wenn an Stammtischen getönt wurde, die wunderbaren Autobahnen habe man Adolf Hitler zu verdanken. Einiges sei im Dritten Reich ja nicht akzeptabel gewesen, aber ohne Hitler hätte man wohl ohne Autobahnen auskommen müssen …
Sein Mercedes-Benz schaffte mit Mühe 100 km/h, und wenn er auf der Autobahn von einem Borgward Isabella oder einem Opel Diplomat überholt wurde, fühlte Knut Augustin sich unterlegen. Ein Gefühl, das er nicht ertragen konnte. Das hatte er auch seinem Sohn schon früh beigebracht: Ein Augustin unterliegt nicht. Das galt in jeder Lebenslage, auch in der Ehe und erst recht in der Liebe. Immer der Stärkste zu sein, das war am leichtesten zu erreichen, wenn man das Geld für ein Auto mit starkem Motor hatte, zum Beispiel ein Roadster. Wenn man im Alter von Knut Augustin war, reichte schon die Erinnerung an diese Möglichkeiten aus.
Es begann zu dämmern, als er nach Riekenbüren hineinfuhr. Mehrmals hatte er nachfragen müssen, einmal einen Bauern auf dem Feld, dann eine alte Frau, die in ihrem Vorgarten Unkraut jätete, und schließlich einen jungen Mann, der von der Arbeit heimkehrte. Zum Dank musste er ihn die letzten Kilometer mitnehmen, nicht gern, aber er brachte es nicht fertig, diese Bitte abzuschlagen. Noch vor dem Ortseingang ließ der Junge sich vor einem kleinen Haus absetzen, hinter dessen Fenster sofort ein neugieriges Gesicht erschien. »Die Schreinerei Wunder ist gleich vorne rechts. Sie ist die einzige im Dorf.«
Er schaute dem Wagen nach, dann zündete er sich eine von diesen Mentholzigaretten an, die neuerdings in Mode waren.
Die Maschinen wurden gerade abgestellt, im selben Moment, in dem die Uhr der kleinen Kirche schlug. Das Kreischen der Säge erstarb, der letzte Hammerschlag war zu hören, ein Hobel machte noch eine Weile weiter, dann war auch er nicht mehr zu hören. Kurz darauf traten die ersten Männer auf die Straße. Einige machten sich zu Fuß auf den Weg, einer schloss die Tür eines Autos auf, zwei, drei junge Kerle schwangen sich auf ihre Mopeds.
Knut Augustin blieb sitzen, bis Ruhe herrschte. Mit der rechten Hand tastete er nach der linken Innentasche seines Jacketts, als könnte ihm während der Fahrt etwas verloren gegangen sein. Gut, dass er immer größere Mengen Bargeld im Tresor seines Büros hatte. Man wusste ja nie.
Schließlich erschien ein Mann an dem großen Tor, schloss es von außen und verriegelte es sorgfältig. Wunder prangte in großen Buchstaben darüber. Nun humpelte er zum Eingang des Wohnhauses. Eins seiner beiden Beine war dünn und schwach, er hatte offensichtlich Kinderlähmung gehabt. Er öffnete die Tür des Wohnhauses, in dem Fenster daneben ging in diesem Augenblick das Licht an. Es war zu erkennen, dass dahinter die Küche lag. Eine Frau bewegte sich hin und her, sie bereitete vermutlich das Abendessen zu.
Knut fühlte sich mit einem Mal schlecht. Wenn das hier wirklich das Elternhaus des Mädchens war, das von seinem Sohn ein Kind erwartete, hatte er sich womöglich in seiner Einstellung geirrt. Alles, was er sah, strahlte Rechtschaffenheit aus. Ein solides Gebäude, ein gut gepflegter Vorplatz, schneeweiße Gardinen vor den Fenstern des Hauses. Trotzdem stieg er entschlossen aus dem Wagen. Alles nur Fassade, redete er sich zu, diese Leute wollten demnächst wohl damit prahlen, dass ihre Tochter dem Sohn eines reichen Mannes den Kopf verdreht hatte. Wahrscheinlich war sie bildschön und von vornherein dazu ausersehen gewesen, mit ihrer Attraktivität dafür zu sorgen, dass das Wirtschaftswunder für die Familie noch ein bisschen schneller greifbar wurde. Das Fräuleinwunder! Beinahe hätte er gelächelt.
Er wäre gerne länger im Auto sitzen geblieben, hätte das Haus und das helle Fenster am liebsten noch länger betrachtet. Ob Arne schneller als sein Vater gewesen war? Ob er bereits hier aufgetaucht war und den Eltern versichert hatte, dass er mit ehrbaren Absichten gekommen war? Knut Augustin schnaufte, weil ihm ein verächtliches Lachen nicht gelingen wollte. Dann würde er diesem Schreiner und seiner Frau klarmachen, dass sie sich zu früh gefreut hatten. Das gemachte Nest, auf das sie für ihre Tochter hofften, würde es nicht geben. Wenn Arne seinen eigenen Weg gehen wollte, dann mit allen Konsequenzen. Das würde er auch seinem Sohn klarmachen. Von den Plänen mit Robert und dessen Tochter würde Knut Augustin sich dann schweren Herzens lossagen, und Arne würde lernen müssen, ohne die Unterstützung seines Vaters zurechtzukommen, wenn er dieses Mädchen partout heiraten wollte. Und wie Knut Augustin sein Testament änderte, würde er schon in den nächsten Tagen mit seinem Anwalt besprechen. Gleich morgen sollte seine Sekretärin einen Termin ausmachen.
Er öffnete entschlossen die Wagentür und stieg aus. Nun war die kurze Verunsicherung vorbei, der er angesichts des heimeligen Lichts in der Küche unterlegen war. Jetzt gab es nur noch Knut Augustin, den erfolgreichen Geschäftsmann. Während er auf das Haus zuging, nahm er einen Geruch wahr, der ihm fremd geworden war, das wurde ihm in diesem Augenblick bewusst. Er kannte ja nur noch die Gerüche der Stadt, die großspurig daherkamen, so, als wäre alles andere nicht mehr zeitgemäß. In Riekenbüren roch es so wie früher bei seiner Großmutter. Er hatte vergessen, wie es gewesen war, wenn der Boden nicht nach einer Asphaltdecke roch, sondern nach Ackerboden, Erdschollen, Pflastersteinen und Pferdeäpfeln. Sie war schwer, diese Luft. Aber nicht, weil sie wie in der Stadt im Laufe des Tages verbraucht worden war, sondern weil sie von Sonne, Wind und Regen, von Stallgeruch, dem Duft frisch geschnittenen Holzes und geräuchertem Fisch gesättigt worden war.
Er klopfte und suchte, als es keine Reaktion gab, nach einem Klingelknopf. Ehe er ihn gefunden hatte, hörte er Schritte, keine gleichmäßigen, sondern humpelnde Schritte, ein kräftiger, ein schwacher Schritt. Der Schreiner selbst kam zur Tür. Als er öffnete, konnte Knut Augustin in seinem Gesicht lesen, was sich in ihm abspielte. Zunächst war da das Konziliante, das ein Handwerksmeister an den Tag legte, der auf einen neuen Kunden hoffte, dann entstand daraus die Erkenntnis, dass ein Mann wie Knut Augustin bei Edward Heflik etwas anderes wollte, und nach einem kurzen Blick auf den Mercedes im Hintergrund kam der Schreck. Edward Heflik begriff augenblicklich, was nun kommen würde.
»Ich bin Arnes Vater.« Vorsichtshalber verzichtete er darauf, seinen Nachnamen zu nennen. »Ich glaube, wir haben ein gemeinsames Problem.«
Edward Heflik nickte wortlos und bat Knut herein. Er führte ihn nicht in die Küche, wo Geschirrklappern zu hören war und aus der ein angenehmer Duft kam. Erbsensuppe.
Edward Heflik öffnete auf der anderen Seite der Diele eine Tür, die in einen kühlen, dämmrigen Raum führte. Die gute Stube, die nur selten benutzt wurde. Das Licht, das er anmachte, schaffte es nicht, dem Raum Gemütlichkeit zu geben. Die Möbel schienen mehrere Generationen alt zu sein. Ein wuchtiger dunkler Schrank, ein viel zu großer und zu hoher Tisch mit einem Brokatläufer darauf, ein dunkelrotes Sofa, das fast hinter dem Tisch verschwand, zwei Sessel, die an seinen schmalen Enden standen, beide im schrägen Winkel zur Tischplatte ausgerichtet und so, dass die Teppichfransen nicht durcheinandergerieten.
Heflik zeigte auf einen unbequemen Sessel, dann rief er durch die offene Tür: »Frida! Komm mal rüber!«
Knut versuchte, Platz zu nehmen, ohne die Ausrichtung des Sessels zu zerstören, aber es gelang ihm nicht. Umständlich setzte er sich und stellte fest, dass der Sessel genauso unbequem war, wie er aussah.
Kurz darauf trat eine unscheinbare Frau in die gute Stube. Sie trocknete sich die Hände an der Schürze ab, sah ängstlich von einem zum anderen und fragte dann: »Soll ich den Likör holen?«
Knut Augustin winkte ab. »Danke. Ich werde nicht lange bleiben.«
Er nahm eine Bewegung am Fenster wahr. So, als versuchte jemand, der draußen stand, ins Zimmer zu spähen. Die Tochter des Hauses? Beinahe hätte er einen Blick zum Fenster geworfen, aber er verbot es sich. Er wollte das Mädchen nicht sehen und sich später nicht an sie erinnern.
Er wartete, bis das Ehepaar Heflik nebeneinander auf dem Sofa Platz genommen hatte, dann fragte er: »Für eine Abtreibung ist es zu spät?«
Frida Heflik zuckte zusammen und begann zu weinen, ihr Mann nickte nur. Knut Augustin griff in die Innentasche seiner Jacke und zählte die Geldscheine auf den Tisch. »Zehntausend Mark. Als Gegenleistung erwarte ich, dass Ihre Tochter das Kind nach der Geburt zur Adoption freigibt und ich nie wieder etwas von ihr höre. Mit diesem Geld kann sie sich eine Zukunft aufbauen. Ohne meinen Sohn! Der wird in ihrem Leben nie wieder vorkommen. Haben Sie mich verstanden?«
Die beiden verstanden ihn augenblicklich. Trotzdem versuchte Frida Heflik es mit Schluchzen, und ihr Mann schien zu überlegen, ob es Sinn hatte, den Preis zu verhandeln. Er schaute den Geldstapel begehrlich an, wagte dann aber nicht, mehr zu verlangen.
Knut Augustin griff in die andere Tasche seiner Jacke. »Ich habe hier eine Adresse. Wenden Sie sich dorthin. Die Unterbringung bin ich auch bereit zu bezahlen.« Er ließ den beiden ein paar Sekunden, dann fragte er: »Wir sind im Geschäft?«
Das Ehepaar sah sich an, er lockte die Zustimmung aus den Augen seiner Frau, sie nickte schließlich ergeben.
Knut Augustin stand auf und ging zur Tür. Ehe Edward Heflik sich hochgestemmt und sein lahmes Bein in Gang gesetzt hatte, war er schon an der Haustür. »Leben Sie wohl«, sagte er, als er hörte, dass die ungleichen Schritte ihn erreicht hatten. Während er zu seinem Auto ging, hörte er, wie die Tür des Hauses sehr leise und behutsam geschlossen wurde.