Juli 1959, Riekenbüren
Hasso stand mit dem NSU Prinz vor dem Bahnhofsvorplatz und wartete auf sie. Als er Brit sah, griff er über den Beifahrersitz und öffnete die Tür für sie. »Na, Kleine? Hattest du eine schöne Zeit?«
Brit ließ sich neben ihn fallen und begann zu weinen. Bis Riekenbüren hatte sie ihrem Bruder alles erzählt.
»Oje!«, sagte er, als sie vor der Schreinerei ankamen. »Ein Hotelpage! Das wird unserem Vater nicht gefallen.«
Riekenbüren schien kleiner geworden zu sein, in nur einer einzigen Woche. Die Straße, die ins Dorf hineinführte, war schmaler, die Kirche niedriger, das Haus der Familie Heflik klein und geduckt. Nur die Schreinerei Wunder war noch breit und ausladend, streckte sich bis zum nächsten Nachbarn.
Frida Heflik empfing ihre Tochter mit einer weichen Umarmung und mit frischem Apfelkuchen. »Du musst unbedingt erzählen, was du erlebt hast.«
Sogar ihr Vater umarmte sie, der sonst Mühe hatte, Gefühle zu zeigen. »Ich hoffe, du hast keine Dummheiten gemacht.«
Dummheiten? Sie hatte die Liebe kennengelernt. Sie liebte! Sie wurde geliebt! Die vielen heimlichen Stunden am Strand spürte sie noch auf ihrer Haut wie Sand, der nicht abgewaschen worden war. Und dann die letzte Nacht auf Sylt, die Nacht in Arnes Bett! Seine Tante hatte nichts gemerkt, Fräulein Brunner dagegen hatte am Morgen am Eingang des Zeltplatzes auf sie gewartet und sich wortlos umgedreht, als Arne sie dort ablieferte. Sie musste herausgefunden haben, dass Brit die Nacht über weggeblieben war. Von den anderen Mädchen hatte niemand etwas mitbekommen. Außer Romy natürlich.
»Respekt«, hatte sie gesagt, als Brit ins Zelt schlüpfte, um sich umzuziehen. »Dass du dich das traust, hätte ich nicht gedacht.«
Aber es war keine wirkliche Anerkennung gewesen, die aus Romys Worten sprach. Es war auch kein Neid gewesen, wie Brit sich zunächst einzureden versuchte, weil ihr einfach keine andere Erklärung einfiel. Genauso wenig war es Romys Sorge gewesen, den Platz an der Spitze der Gleichaltrigen zu verlieren. Vielleicht war es ihre Erkenntnis, dass jemand etwas geschenkt bekam, was nicht gefordert oder erschmeichelt werden musste, die Erkenntnis, dass so die Liebe aussah und dass Romy sie noch nicht gefunden hatte. Vielleicht war sogar die Angst in ihr entstanden, sie niemals finden zu können. Dass sie mit sechzehn Jahren noch viel Zeit hatte, der Liebe auf die Spur zu kommen, besänftigte Romy in diesem Moment womöglich nicht. Vielleicht hatte sie mit der Einsicht zu kämpfen, dass so etwas wie Liebe nicht zu erzwingen, nicht zu ertrotzen war und dass sich das Schicksal nicht erpressen ließ.
Nach der Rückkehr in den Schulalltag nahm Brit gleichmütig zur Kenntnis, dass ihre Noten seit der Fahrt nach Sylt viel besser geworden waren, und stellte fest, dass Fräulein Brunner und Herr Jürgens ihre Leistungen weiterhin erstaunlich großzügig bewerteten. Aber wann immer sie eine Klassenarbeit zurückerhielt, ließ Brit sie in der Tasche verschwinden, nachdem sie nur einen kurzen Blick auf die Note geworfen hatte. Ihre Fehler nahm sie erst in Augenschein, wenn sie allein war. Romy machte es genauso. Mit der Lässigkeit, die Menschen zu eigen ist, die gern so tun, als wäre etwas anderes wichtiger, ohne klarzumachen, was dieses andere war. Bei Brit war es die Ängstlichkeit, die aus einem schlechten Gewissen kam. Aber das stand nicht im Vordergrund. Bestimmt wurde ihr Leben von ihren Gedanken an Arne, von ihren Erinnerungen an Sylt, ihrem Glück, ihrer Liebe, ihren Zukunftsplänen, die noch geheim bleiben mussten. Warum eigentlich?
Das fragte Arne bei jedem Telefonat. »Warum?« Aber Brit hatte das Gefühl, dass ihr Mut auf Sylt geblieben war.
Sie brauchte sich nur das Gesicht ihres Vaters vorzustellen und die Verzweiflung ihrer Mutter, und sie vertröstete Arne damit, erst ihren Schulabschluss abwarten zu wollen. Dann würde sie notfalls ihre Sachen packen und sich auf Sylt, in Arnes Nähe, Arbeit suchen. Jedes Mal, wenn sie das aussprach, entstand ein Kribbeln in ihrer Körpermitte, das wohl eine Mischung zwischen Angst und Entschlossenheit war.
»Du bist noch längst nicht volljährig«, sagte Arne dann jedes Mal. »Wie soll das gehen, wenn deine Eltern es dir nicht erlauben?«
»Immerhin werde ich bald siebzehn«, war dann jedes Mal ihre Antwort gewesen. »Dann müssen meine Eltern einsehen, dass sie mich nicht zwingen können, in Riekenbüren zu bleiben.«
Aber die Wahrheit war, dass sie große Angst hatte, ihre Eltern darum zu bitten, sie gehen zu lassen. Sie wusste, dass sie nicht die Erlaubnis erhalten würde. Sie wusste auch, dass von da an das Leben in Riekenbüren noch eintöniger sein würde. Die Eltern würden noch strenger darauf achten, dass sie im Haus blieb. Und sie würden unerbittlich darauf aufpassen, dass es keinen Kontakt zu dem Hotelpagen auf Sylt gab. Ihre Tochter war schließlich kein Flittchen, das sich in ein paar Tagen erobern ließ. Von einem jungen Mann, der völlig unbekannt war, von dem niemand etwas wusste, dessen Familie niemand kannte, dessen Pläne man nur erahnen konnte. Womöglich ein Faulpelz, der in einen gut gehenden Handwerksbetrieb einheiraten wollte und sich dann auf die faule Haut legte. Nein, Brit brauchte einen Mann, dessen Familie in Riekenbüren bekannt war. Nur so einer kam für sie infrage.
Nichts von dem war bisher ausgesprochen worden. Dennoch war Brit sicher, dass sie all das zu hören bekommen würde, wenn sie das Wagnis einging, ihre Eltern darum zu bitten, Arnes Besuch in Riekenbüren zu gestatten.