19. Kapitel
Hanna baute sich vor ihm auf. „Was Sie eben gesagt haben, war nicht in Ordnung.“
„Ich nehme es zurück.“ Hauke ließ sein Handy sinken.
„Besser so. Ich habe es mir nämlich vor einer Sekunde anders überlegt. Und nur fürs Protokoll: Ihre frechen Bemerkungen sind ganz sicher nicht der Grund, warum ich Sie mitnehme.“ Hanna hielt ihm den Zeigefinger unter die Nase. „Sie dürfen mitkommen, weil Sie mir leid tun und ich Sie mit Ihrem gebrochenen Herzen nicht nach Hause schicken will.“
„Danke.“
„Danken Sie nicht mir, sondern Ihrer Ex. Und deinstallieren Sie endlich diese App, wenn Sie nicht damit umgehen können.“ Hanna zeigte auf das Smartphone in seiner Hand. Auf dem Display leuchtete immer noch das Instagram-Logo. Dann richtete sie ihren Blick auf die andere Seite des Hafenbeckens. „Marten Freese wohnt übrigens dort drüben.“
„Ich wusste, dass Sie ihn noch vernehmen wollten!“, rief Hauke.
Während die beiden Kollegen den Kai entlang liefen, am Restaurant ‚Fratelli‘ vorbei, in Richtung Hafenbrücke, tauschten sie sich über die Möglichkeiten aus, Marten Freese an seiner Meldeadresse anzutreffen. Als sie die Hebebrücke überquerten, auf der Eike Fritzenkötter und seine Freunde die Einfahrt des Ministerpräsidenten in den Binnenhafen verhindert hatten, tauchten im schummrigen Licht der Brückenbeleuchtung plötzlich die Silhouetten zweier Frauen auf. Zwischen ihnen trottete ein gigantischer Hund…
„Mama?“ Wiebkes Stimme schallte ihnen entgegen.
„Hi!“, erwiderte Hanna, als sie sich bis auf wenige Schritte näher gekommen waren. „Husum ist echt lütt.“
„Wo wollt ihr denn so spät noch hin?“ Wiebke grinste und warf Hauke einen taxierenden Blick zu.
„Wir sind noch dienstlich unterwegs“, gab Hanna zurück.
„Dienstlich… Aha!“ Wiebke verdrehte die Augen.
„Und ihr beide?“ Hannas Blick wanderte zu Wiebkes Begleiterin.
„Das ist Fentje.“ Wiebke deutete auf ihre Freundin. „Wir waren noch Gassi…“
„Willst du deiner Mutter nicht von dem widerlichen Typen erzählen?“, unterbrach Fentje sie und verzog das Gesicht.
„Ja, stimmt! Also, Mama, wenn du wüsstest, in was für ein Haus wir da geraten sind…“ Wiebke schüttelte sich.
„Kannst du mir das vielleicht später berichten?“ Hanna hob abwehrend die Hände. „Wir müssen jetzt weiter.“
„Ich verstehe schon.“ Wiebke sah zu Hauke hinab, der innig mit Pommes schmuste. Fentjes Kommentar dazu bestand aus einem Kicheranfall.
„Hallo? Herr Mattes?“ Hanna tippte dem Kollegen auf die Schulter. „Kommen Sie?“
„Sorry!“ Hauke stand auf und nickte. „Von mir aus können wir.“
„Wir sehen uns morgen!“, verabschiedete sich Hanna von ihrer Tochter. „Und geh bitte mit Pommes raus, bevor du dich schlafen legst. Ich würde heute gern mal durchschlafen.“
„Aber klar doch.“ Wiebke zwinkerte ihr zu. „Und euch beiden noch viel Spaß!“
„Wiedersehen!“ Hauke schenkte den jungen Frauen ein unschuldiges Lächeln.
Dann setzten die beiden Kollegen ihren Weg fort und langten kurz darauf an dem alten Speichergebäude südlich des Hafens an. Es handelte sich um einen Klinkerbau mit großen Verladefenstern und Lastenaufzug unter dem Giebel. Rechts davon schlossen sich Appartementhäuser an. Der Hauseingang zeigte auf den südlich gelegenen Parkplatz.
„So wie es aussieht, gibt es hier keinen Klingelknopf“, stellte Hanna fest.
„Und Licht sehe ich auch nirgends.“ Haukes Blick wanderte an der Fassade hinauf. „Was versprechen Sie sich eigentlich von Marten Freese?“
„Mmh… So genau weiß ich es noch nicht.“ Hanna hielt einen Moment inne. „Aber sein Name ist einfach zu oft gefallen.“
„Seine Yacht war die erste, die gebrannt hat…“
„…Und er ist der gut betuchte Liebhaber von Frauke Haack“, setzte Hanna die Aufzählung fort.
„Ich frage mich, warum sie sich nicht einfach von ihrem Mann getrennt hat. Finanzielle Not hat sie ja mit Marten Freese wohl kaum zu befürchten.“
„Einfach so verlassen wohl die wenigsten ihre Partner…“, widersprach Hanna. Für eine Sekunde hielten ihre Gedanken bei ihrer eigenen Scheidung inne. Wie lange hatten sie und ihr Ex-Mann damals mit sich gerungen, bis sie den so nötigen Schritt endlich gegangen waren? „Trennungen brauchen Zeit. Und meistens auch Mut. Außerdem wirkte Frauke auf mich so, als würde sie sehr an ihrem Mann hängen. Trotz allem.“
Die Blicke der beiden begegneten sich und Hanna sah in Haukes Augen, dass er verstand, wovon sie sprach.
Plötzlich drang ein Motorengeräusch zu ihnen herüber.
„Vielleicht ist er das ja.“ Hanna spähte in Richtung Parkplatz. Dort schlug jemand eine Autotür zu.
„Ich glaube, wir haben Glück“, erwiderte Hauke, als zwischen den parkenden Autos ein Kopf auftauchte. Es war Freese. Doch er schien nicht nach Hause zu wollen.
„Wohin geht er?“, fragte Hanna mit gesenkter Stimme.
Die beiden beobachteten, wie Freese nach rechts abbog. Dann folgten sie ihm wortlos, bis sie an der Fußgängerbrücke anlangten, die über den Binnenhafen führte.
„Wir warten, bis er auf der anderen Seite ist.“ Hanna spähte nach Freese, der zügig die Brücke überquerte. „Wenn wir merken, dass er einfach nur spazieren geht, sprechen wir ihn an. Ansonsten schauen wir, wo er hinwill.“
Kaum hatte Freese die Brücke verlassen, passierte er den Speicher und nahm eine schmale Gasse in Richtung Norden. Von dort aus ging es immer weiter geradeaus, vom Hafengang in den Fischergang und einige Minuten später in den Totengang…
Plötzlich stoppte Freese, blickte sich um und trat in ein Gebüsch, das direkt gegenüber von Hannas Wohnhaus lag.
„Was macht er da?“, erkundigte sich Hauke. „Das ist doch ein Spielplatz.“
„Kommen Sie! Er hat zwei Eingänge.“ Hanna zupfte am Ärmel des Kollegen.
Sie bogen in einen schmalen Weg ein, der links und rechts von Bäumen und Sträuchern gesäumt war. Nach einigen Metern tat sich eine Lücke auf und sie standen vor einem hüfthohen Gitter. Zwischen den Spielgeräten erblickten sie die Umrisse eines Mannes.
„Das muss er sein“, zischte Hauke.
„Es sieht ganz so aus, als versucht er, in das Zimmer meiner Tochter zu schauen. Ich fasse es ja nicht!“ Hanna fischte ihr Smartphone aus der Tasche. „Ich glaube, es wird Zeit, die Kollegen zu alarmieren.“
„Nein! Warten Sie! Jetzt läuft er los!“ Hauke stieß Hanna seinen Ellenbogen sanft in die Seite.
„Was zum Teufel hat er vor?“ Als Hanna sah, dass Freese sich im Laufschritt zum Eingang ihres Hauses begab, ließ sie jede Vorsicht fahren und lief quer über den Spielplatz hinter ihm her. Im fahlen Licht der Laterne erkannte sie, wie Freese ein großes Schlüsselbund aus der Tasche zog, die Tür aufschloss und in demselben Wohnhaus verschwand, in dem sie seit ein paar Tagen auch wohnte. Kurz darauf sprang im Erdgeschoss ein Licht an.
„Das ist die Wohnung von Andersens Vater.“ Hauke zeigte auf das beleuchtete Fenster.
„Woher wissen Sie das?“ Hanna hielt auf dem Treppenabsatz inne.
„Ich habe ihn mal aus dem ‚Hafenkrug‘ nach Hause begleitet, als es ihm nicht so gut ging. Vielleicht besucht der Freese ja den alten Andersen…“
„Um diese Zeit wohl kaum.“ Hanna blickte nach oben. In Wiebkes Fenster war plötzlich das Licht erloschen. „Ich will jedenfalls erst einmal nach meiner Tochter sehen.“
„Okay.“
„Warten Sie bitte hier.“
Hanna eilte die Treppen ins Obergeschoss hoch und schloss die Wohnung auf. Sofort stellte sie fest, dass alles dunkel war. Ungewöhnlich für Wiebke. Sie nahm das Licht an ihrem Smartphone zu Hilfe und suchte den Lichtschalter im Flur. Doch er war tot.
„Wiebke?“, rief sie in die düstere Wohnung hinein und lauschte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. In zwei Schritten war sie am Bad und versuchte es dort. Auch da blieb das Licht aus. Eine durchgebrannte Sicherung, schoss es ihr durch den Kopf. Sie drehte sich um, ging zurück zur Tür und leuchtete die Wand ab. Hier irgendwo musste der Sicherungskasten sein. Plötzlich verspürte sie einen Stoß gegen die Kniekehle.
„Was ist das?“ Dann hörte sie sein Hecheln. „Pommes! Na, mein Kleiner? Wo hast du denn dein Frauchen gelassen?“
Nachdem der Hund sich die speicheltriefende Schnauze an ihren Hosen abgeputzt hatte, drehte er sich umständlich um die eigene Achse und trottete zurück in Wiebkes Zimmer. Hanna folgte der Dogge. Und wäre fast mit ihrer Tochter zusammengestoßen…
„Hast du mich erschreckt!“ Wiebke sah sie aus aufgerissenen Augen an. Auf ihren Ohren saßen ein paar überdimensionierte Kopfhörer.
„Was ist mit dem Licht los?“, erkundigte sich Hanna.
„Das wollte ich dich auch gerade fragen.“ Wiebke zog sich die Kopfhörer von den Ohren. „Eben war es noch da.“
„Hast du irgendetwas mitbekommen? Hat jemand geklingelt oder so?“
„Als ich nach Hause gekommen bin, habe ich meine Serie angemacht. Danach habe ich nichts mehr mitbekommen.“ Wiebke runzelte die Stirn. „Wieso?“
„Dann muss es doch eine Sicherung sein.“ Hanna ging wieder zur Wohnungstür und entdeckte daneben den Sicherungskasten, zur Hälfte von einem Regal verdeckt. Sie öffnete die Klappe und leuchtete hinein. „Merkwürdig. Hier sind alle Schalter oben.“
„Ich gucke mal weiter, ja?“ Wiebke setzte sich ihre Kopfhörer wieder auf. „Schau doch mal im Keller nach.“
„Eigentlich hatte ich etwas ganz anderes vor.“ Hanna dachte an den Kollegen, der unten vor der Tür stand. Und an Freese, der in irgendeiner der Wohnungen dieses Hauses verschwunden sein musste. „Ich bin gleich wieder da.“
Dann eilte sie hinab ins Kellergeschoss, wo sie eine offene Tür vorfand. Dahinter lag ein Raum mit einer weiteren Tür und einem Sicherungskasten. Der Sicherungsschalter für ihre Wohnung war tatsächlich nach unten gekippt. Hanna schaltete die Sicherung wieder ein, als sie plötzlich ein Geräusch vernahm.
„Hallo?“, rief Hanna.
Schritte hallten durch den Keller, dann ertönte das Quietschen eines Scharniers. Sie riss die Tür neben den Sicherungen auf und tastete nach einem Lichtschalter. Da sie keinen fand, nahm sie ihr Handy zu Hilfe. Vor ihr lag ein schlauchförmiger Raum, von dem mehrere Türen abgingen und an dessen Wänden sich Gerümpel stapelte. Hanna tastete sich langsam vor. Auf halber Strecke ertönte ein Knall. Instinktiv eilte sie zu dem Eingang zurück, durch den sie gekommen war. Doch der war jetzt verriegelt. Von draußen drang Schlüsselklappern.
„Hey! Aufmachen! Polizei!“ Hanna hämmerte gegen die stählerne Tür.
„Ha! Der war gut! Da kann ja jeder kommen“, erwiderte eine männliche Stimme. Dann entfernten sich Schritte.
„Hilfe! Lassen Sie mich raus, Freese! Ich weiß, wer Sie sind!“
Doch eine Antwort blieb aus. Stattdessen hallte erneut ein Knall durch den Keller. Das musste die Tür zum Treppenhaus gewesen sein, dachte Hanna. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und sah, dass sie keinen Empfang hatte. Was würde Hauke unternehmen? War er in Gefahr? Und was versprach sich dieser Freese überhaupt davon, wenn er Hanna hier einsperrte?
Sie begann, die Kisten mit dem Licht ihres Smartphones abzuleuchten. Vielleicht fand sich ja etwas, mit dem sie die Tür aufbekam. Sie öffnete den ersten Karton. Ein leicht modriger Geruch stieg ihr in die Nase. Staubpartikel tanzten im Licht ihrer Lampe und färbten ihre Finger schwarz. Ihr Blick fiel auf altes Geschirr, mit vergilbten Postkarten gefüllte Zigarrenschachteln, eine Wanduhr, Wimpel, Bücher. Aber keinerlei Werkzeug. Im zweiten sah es ähnlich aus. Bücher, Bilderrahmen, ein paar alte Schachfiguren. Plötzlich verspürte sie einen Luftzug im Haar. Sie leuchtete die Wand vor ihr ab und entdeckte ein schmales Fenster, das zum Gehweg führen musste. Dann stieg sie über Teile einer zerlegten Schrankwand und schaffte sich eine Erhöhung, indem sie ein Nachttischchen auf eine alte Seemannstruhe stapelte. Behutsam kletterte sie auf ihre wackelige Konstruktion und stemmte die Hand gegen die Wand, um etwas Halt zu bekommen. Langsam streckte sie den Kopf zur Luke hin und spähte hindurch. Das Fenster führte jedoch nicht direkt nach draußen, sondern zeigte in einen Lichtschacht, der an der Oberseite mit einem Gitter abschloss. Von irgendwoher drangen Stimmen zu ihr.
„Hey! Hilfe! Ich bin hier unten im Keller!“ Sie hielt die Luft an. Hatte sie jemand gehört? Sie versuchte es erneut: „Hallo! Hilfe!“
Eine Reaktion blieb aus. Ihre Muskeln in Armen und Beinen machten sich bemerkbar. Lange würde sie sich nicht mehr halten können. Sie lauschte wieder, doch die Stimmen schienen verstummt zu sein. Hanna wollte gerade von ihrem kleinen Turm herunterklettern, als sie Hundegebell vernahm. Das war Pommes.
„Wiebke? Pommes? Hilfe! Hallo!“
Diesmal erhielt sie eine Antwort. Wiebkes Stimme drang deutlich zu ihr. „Mama? Bist du es? Wo steckst du?“
„Ich bin hier unten! Im Keller. Ich wurde eingesperrt!“
Daraufhin ertönten die Stimmen mehrerer Personen. Sie redeten durcheinander. Unter ihnen mussten auch Wiebke und Hauke sein. Hauke richtete sich direkt an Hanna. Seine Stimme drang durch das Oberlicht zu ihr herunter. „Frau Diercksen? Alles in Ordnung?“
„Sagen Sie Freese, er soll mich rauslassen“, rief Hanna.
„Er weigert sich.“
„Haben Sie Ihren Dienstausweis nicht dabei?“
„Er glaubt, der sei gefälscht.“ Haukes erregter Atem drang bis zu ihr herunter. „Er sagt, er kennt die Kripo Husum ganz genau. Da gäbe es weder einen Mattes noch eine Diercksen.“
„Dann rufen Sie eine Streife!“
„Habe ich schon. Die müssten gleich hier sein“, antwortete Hauke.
„Ich regle das, Mama!“ Das war die Stimme ihrer Tochter. „Pommes hilft mir.“
„Nein, lass das!“, rief Hanna. Im selben Moment rutschte ihr Fuß ab und sie stürzte rücklings in einen Stapel alter Bananenkisten. Irgendwo fiel ein schweres Möbelstück um, Glas splitterte, der aufgewirbelte Staub drang ihr in jede Pore. Hustend, niesend und mit vernebelter Sicht kroch sie unter dem Gerümpel hindurch. Dann bekam sie mit, wie sich die Kellertür öffnete. Kurz darauf begrüßte sie Pommes’ feuchter Atem. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Hallo, mein Guter! Hätte nicht gedacht, dass ich mich mal freuen würde, dich zu sehen.“
„Ist dir was passiert, Mama?“ Das war Wiebkes Stimme. Sie stand in der Kellertür.
„Wo ist Freese?“ Hanna erhob sich und klopfte sich den Staub von den Klamotten.
„Du blutest ja!“, rief Wiebke und reichte ihr ein Taschentuch.
„Danke.“ Hanna tupfte sich die Wange ab. Es schien nur ein Kratzer zu sein.
„Frau Diercksen!“ Hauke war jetzt auch in den Keller gekommen. „Wie geht es Ihnen?“
„Sagen Sie mir nicht, Sie haben Freese da oben allein gelassen“, fuhr Hanna den Kollegen an.
„Keine Sorge!“, beschwichtigte Hauke sie. „Der Mann verschwindet ganz sicher nicht.“
„Dem gehört doch das Haus hier“, sagte Wiebke, drehte sich um und trat den Weg nach oben an.
„Ich verstehe gar nichts mehr.“ Hanna schüttelte den Kopf und folgte den beiden.
*
Als die drei auf dem Gehweg vor dem Haus angelangt waren, konnte Hanna beobachten, wie Freese wild gestikulierend auf die gerade eintreffenden Polizisten zulief.
„Er hält Sie für eine Einbrecherin.“ Hauke neigte den Kopf zur Seite. „Ob Sie es glauben oder nicht.“
„Herr Erichsen!“ Freese griff nach dem Unterarm des Uniformierten und deutete mit der anderen Hand auf Hanna, Hauke und Wiebke. „Die sind bei mir im Keller eingebrochen und haben mir den Schlüssel abgepresst. Außerdem hat mir die junge Frau mit ihrem Hund gedroht.“
„Aha…“ Erichsen blickte verwundert auf die Kollegen. „Moin, Herr Mattes! Was machen Sie denn hier?“
„Ich bin mit Hauptkommissarin Hanna Diercksen unterwegs.“ Der Stolz in Haukes Stimme war kaum zu überhören.
„Moin!“ Hanna schüttelte dem Hauptmeister die Hand. Dann zeigte sie ihm ihren Dienstausweis. „Ich bin erst seit gestern im Dienst.“
„Wir sind uns gestern kurz im Revier begegnet, wenn ich mich nicht täusche.“ Erichsen lächelte hintergründig. „Was ist denn hier vorgefallen?“
„Herr Freese hat sie für eine Einbrecherin gehalten und im Keller eingesperrt.“ Hauke zeigte auf Hanna.
„Das verstehe ich nicht.“ Erichsen verzog das Gesicht.
„Wir sind eigentlich hier, um Herrn Freese zu vernehmen.“ Hanna warf einen Blick zu Freese, der sich etwas abseits mit dem anderen Streifenpolizisten unterhielt, als würden die beiden sich schon seit Ewigkeiten kennen. „Uns war nicht klar, dass er dieses Haus hier verwaltet.“
„Er verwaltet das Haus nicht, sondern er besitzt es.“ Erichsen sah auf die Uhr. „Es ist jetzt kurz nach zehn. Was sollen wir machen?“
„Das wird sich gleich zeigen.“ Hanna winkte Freese heran. „Kommen Sie bitte mal, Herr Freese?“
Freese näherte sich ihnen, wobei er irgendetwas von „verschwendeten Steuergeldern“ murmelte und ein mürrisches Gesicht aufsetzte. Mit einem Lächeln hielt Hanna ihm ihren Dienstausweis unter die Nase. „Kripo Husum. Nur, dass keine Missverständnisse aufkommen.“
„Was wollen Sie von mir?“ Freeses Augen verengten sich.
„Das erkläre ich Ihnen gleich. Steigen Sie bitte ein.“ Hanna öffnete ihm die Beifahrertür des Polizeiwagens. Freese leistete ihrer Aufforderung kopfschüttelnd Folge. Anschließend gab Hanna Hauke ein Zeichen und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Der Kollege stieg hinten zu.
„Sie sind also mein Vermieter, ja?“, eröffnete Hanna das Gespräch.
„Nein, ich bin der Hauseigentümer. Mit der Vermietung habe ich momentan nichts zu tun. Aber das wird sich demnächst wieder ändern müssen.“
„Und warum stellen Sie den Bewohnern Ihres Hauses nachts den Strom ab?“, fragte Hanna weiter.
„Wenn sie sich so benehmen, wie Sie und Ihre Tochter, dann geht das ganz schnell.“ Freese musterte die Hauptkommissarin. „Ich habe bereits Erfahrung mit Problemmietern. Bei denen fackle ich gar nicht lange.“
„Keine Sorge, meine Tochter und ich wohnen sicher bald woanders. Aber darum soll es jetzt eigentlich gar nicht gehen…“
„Das sagen Sie so einfach!“, protestierte Freese. „Sie haben ein nicht genehmigtes Haustier mit in die Wohnung gebracht.“
„Das war nicht so geplant…“
„Da muss ich aber lachen!“, unterbrach Freese sie und blickte nach hinten, als ob er sich Zustimmung von Hauke erhoffte. „Sie sind eine Kommissarin und kommen mir mit solchen Ausreden?“
„Sie oder Ihre Hausverwaltung hätten ja ganz normal Kontakt zu mir aufnehmen können. Aber offenbar ziehen Sie es vor, die Dinge auf Ihre eigene Art zu regeln.“
„Ich habe heute Nachmittag bei Ihnen geklingelt.“ Freeses Kopf lief rot an. „Wenn Sie wüssten, wie Ihre verzogene Tochter mich da behandelt hat. Das ist mir wirklich noch nie passiert.“
„Wenn das stimmt, dann entschuldige ich mich natürlich dafür“, antwortete Hanna. „Aber war das wirklich ein Grund, mich im Keller einzuschließen?“
„In meinen Häusern hat es in der letzten Zeit mehrere Kellereinbrüche gegeben“, parierte Freese den Vorwurf. „Ich wollte Sie lediglich festhalten, bis die Polizei da ist.“
„Oder vielleicht auch die ganze Nacht über“, erwiderte Hauke. „Das haben Sie ja vorhin auch angedeutet.“
„Genug davon!“ Hanna zog ihren Notizblock hervor und begann darin zu blättern. „Ich würde jetzt gern zu meinen Fragen kommen.“
„Nun fangen Sie schon an!“, sagte Freese und schickte ein Brummen hinterher. „Ich habe auch nicht die ganze Nacht Zeit.“
„Vermissen Sie eine grüne Segeljacke?“ Hannas Eröffnungsfrage schien Freese überrascht zu haben.
„Ja… Ähm… Ich besitze mehrere Jacken.“ Freese stammelte. „Wieso?“
„Mmh… Interessant.“ Hanna notierte sich etwas. „Würden Sie mir vielleicht verraten, in welcher Beziehung Sie zu Abbo Haack stehen?“
„Er ist ein guter Freund und Geschäftspartner von mir.“ Freese runzelte die Stirn. „Wieso?“
„Aha…“ Hanna ließ einen Moment verstreichen, ehe sie antwortete. „Dann tut es mir leid, Ihnen diese Nachricht überbringen zu müssen. Aber er ist tot.“
„Was?“ Freese griff sich mit der Hand an den Kopf. „Wie soll das passiert sein? Ist er etwa der Tote vom Hafen? Weiß Frauke es schon?“
„Da wir noch mitten in den Ermittlungen stecken, kann ich dazu leider nichts sagen“, erklärte Hanna.
„Was wollen Sie dann noch von mir?“ Freese errötete. Ein Schweißtropfen lief ihm an der Schläfe herunter.
„Wenn Sie ein guter Freund von ihm gewesen sind, dann wissen Sie sicher auch über seine Zukunftspläne Bescheid, oder?“ Hanna musterte ihn. Keine seiner Regungen schien ihr zu entgehen.
„Schöne Pläne waren das! Ich habe ihm von Anfang an davon abgeraten, als Schiffseigner nach Eckernförde zu gehen. Aber er ließ sich nicht davon abbringen. Ich glaube, er wollte irgendwen beeindrucken.“ Freese schüttelte den Kopf.
„Warum haben Sie ihm davon abgeraten?“, hakte Hanna nach.
„Ähm …“ Freese räusperte sich. „Ich wollte einfach nicht, dass er Husum verlässt. Er ist… Er war ein guter Freund. Außerdem hatte er ja gar nicht das Geld für ein solches Unterfangen.“
„Offensichtlich schon…“
„Keine Ahnung, woher.“ Freese hielt kurz inne. „Aber am Ende habe ich ja doch recht behalten. Die Sache hat nicht funktioniert.“
„Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Aber erklären Sie es mir trotzdem noch einmal“, forderte Hanna ihn auf.
„Nachdem er den Kutter preisgünstig von seinem Bruder Tamme bekommen hatte, erließ die Europäische Fischereikommission ein Fangverbot für Ostseehering.“ Freese nickte. „So war aus dem Kutter ein Minusgeschäft geworden. Sie müssen bedenken, dass Abbo ja nicht nur das Schiff selbst übernommen hatte, sondern auch die Netze, die erforderlichen Lizenzen, den Liegeplatz in Eckernförde, eine eigene Kühlanlage… Sogar die Arbeitsverträge von Tammes Personal waren mit inbegriffen.“
„Hätte er nicht einfach auf einen anderen Fisch gehen können?“ Hauke steckte seinen Kopf zwischen den beiden Vordersitzen hervor. „Sprotten oder so?“
„So einfach ist das nicht. Tammes Fangbetrieb war auf Hering als Zielfisch ausgerichtet“, erwiderte Freese. „Abbo hätte noch eine hohe Summe oben drauf packen müssen, um auf einen anderen Fisch umzurüsten.“
„Die Fangquoten haben ihn also ruiniert“, stellte Hanna fest.
„Tja, so ist es.“ Freese zog die Augenbrauen hoch. „Genau dasselbe hat Abbo auch mehrmals gesagt.“
„Noch eine Frage.“ Hanna tippte auf ihrem Notizbüchlein herum. „Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Abbos Frau bezeichnen?“
„Ähm…Gut.“
„Die Leute, die man so fragt, sagen das auch“, fuhr Hanna fort. „Manche sagen sogar, sehr gut .“
„Was sollen diese Anspielungen denn jetzt?“ Freeses Stimme klang giftig. „Hat das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun?“
„Sie geben also zu, dass Sie eine Affäre mit Frauke Haack haben?“, fragte Hanna weiter.
„Ähm… Na ja… Mit wem haben Sie denn schon alles gesprochen?“ Freese hüstelte.
„Eifersucht ist ein klassisches Mordmotiv“, schob Hauke ein.
„Reden Sie keinen Unsinn!“ Freese drehte sich zu Hauke herum. „Ich kann dieses Gespräch auch ganz schnell beenden.“
„Aber gehen dürfen Sie trotzdem erst dann, wenn wir es sagen“, stellte Hanna klar.
„Also, gut. Die Gerüchte stimmen.“ Freese schloss kurz die Augen, bevor er weitersprach. „Frauke und ich sind schon länger ein Paar. Deshalb habe ich Abbo auch das Geld für den Kutter geliehen. Ich wollte, dass er in Eckernförde glücklich wird. Aber ohne Frauke.“
„Eben haben Sie aber etwas anderes gesagt.“ Hauke hielt Freese den Zeigefinger hin.
„Seien Sie bitte still, Herr Mattes!“ Hanna schob Haukes Hand wieder nach hinten und wandte sich an Freese. „Erzählen Sie weiter, Herr Freese! Was meinen Sie mit ohne Frauke ?“
„Frauke sagte immer, dass Sie bereit wäre, Abbo zu verlassen, wenn ich ihm das Startkapital für ein eigenes Geschäft gäbe. Das war unsere Abmachung.“
„Abmachung?“ Hanna sah aus den Augenwinkeln zu Hauke, der leicht nach vorn gebeugt dem Gespräch folgte.
„So kann man es nennen.“ Freese räusperte sich. Dann griff er sich ans Kinn, als müsste er genau überlegen, was er jetzt sagte. „Ich weiß, das klingt etwas merkwürdig.“
„Als ich bei Frauke Haack war, erzählte sie mir, sie und ihr Mann würden nach Eckernförde ziehen“, fuhr Hanna fort. „Sie hatte also offensichtlich nicht vor, sich an Ihre Abmachung zu halten.“
„Nein… Ähm… Doch…“ Freese blickte nervös von Hanna nach hinten zu Hauke. „Sie wollte ihm erst im letzten Moment sagen, dass sie in Husum bleibt.“
„Und was hätten Sie gemacht, wenn Frauke Haack am Ende doch mit Ihrem Mann nach Eckernförde gegangen wäre?“, bohrte Hanna weiter.
„Ich hätte natürlich versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen.“
„Und wie weit wären Sie bei dieser Überzeugungsarbeit gegangen?“ Hanna musterte Freese.
„Sie schauen mich schon wieder so an.“ Freese legte die Hand an den Türgriff. „Das mag ich nicht.“
„Und ich weiß nicht so recht, was ich Ihnen eigentlich glauben kann.“ Hanna klopfte mit ihrem Notizbüchlein gegen das Lenkrad. „Haben Sie Haack nun Geld geliehen oder nicht? Und was für eine Abmachung hatten Sie mit der Frau des Toten?“
„Ich kann es Ihnen gerne noch einmal erklären, wenn Sie wollen.“ Freese öffnete die Beifahrertür. „Aber nicht mehr heute. Ich bin seit fünf Uhr morgens auf den Beinen. Außerdem muss ich erst einmal die Nachricht von Abbos Tod verarbeiten.“
„Warten Sie!“ Hanna sah Freese mit einem durchdringenden Blick an. „Ich bin noch nicht fertig.“
„Was wollen Sie denn noch?“, blaffte Freese zurück.
„Ich will jetzt von Ihnen wissen, wo Sie sich vorgestern Nacht befunden haben.“
„Was soll diese Frage?“ Freese runzelte die Stirn. „Glauben Sie, ich hätte etwas mit den abgebrannten Booten zu tun? Oder sogar mit Abbos Tod?“
„Es gibt eine Videoaufnahme von der zweiten Brandnacht, die Sie am Kutterhafen zeigt“, sagte Hanna.
„Ich wollte mich von meiner Yacht verabschieden, die am Tag zuvor abgefackelt worden war.“
„Aber Ihre Yacht befand sich zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Gelände der Wasserschutzpolizei.“
„Mag sein. Aber das wusste ich nicht, als ich dort war.“ Freese machte Anstalten auszusteigen. „So! Und jetzt würde ich gerne gehen. Den Rest können Sie mit meinem Anwalt besprechen.“
„Sie gehen nirgendwohin!“ Hanna sprang aus dem Wagen und begab sich zur Beifahrerseite, die Handschellen schon in der Hand. „Aussteigen und Hände über den Kopf!“
„Sie wollen mich wirklich verhaften?“ Freese wandte sich an den Polizeihauptmeister. „Herr Erichsen, sagen Sie doch was!“
„Herr Erichsen wird Ihnen auch nicht helfen können.“ Hanna ließ die Handschellen klicken.
„Lassen Sie mich noch ein paar Sachen von zuhause holen“, bat Freese.
„Damit Sie schön Spuren beseitigen können, was?“ Hauke grinste den Verdächtigen an. „Das können Sie vergessen.“
„Ich will mit meinem Anwalt sprechen!“, protestierte Freese. „Mir steht ein Telefonat zu.“
„Das dürfen Sie, sobald Sie auf dem Revier sind“, sagte Hanna.
„Sagen Sie mir wenigstens, weshalb Sie mich festnehmen.“ Freese sah sie mit großen Augen an. „Wegen Mordes?“
„Das auch.“ Hanna ließ die Handschellen klicken. „Dazu kommt versuchte Freiheitsberaubung.“
„Sie ticken ja nicht mehr richtig!“, rief Freese. „Das hat ein Nachspiel.“
„Gute Fahrt!“ Hauke griff lächelnd nach Freeses Arm und drückte ihn auf die Rücksitzbank.
„Einmal aufs Revier und in die Arrestzelle, bitte!“ Hanna wandte sich an die beiden Kollegen der Schutzpolizei. „Morgen früh komme ich dann mit einem Haftbefehl vorbei.“
„Wie Sie meinen, Frau Diercksen“, antwortete Erichsen schulterzuckend.
„Wiedersehen! Und eine ruhige Schicht noch!“ Hauke nickte dem Kollegen zu.
„Ebenso.“ Erichsen startete den Motor.
Kurz darauf verschwand der Streifenwagen an der nächsten Ecke.
*
„Danke, dass Sie dabei waren.“ Hanna streckte Hauke die Hand hin. „Jetzt ist aber endlich Feierabend!“
„Ähm… Würden Sie mich noch auf einen Schluck Wasser einladen?“, gab Hauke zurück. „Die ganze Sache hat mich echt durstig gemacht.“
„Na los!“ Hanna nickte und betrat den Hausflur zuerst. Als sie an der Wohnungstür des alten Andersen vorüberkamen, beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. Sie war sich sicher, dass er Freeses Verhaftung von Anfang bis Ende mitbekommen hatte. Oben angelangt, stellten sie fest, dass Wiebke die Wohnungstür offen gelassen hatte. Pommes nahm sie mit heftigem Schwanzwedeln in Empfang.
„Na, mein Guter! Das hast du toll gemacht!“ Hauke schien seinen Durst schon wieder vergessen zu haben und widmete sich erst einmal dem Hund. „Und dein großes Frauchen mag dich jetzt auch.“
Als Hanna das hörte, glitt ein Lächeln über ihre Lippen. Recht hatte er jedenfalls… Hanna tätschelte dem Hund den Rücken und ging an Wiebkes Zimmer vorbei in die Küche. Im Gegensatz zu Hanna war ihre Tochter mit der Gabe eines tiefen Schlafes gesegnet. Das Schnarchen war nicht zu überhören. Hanna löschte das Licht, schloss die Tür, holte das Wasser und kehrte in den Korridor zurück, in dem Hauke noch immer die Dogge liebkoste.
„Sie sind ja ein richtiger Pommes-Fan.“ Hanna streckte dem knienden Kollegen das Glas entgegen.
„Danke.“ Hauke nahm einen winzigen Schluck, ohne von Pommes abzulassen. Dabei sah er sie von unten an. „Ich liebe Tiere über alles.“
„Außer einer Packkiste kann ich Ihnen leider keinen richtigen Sitzplatz anbieten. Die Stühle stehen bei Wiebke im Zimmer und die will ich jetzt nicht mehr wecken.“
„Was ist das für ein Zimmer?“ Hauke zeigte in ihr offenstehendes Schlafzimmer und kam aus der Hocke hoch.
„Mein Schlafzimmer.“ Hanna konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Aber da steht nur mein Bett und in dem empfange ich normalerweise keine Gäste.“
„Normalerweise?“ Ein freches Grinsen zeigte sich auf Haukes Gesicht. In den Bartstoppeln über seiner Oberlippe hingen ein paar winzige Wassertropfen.
„Nun übertreiben Sie es nicht, Herr Mattes. Und trinken Sie endlich Ihr Wasser!“ Sie deutete auf das volle Glas in seiner Hand. „Ich bin echt müde.“
Hannas deutliche Ansage verfehlte ihre Wirkung nicht. Hauke kippte sich gehorsam das Wasser hinter und verabschiedete sich.
Kurz darauf lag Hanna im Bett.
20. Kapitel
Wie schon am Morgen davor weckte Pommes sie mit einen dickem Schmatzer auf die Stirn.
„Na, du Süßer!“ Hanna tätschelte den gewaltigen Kopf des Hundes. „Kommst du jetzt jeden Morgen zu mir?“
Dann griff sie nach ihrem Telefon. Es ging gegen fünf. Und sie wusste, was anstand. Schlafwandlerisch zog sie sich Jeans und Pulli über, schlüpfte in ihre Sneaker und griff nach der Rolle mit den kleinen schwarzen Beuteln. Diesmal wollte sie sich nichts zu Schulden kommen lassen.
Als sie kurze Zeit später auf der Straße stand, wagte sie einen Blick zum Fenster des alten Andersen. Und siehe da! Die Gardine bewegte sich. Doch die wahnhafte Neugierde des alten Mannes beschäftigte sie nicht allzu lange und ihre Gedanken kreisten bald wieder um den Mordfall. War Freese tatsächlich der Täter? Hatte er den Mann seiner Geliebten erschlagen und dann ein Feuer gelegt, um seine Spuren zu verwischen? Hatte er die Tat vielleicht besser geplant, als Hanna es vermutete, indem er seine eigene Yacht in Brand gesetzt hatte, um die Ermittlungen schon von vorneherein in eine andere Richtung zu lenken? Langsam trottete sie den Totengang hinunter in Richtung Hafen. Irgendwann stellte sie fest, dass Pommes sein Geschäft immer noch nicht verrichtet hatte, obwohl sie schon eine geraume Zeit unterwegs waren.
„Nun, reicht es aber, Pommes!“, schimpfte Hanna. „Wenn du jetzt nicht endlich deinen Haufen machst, musst du eben bis morgen früh warten.“
Plötzlich vernahm sie lautes Gelächter. Und eine Stimme, die ihr bekannt vorkam… Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Ihr Blick suchte die Straße ab. Als sie niemanden sah, ging sie ein paar Schritte bis zur nächsten Querstraße. Dort standen zwei Männer und urinierten kichernd gegen einen Transporter. Es waren Tamme Haack und Jasper Willenborg.
„Wo steckt eigentlich deine Brille?“, fragte Willenborg seinen Begleiter, als sie fertig waren.
„Schietdreck!“ Tamme raufte sich in einer übertriebenen Geste die Haare. Er lallte leicht. „Die muss noch in der Kneipe liegen.“
„Du kannst sie ja morgen holen“, erwiderte Jasper. Dann drehten sich beide Männer in Hannas Richtung.
„Ups! Moin!“ Jasper zeigte auf den Hund. „Beißt der?“
„Der ist ganz friedlich. Keine Sorge.“ Hanna näherte sich den beiden. „Und Sie haben es nicht mehr bis auf die Toilette geschafft?“
„Sorry, Frau Kommissarin!“ Jasper klammerte sich an Tamme fest.
„Heute haben wir ein bisschen über die Stränge geschlagen.“ Das Licht der Laterne fiel auf Tammes gerötetes Gesicht.
„Er ist nichts mehr gewohnt“, sagte Jasper.
„Was wir früher gesoffen haben!“ Tammes Stimme hallte durch die nächtliche Gasse. „Die guten, alten Zeiten auf der See!“
„Warum haben Sie Ihren Kutter eigentlich verkauft?“, erkundigte sich Hanna.
„Ich wollte mir eine Yacht zulegen und mit meiner Tochter auf Reisen gehen.“ Tamme wischte Jasper über den Schopf. „Und mit diesem Goldjungen hier natürlich auch.“
„Ab in die wohlverdiente Rente!“, sekundierte ihm Jasper. „Und bei den Fangquoten war der Ausstieg ja genau richtig…“
„Na ja, das konnte ja keiner wissen“, fuhr Tamme ihm über den Mund. Dann wechselte er das Thema. „Und Sie, Frau Kommissarin? Haben Sie den Feuerteufel schon gefasst?“
„Leider nicht.“ Als Hanna Tammes Gesicht musterte, bemerkte sie, dass sie ihn zum ersten Mal ohne seine getönte Brille sah. Und noch etwas fiel ihr auf. „Haben Sie sich verletzt, Herr Haack? Sie haben da eine Schramme am Auge.“
„Stimmt!“ Jasper beugte sich zu Tamme. „Die hat man gar nicht gesehen, als du die Brille aufhattest.“
„Ein Unfall auf meinem Boot.“ Tammes Antwort kam schnell. Vielleicht auch zu schnell. Dann hängte er noch etwas hinten dran. „Als es noch nicht abgebrannt war. Ähm… Das ist ja klar.“
„Verstehe.“ Hanna musterte Tamme.
„Na dann. Wir wollen Sie nicht weiter aufhalten.“ Tamme wich ihrem Blick aus.
„Ich Sie auch nicht.“ Hanna warf den beiden ein Lächeln zu.
„Gute Nacht!“
Sie bog in die nächste Querstraße ein und hielt inne. Ihr Puls erhöhte sich, ihr Atem wurde flach und sie biss sich so fest auf die Lippe, dass es wehtat. Dann gab sie Pommes etwas mehr Leine und machte kehrt…
*
Schon nach wenigen Augenblicken waren die beiden Männer wieder in Sichtweite und Hanna folgte ihnen, ohne dass sie es mitbekamen. Fetzen eines Gesprächs hallten zu ihr: „Diese Kommissarin hat mich so komisch angesehen… Ich will nicht wissen, was die über mich denkt…Öffentliches Urinieren kostet ja eigentlich… Sie hätte uns auch abkassieren können… Warum hat sie das nicht gemacht?“
Als Tamme und Jasper an der nächsten Kreuzung stehenblieben, um sich zu verabschieden, ging Hanna hinter einem parkenden Auto in die Hocke und wartete. Pommes tat es ihr gleich. Die Verabschiedung begann sich in die Länge zu ziehen. Hanna strich dem Hund zärtlich über den Kopf und sann darüber nach, wie es ihm wohl in ein paar Tagen ergehen würde, wenn er wieder zurück bei seiner Besitzerin wäre. Dann hallte das finale „Ciao!“ durch die Nacht und Hanna riskierte einen Blick. Jasper lief nach Osten und Tamme genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie folgte dem frischgebackenen Ruheständler.
Nach wenigen Minuten langten sie im Treibweg an. Dort betrat Bentes Vater ein kleines Haus nordfriesischer Bauart mit spitzem Mittelgiebel und großen Fenstern. Ein Licht sprang an und Hanna postierte sich so, dass sie in die Stube schauen konnte. Sie beobachtete, wie der Fischer einen Laptop aus einem Schrank holte und ihn anschaltete. Daraufhin ging sie zur Tür. Der Schlüssel steckte. Sie zögerte kurz, trat ein, durchquerte den kleinen Korridor und kam ins Wohnzimmer. Der Geruch nach geräuchertem Fisch hing in der Luft. Pommes schien das zu gefallen. Er schlug mit dem Schwanz gegen den Türrahmen. Tamme fuhr herum. „Was zur Hölle tun Sie hier?“
„Löschen Sie gerade die Daten, die Sie von Jasper haben?“ Hanna zeigte auf Tammes Laptop.
„Was fällt Ihnen überhaupt ein, hier so reinzuspazieren?“ Tammes Gesicht lief rot an. „Verlassen Sie sofort mein Haus!“
„Warum so böse? Haben Sie Angst, ich könnte Ihnen auf die Spur gekommen sein?“
„Wovon reden Sie?“
„Sie wissen, dass ich von Abbo spreche.“ Hanna spürte das warme Fell des Hundes an ihrer Hand. Pommes gab ihr Sicherheit. „Sie hatten Zugang zu Jaspers Forschungsdaten und wussten, dass die Fangquoten für den Ostseehering quasi auf Null abgesenkt werden würden. Dann haben Sie ihm Ihren Kutter verkauft und ihn ruiniert.“
„Warum hätte ich das denn tun sollen?“
„Das wissen nur Sie. Jedenfalls rächte Abbo sich an Ihnen, indem er Ihnen die nagelneue Yacht anzündete. Als Sie ihn dabei erwischten, kam es zu einer Handgreiflichkeit, bei der Sie sich die Schramme an Ihrem Auge zuzogen, die Sie mit der getönten Brille verdecken wollten. Doch Ihren Bruder traf es schlimmer. Er stürzte auf den Kai und verletzte sich dabei tödlich am Kopf. Um Ihre Tat zu vertuschen, haben Sie seine Leiche auf das Nachbarboot gebracht und es auch angezündet.“
„Sie haben ja wirklich eine wilde Phantasie.“ Tamme schüttelte den Kopf. „Sicher haben Sie auch eine Erklärung dafür, dass einen Tag zuvor eine andere Yacht gebrannt hat.“
„Die habe ich in der Tat. Ihr Bruder hatte wie üblich etwas getrunken und die beiden Yachten schlicht verwechselt“, erklärte Hanna. „In der Nacht seines Todes ist er dann abstinent geblieben, damit auch ja alles seinen Gang geht. Nur dummerweise waren Sie durch das erste Feuer alarmiert und standen bereits Wache, als er am Kutterhafen aufkreuzte.“
„Tja, leider können Sie Ihre krude Theorie nicht im geringsten beweisen.“
„Dazu komme ich noch.“ Hanna schielte auf den Laptop, der immer noch aufgeklappt auf dem Tisch stand. „Aber erklären Sie mir doch bitte, warum Sie Freeses Jacke auf Oles Boot deponiert haben. Wollten Sie den Verdacht vielleicht auf den Liebhaber seiner Frau lenken?“
„Von welcher Jacke sprechen Sie?“
„Jella Peters kann bezeugen, dass Sie Freeses Jacke kurz zuvor aus dem ‚Hafenkrug‘ mitgenommen hatten, um sie ihrem Besitzer vorbeizubringen.“ Hanna schob sich ein winziges Stück näher an den Laptop heran. Was machte der Mann in diesem Zustand und zu dieser Uhrzeit noch vor dem Rechner? „Stattdessen haben Sie sie benutzt, um eine falsche Spur zu legen.“
„Ihr Vorstellungsvermögen ist beeindruckend, aber Beweise sind das ja wohl keine.“
„Diese dürften sich auf dem Computer befinden. In Form von wissenschaftlichen Dokumenten, die Sie Ihrem Schwiegersohn entwendet haben.“ Hanna machte einen Schritt nach vorn und streckte ihre Hand nach dem Rechner aus. „Oder hat er die Ihnen freiwillig überlassen?“
„Dafür brauchen Sie einen Durchsuchungsbefehl.“ Tamme schlug den Laptop zu und riss ihn an sich.
„Der dürfte gleich hier eintreffen“, erwiderte Hanna, die rechtzeitig eine Nachricht an die Einsatzleitung abgesetzt hatte. „Die Polizei ist unterwegs.“
„Aber dann bin ich längst weg.“ Tamme griff in eine offenstehende Schublade und zog eine rostige Pistole daraus hervor. „Hände hoch!“
„Bleiben Sie ruhig!“ Hanna erkannte sofort, dass die Waffe eigentlich dazu diente, Seenotsignale abzuschießen. Doch sie wollte es nicht drauf ankommen lassen und gehorchte trotzdem, ließ die Leine des Hundes fahren und hob die Hände. Pommes entwich aus dem Raum. Wahrscheinlich, um dem Fischgeruch auf den Grund zu gehen. Aber vielleicht ahnte er auch, dass es hier gleich heiß hergehen würde. „Machen Sie es nicht schlimmer, als es ist!“
„Schiet!“ In Tammes Augen glitzerte plötzlich das Wasser. „Sie haben alles kaputt gemacht.“
„Warum haben Sie Abbo den Kutter verkauft?“ Hanna schielte nach der Uhr an der Wand. „Wie sehr muss man den eigenen Bruder hassen, um ihm so etwas anzutun?“
„Ich habe ihn nicht gehasst.“ Tamme ging langsam rückwärts.
„Was war es dann?“ Hanna tat einen Schritt nach vorn. Sie fragte sich, ob die Waffe in Tammes Hand überhaupt funktionsfähig und geladen war. Austesten wollte sie es jedoch nicht. So eine Signalrakete konnte nicht nur schmerzhaft sein, sondern ganz sicher auch ein Haus wie dieses in Brand setzen.
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“ Tamme zielte auf ihre Brust. Hastig stopfte er den Laptop in einen Rucksack, der auf einer Anrichte stand. Dann riss er ein Bild von der Wand, steckte es dazu und schloss den Rucksack. Es war ein Bild, das ihn und seine Tochter Bente zeigte.
„Es ist alles wegen Bente!“, rief Hanna. „Sie waren eifersüchtig auf Ihren Bruder, weil er ein besseres Verhältnis zu Ihrer Tochter hatte als Sie selbst.“
Tamme schüttelte wortlos den Kopf. Tränen rannen ihm über die Wange. Er ließ den Rucksack aus der Hand gleiten. Und richtete die Pistole schließlich gegen die eigene Schläfe.
„Legen Sie die Waffe weg!“, flehte Hanna ihn an.
„Sie haben mit allem recht. Abbo hat mich angegriffen, als ich ihn dabei erwischte, wie er meine Yacht ansteckte. Ich habe mich nur gewehrt… Es war ein schrecklicher Unfall… Wenn Bente von alldem erfährt, wird sie mich für immer verfluchen. Es ergibt keinen Sinn mehr für mich, weiter zu leben.“
„Was genau meinen Sie?“
„Ich konnte mich nicht richtig um Bente kümmern, weil sie bei ihrer Mutter in Husum blieb und ich in einer anderen Stadt lebte und arbeitete. Abbo ersetzte mich. Er hatte ja keine Kinder. Und Bente mochte ihn. Mehr als mich, ihren eigenen Vater.“ Tammes Stimme zitterte. „Als ich das kapiert hatte, wollte ich nur noch, dass Abbo von hier verschwindet. Das mit den Fangquoten wusste ich nicht. Und ich wäre auch niemals auf die Idee gekommen, ihm etwas anzutun.“
„Aber warum haben Sie Ihrer Tochter nicht die Zeit gegeben, sich an Sie zu gewöhnen, nachdem Sie zurück in Husum waren? Manchmal brauchen Töchter eben Zeit.“
„Ich bin einundsechzig. Ich habe keine Zeit mehr.“ Tammes Daumen bewegte sich. Mit einem Klicken sprang die Sicherung heraus. Jetzt war die Waffe scharf.
„Machen Sie keinen Unsinn!“, rief Hanna. „So wie die Dinge stehen, kommen Sie mit Totschlag davon. Wenn Sie Glück haben, dann können Sie Ihre langersehnte Reise mit Bente antreten, noch ehe Sie siebzig sind. Nur tun Sie eins nicht! Nehmen Sie ihr jetzt nicht auch noch den Vater! Und stecken Sie vor allem nicht dieses Haus in Brand!“
Von draußen drang der Lärm zugeschlagener Autotüren ins Haus. Das war die Verstärkung. Hundegebell ertönte. Die Hundestaffel war also auch dabei. Bente sah ganz deutlich, wie sich Tammes Zeigefinger krümmte. Plötzlich schoss Pommes wie besessen ins Wohnzimmer. Auch er musste die Hunde vor dem Haus gehört haben. Tamme erschrak, als der riesige Schatten hereinkam, machte einen Ausfallschritt, um ihm auszuweichen, konnte aber den Zusammenstoß mit dem tolpatschigen Riesen nicht mehr verhindern. Er schrie auf, riss die Arme hoch, torkelte und fiel rücklings hin. Krachend löste sich ein Schuss. Ein rotes Leuchten jagte durch den Raum. Plötzlich war überall Qualm. Hanna warf sich auf den Boden. Im nächsten Moment stürmten die Beamten die Wohnung.
21. Kapitel
Vor den offenen Fenstern des Büros zeterten Möwen und Dohlen um die Wette, von der Küste her trug ein frischer Wind die herbe Note des Wattenmeeres herein und am Himmel löste sich der Schatten dicker, weißer Quellwolken im Sekundentakt mit dem strahlenden Licht der Morgensonne ab. Speckmann thronte mit grimmiger Miene an dem Konferenztisch. Ihm gegenüber saßen Hanna und Hauke. Der Blick des Kriminalrats sprang von einem zum anderen. „Wer von Ihnen hat den Flensburger Kollegen mitgeteilt, dass sie nicht mehr kommen sollen?“
„Ich.“ Hanna hob den Finger. „Wozu auch?“
„Das nächste Mal halten Sie sich bitte ans Protokoll.“ Speckmann schüttelte den Kopf. „Ich bin immer noch derjenige, der mit den anderen Dienststellen kommuniziert.“
„Alles klar.“ Hanna nickte. Mit Genugtuung nahm sie Haukes erstaunten Gesichtsausdruck wahr. Auch Hanna konnte sich über Regeln hinwegsetzen, wenn sie wollte.
„Trotz allem sieht es so aus, als hätten wir mehrere Fälle auf einmal aufgeklärt.“ Speckmann räusperte sich. „Der Brandstifter ist tot, wir haben ein Geständnis und die Staatsanwaltschaft arbeitet bereits an einer Anklage wegen Totschlags gegen Tamme Haack. Wobei es im Moment ja eher nach Körperverletzung mit Todesfolge aussieht. Dazu kommt wohl das versuchte Inbrandsetzen seines Hauses mit Signalmunition. Glücklicherweise haben unsere Kollegen dies verhindert und damit auch mögliche Spuren gerettet.“
„Auf Tammes Laptop hat die Kriminaltechnik noch nichts gefunden?“, fragte Hanna. „Keine Studienergebnisse zu den Fangquoten oder dergleichen?“
„Nein. Nur jede Menge nicht abgeschickte E-Mails an seine Tochter Bente“, entgegnete Speckmann.
„Dann war allein Bente der Grund für den Kutterverkauf“, setzte Hanna hinzu. Jetzt war ihr auch klar, was der betrunkene Tamme nachts an seinem Rechner gesucht hatte. Er hatte verzweifelte Briefe an seine Tochter geschrieben. Jella hatte also doch recht gehabt in ihrer Einschätzung. Tamme war ein Guter… „Der Mann kann einem leidtun.“
„Sparen Sie sich Ihr Mitleid für die beiden Herren auf, die Sie unschuldig in Haft gebracht haben“, setzte Speckmann dagegen.
„Die sind ja mittlerweile wieder auf freiem Fuß“, verteidigte sich Hanna. „Wobei Fritzenkötter und Freese ja nun auch nicht komplett unschuldig sind.“
„Dasselbe sagt Freese von Ihnen auch.“ Speckmann klopfte mit seinem Kugelschreiber auf dem Schreibtisch rum. „Er hat Anzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen Sie beide erstattet.“
„Wo gehobelt wird, fallen Späne.“ Hanna zuckte mit den Schultern.
„Na ja, ganz so würde ich es nicht ausdrücken wollen, aber im Grunde trifft es das ganz gut…“ Speckmann nickte.
„Ich denke, Sie können Frau Diercksen ruhig mal ein Kompliment aussprechen.“ Hauke warf dem Kriminalrat ein charmantes Lächeln zu.
„Sie haben Nerven, mir zu raten, was ich zu tun habe…“ Speckmann verschränkte die Arme und stierte den Berufsanfänger ein paar Sekunden lang an. Dann wandte er sich Hanna zu. „Aber recht hat er… Das war gar nicht mal so schlecht. Herzlichen Glückwunsch!“
„Danke!“ Hanna lächelte. „Aber Herr Mattes hat natürlich auch einen Anteil.“
„Ich weiß. Das gesamte Husumer Revier ist mächtig stolz auf Sie beide.“ Speckmann begann den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern heftig hin und her zu drehen, als würde er nach den richtigen Worten suchen. „Und irgendetwas sagt mir, dass die Kripo Husum bei Tötungsdelikten in Zukunft mehr Eigenständigkeit bekommen wird.“
„Ich hätte nichts dagegen.“ Hanna schmunzelte.
Sie hatte sehr wohl registriert, dass Speckmann Hannas Zeit in Hamburg mit keinem Wort mehr erwähnt hatte.
*
Als Hanna und Hauke kurz darauf zum Mittagessen in den ‚Hafenkrug‘ kamen, war Ole schon da.
„Moin!“ Der Oberkommissar warf ihnen ein Lächeln zu. „Sie finden jetzt regelmäßig den Weg hierher, was?“
„Eigentlich habe ich ja noch jede Menge Berichte zu schreiben…“, erwiderte Hanna. „Aber ich muss auch zugeben, dass mir Ihr Mittagsritual immer besser gefällt.“
„Das wird Jella freuen.“ Ole nickte zufrieden. „Wie lief denn die Besprechung mit dem Speckmann?“
„Nichts Dienstliches am Mittagstisch! Solange ich nicht dabei bin!“ Hauke streckte seinem Vorgesetzten den Zeigefinger entgegen, lachte laut und verschwand auf Toilette.
„Ich habe mich gefragt, wo Sie bei der Besprechung waren, Herr Andersen.“ Hanna nahm Platz und zog die Karte zu sich heran.
„Da der Speckmann es mir freigestellt hat, ob ich teilnehme oder nicht, habe ich darauf verzichtet.“ Oles Hand wanderte zu dem Bier, von dem Hanna wieder nicht wusste, ob es mit oder ohne Alkohol war. „Ich war ja auch nicht an den Ermittlungen beteiligt.“
„Das würde ich nicht so sehen. Sie haben gestern schließlich bei Frau Doktor Stöver angerufen und Sie gedrängt, die Identifizierung des Toten so schnell wie möglich durchzuführen. Das waren doch Sie, oder?“ Hanna musterte den Kollegen. „Hätte ich gestern Abend nicht gewusst, dass es sich um Abbo Haack handelt, dann wäre die Nacht ganz anders verlaufen. Ich hätte Freese nicht mit denselben Fragen konfrontiert und nicht die Antworten erhalten, die mir dann bei Tamme weitergeholfen haben.“
„Habe ich denn was verpasst bei Speckmann?“, wollte Ole wissen.
„Es kam nichts zur Sprache, was Sie nicht schon wussten“, erwiderte Hanna.
„Hat er das verschwundene Beweismittel noch einmal erwähnt?“
„Nein! Das hatte ich längst vergessen.“ Hanna griff sich an die Stirn. „Was ist damit?“
„Es ist wieder aufgetaucht.“ Oles Stimme senkte sich. „Auf mysteriöse Art und Weise.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Dass es jemanden in der Dienststelle gibt, der es hat verschwinden lassen.“
„Ich befürchte, dass der Speckmann dahinter steckt. Der wollte mich doch so schnell wie möglich loswerden.“
„Na ja, im Moment scheint er ja ganz froh darüber zu sein, dass Sie hier gelandet sind.“
„Mal sehen, wie lange das vorhält.“ Hanna blickte zu Jella, die an den Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen.
„Moin, Hanna!“ Jella strich ihr über die Schulter. „Wo steckt denn euer Kollege?“
„Der ist vor einer ganzen Weile auf die Toilette verschwunden.“ Hanna blickte sich suchend um und sah, dass Hauke vor einem Bild an der Wand stehengeblieben war. Es hing in dem schmalen Flur, der zum WC führte. „Herr Mattes! Ihr Typ wird verlangt!“
„Komme!“ Hauke drehte sich zu den Kollegen. Als er Jella erblickte, deutete er mit dem Daumen hinter sich. „Wer ist der Polizeikommissar auf dem Foto dort?“
„Der sieht schick aus in der Uniform, oder?“ Jella ging zu dem gerahmten Foto, nahm es von der Wand, pustete den Staub vom Rahmen und brachte es an den Tisch. Es zeigte einen Mann mit kräftigem Kinn, üppigen Lippen, vollen, dunklen Haaren und stahlblauen Augen. „Das ist mein Vater. Er ist leider viel zu früh verstorben.“
„Ein hübscher Mann.“ Hanna nickte anerkennend. Sie beschlich das Gefühl, dass sie ihm irgendwann schon einmal begegnet sein musste.
„Die Vorzüge seines guten Aussehens hat er zeitlebens auch voll ausgekostet.“ Jella blickte auf das Foto. „Wenn auch nur die Hälfte der Gerüchte über ihn stimmt, dann müsste ich ein paar Halbgeschwister in der Gegend haben…“
Während Hanna der Wirtin zuhörte, machte sich ein seltsames Gefühl in ihr breit. Eine lang verdrängte Sehnsucht meldete sich und die absurdesten Gedanken kamen ihr in den Kopf. Sie begann, Jellas Gesicht zu mustern. Gab es in ihm nicht etwas Vertrautes?… Hanna schüttelte den Kopf… Nein, das konnte unmöglich sein… Oder vielleicht doch? In jedem Fall war dies kein guter Moment, um Jella danach zu fragen. Zumal die Aussicht auf eine befriedigende Antwort ja sowieso gering war. Wie genau konnte Jella schon über die Liebschaften ihres längst verstorbenen Vaters Bescheid wissen…
„Moin!“ Plötzlich hallte ein lauter Gruß durch den Gastraum. Die drei Kripobeamten und die Wirtin drehten sich erschrocken herum. Am Eingang stand eine junge Frau, deren Gesicht vollständig von einem großen Blumenstrauß verborgen war. Neben ihr tauchte der gigantische Kopf eines Hundes auf. „Schau mal, Mama, wen ich gerade vom Tierarzt abgeholt habe.“ Es war Wiebke.
„Pommes! Wie geht es dir, mein Guter?“, rief Hanna, worauf die dänische Dogge, die einen Verband um den Vorderlauf trug, sofort zu ihr gelaufen kam und sich eine Streicheleinheit abholte.
„Erst wollte sie ihn nicht haben und jetzt ist sie ganz verrückt nach ihm…“ Hannas Tochter kam an den Tisch und streckte Jella den Blumenstrauß entgegen. „Es tut mir leid für das, was wir hier neulich abgezogen haben. Ich hoffe, Sie nehmen meine Entschuldigung an.“
„Wer mir Blumen bringt, der erhält auch Gnade.“ Jella nahm lachend den Strauß in Empfang. „Aber keine Sorge! Diese Flausen treiben wir dir schon wieder aus.“
„Danke!“
„Darf man fragen, was dich zu diesem Sinneswandel verleitet hat, Wiebke?“, fragte Jella.
„Letzte Nacht war einfach nur krass! Ich habe gemerkt, dass aus Spaß schnell Ernst werden kann, wenn man an die falschen Leute gerät.“ Wiebke schielte zu Hanna. „Und Mama hat mit ihrer Standpauke von heute morgen auch noch ein bisschen nachgeholfen.“
„Aha!“ Jella schloss Wiebke mit lautem Gelächter in die Arme.
Während Wiebke sich von Jella drücken ließ, begutachteten Hauke und Hanna den Verband an Pommes’ Bein.
„Ist die Verbrennung schlimm?“, wollte Hauke wissen.
„Der Arzt hat gesagt, dass er eine Narbe davontragen wird. Weiter nichts.“ Hanna strich über das kurze, gescheckte Fell.
„Wann kommt die Besitzerin denn eigentlich zurück?“, fragte Hauke.
„Sie ist wohl noch ein paar Tage länger weg. Allerdings weiß ich nicht, ob ich der Quelle trauen kann. Sie hat es laut Wiebke nämlich auf Instagram gepostet.“ Hanna warf Hauke einen hintergründigen Blick zu. „Damit kennen Sie sich besser aus, Herr Mattes.“
„Ich habe die App erst einmal deinstalliert. Das ist momentan gesünder für mich“, antwortete Hauke und kraulte Pommes die Kehle. „Aber wenn der hier demnächst mein Nachbar wird, dann habe ich ja genug Ablenkung.“
Kaum hatte Hauke den Satz beendet, legte Pommes seinen Kopf auf die Knie des Kommissars und wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass er beinahe die Getränke vom Tisch gefegt hätte.
Ende
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