Den meisten von uns setzen Platz- und Geldmangel Grenzen für den Neuerwerb literarischer Werke. Wir mögen uns zwar einreden, dass unser Leben als Bücherwurm von Rationalität und Urteilskraft getrieben wird, doch im tiefsten Inneren ist uns klar, dass wir, hätten wir unendlich viel Platz und finanzielle Möglichkeiten, am Ende in Tausenden und Abertausenden von Büchern ersticken würden.
Wie viele Bücher kann man in einem Leben lesen? Nehmen wir an, wir werden achtzig, bevor wir in die ewigen Jagdgründe eingehen. Würden wir von unserem achtzehnten bis zu unserem achtzigsten Geburtstag täglich ein Buch lesen, das heißt auch an Weihnachten, offiziellen Feiertagen, Tagen mit Kater, hektischen Arbeitstagen, Hochzeitstagen, Geburtstagen – ausnahmslos jeden Tag ein Buch –, dann kämen wir unter Berücksichtigung der Schaltjahre auf 24.837. Schränken wir das ein wenig ein und nehmen an, wir kämen als Erwachsene im Durchschnitt auf ein Buch pro Woche, dann wären das 3.536 Bände, eine ziemlich große Herausforderung, aber machbar. Nehmen wir weiter an, wir würden sie alle behalten und in Schränken oder Regalen mit je sechs Böden zu jeweils 30 Exemplaren aufbewahren. Dieser Berechnung nach würde die gesamte Leseleistung eines Erwachsenen bei einem Buch pro Woche in etwa zwanzig Regale passen. Klingt doch gar nicht mal so viel für ein Leben, oder? Klingt sogar noch beherrschbarer, wenn man sich einige der vollkommen verrückten Büchersammler vor Augen führt, die einige der größten Bibliotheken der Weltgeschichte zusammengetragen haben.
Bischof Richard de Bury, ein berühmter Bibliophiler des vierzehnten Jahrhunderts und Verfasser des ersten Buches über das Büchersammeln, sah sich gezwungen, »über seine Bücher zu klettern, um in sein Bett zu gelangen«. Oder Charles van Hulthem: Der Belgier lebte um 1800, und seine Privatbibliothek umfasste geschätzte 32.000 Bände, aufgeteilt auf zwei Häuser in Brüssel und Gent. Die Gefahr eines Brandes war angesichts der Papiermenge so groß, dass er den Umgang mit offenem Licht in beiden Häusern strikt verbot und sich warm hielt, indem er sich mit Manuskripten zudeckte. Als er 1832 starb, wurde seine Sammlung zum Grundstock der belgischen Nationalbibliothek.
Im achtzehnten Jahrhundert hatte der Londoner Anwalt Thomas Rawlinson, »der Bücher sammelte wie ein Eichhörnchen Nüsse«, derart viele davon, dass er am Ende gezwungen war, seine Schlafstatt in der zugigen Diele seines Hauses in Gray’s Inn einzurichten. Dem Satiriker Joseph Addison soll er als Vorbild für seine Figur Tom Folio, »einen gelehrten Narren«, gedient haben.
Im Jahr 1906 fand die Polizei von Wolverhampton George Griffiths tot in seiner heruntergekommenen Bleibe mitten im Elendsviertel. Wie sich herausstellte, war Griffiths – ein allein lebender Hüttenarbeiter – verhungert, doch als die Beamten seine Habseligkeiten untersuchten, stellte sich heraus, dass Griffiths’ Tod mitnichten der Armut geschuldet war. Bankauszüge belegten, dass er mehrere Hundert Pfund auf der hohen Kante hatte, und in einem Kästchen unter seinem Bett fanden sich sieben Uhren sowie etliche Goldmünzen. Am bemerkenswertesten waren jedoch die 2.000 im ganzen Zimmer zu Stapeln aufgeschichteten seltenen und wertvollen Bücher.
»Er hatte nie Besuch. Er lebte mit seinen Büchern. Er pflegte immer zu sagen, dass niemand einsam sein muss, solange er nur Bücher hat«, sagte die Vermieterin von Lionel Treherne aus Sussex, nachdem er 1923 im Alter von 54 Jahren gestorben war. »Er sparte sogar am Essen, um mehr Bücher kaufen zu können.« Treherne war in dem Seebad für seine Verschrobenheit wohlbekannt, nicht zuletzt dafür, im Hochsommer mit zwei Mänteln bekleidet umherzulaufen, über dem Arm einen Regenmantel, in der Hand einen aufgespannten Regenschirm. Der Mann, denn alle liebevoll »the Colonel« nannten, durchstöberte regelmäßig sämtliche Antiquariate der Stadt. Als er starb, stapelten sich vom Boden bis zur Decke seines Dachzimmers geschätzte 15.000 Bücher, die kaum genug Raum ließen, um von der Tür zum Bett zu gelangen. Zusammen brachten sie geschätzte zwei Tonnen auf die Waage. Treherne ernährte sich von trocken Brot und Kakao, schlief nur sehr wenig und streifte des Öfteren nachts durch die Straßen, wobei er Gedichte verfasste.
Als im Januar 1983 der pensionierte Postangestellte Michael Hurley im Alter von 77 Jahren in seinem Häuschen in Los Angeles starb, hinterließ er ein erstaunliches literarisches Erbe. Seine bescheidene Zweizimmerwohnung war eine einzige Büchersammlung. Sie beherbergte geschätzt mehr als 35.000 Bände, manche von ihnen so selten, dass sie Hurley – der zu keiner Zeit mehr als 25.000 Dollar pro Jahr verdiente – zu einem der weltweit führenden Sammler antiquarischer Bücher machten.
Geboren in Iowa, war Hurley 1930, zu Beginn der Großen Depression, nach Kalifornien getrampt (Freunden zufolge verließ er Los Angeles nach seiner Ankunft niemals wieder, auch nicht für einen einzigen Tag) und begann vier Jahre später, Bücher zu sammeln. Im Verlauf von fünfzig Jahren erwarb er unter anderem eine Zweitausgabe der Gesammelten Werke von Shakespeare von 1632, eine Erstausgabe von Boswells Life of Samuel Johnson, eine signierte Erstausgabe von Bram Stokers Dracula, eine Erstausgabe von T. S. Eliots Das Wüste Land und eine sowohl von A. A. Milne als auch dem Illustrator E. H. Shepard signierte Ausgabe von Pu der Bär (eines von nur zwanzig Exemplaren mit Pergamenteinband). Er hinterließ kein Testament; die Sammlung wurde von den städtischen Behörden verramscht.
50.000 Bücher und 60.000 Manuskripte umfasste die Sammlung des Bibliophilen Sir Thomas Phillipps, der im frühen neunzehnten Jahrhundert lebte. Sie kostete ihn seinem Biografen zufolge »wahrscheinlich um die zweihundert- bis zweihundertfünfzigtausend Pfund, alles in allem vier- oder fünftausend Pfund pro Jahr, und pro Woche kamen vierzig oder fünfzig Neuerwerbungen hinzu«. Phillipps pflegte in Buchhandlungen zu gehen und den gesamten Bestand aufzukaufen. In den Auktionshäusern des Landes ersteigerte er komplette Lose, wobei er für gewöhnlich seinen einzigen ernsthaften Konkurrenten um solche literarischen Kostbarkeiten überbot – das British Museum. Phillipps’ imposanter Landsitz in Worcestershire hatte zwanzig Zimmer, von denen sechzehn den Büchern vorbehalten waren. Als er beschloss, seine Sammlung aus Sicherheitsgründen in sein Haus in Cheltenham zu verlagern, erforderte dieses Vorhaben 105 Lastkarren und dauerte acht Monate. Phillipps’ erklärtes Ziel bestand darin, ein Exemplar jedes jemals gedruckten Buches zu besitzen, und seine Leidenschaft stürzte ihn in späteren Lebensjahren in erhebliche Schulden. Nach dem Tod seiner Frau im Jahre 1837 veröffentlichte er eine Kontaktanzeige. Sie richtete sich an »jede beliebige Frau, die über 50.000 Pfund verfügt; zu diesem Preis bin ich zu haben.«
Als in den frühen Morgenstunden des 20. März 1990 Stephen Blumberg in seinem Haus in Minnesota verhaftet wurde, hatte er knapp 24.000 seltene und wertvolle Bücher aus mehr als 250 Museen, Universitäten und Institutionen in 45 US-Bundesstaaten und zwei kanadischen Provinzen gestohlen. Der Wert des literarischen Diebesgutes wurde auf 5,3 Millionen US-Dollar beziffert. Zu seiner Verteidigung brachte Blumberg vor, er habe die kostbaren Bände für das amerikanische Volk retten wollen, da er überzeugt sei, die Regierung hege Pläne, das Recht der Öffentlichkeit auf den Zugang zu seltenen und prachtvollen Büchern aufzuheben. Man verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe von viereinhalb Jahren und einer Geldstrafe von 200.000 US-Dollar. Seine Verhaftung erfolgte, weil ihn sein Freund Kenneth J. Rhodes für eine Belohnung von 56.000 US-Dollar verraten hatte.
Verglichen mit diesen außergewöhnlichen Bücherhamsterern und -sammlern, nehmen sich unsere eigenen Bücherregale, die unter ihrer Last schon ächzen, plötzlich gar nicht mehr so übertrieben aus. Es ist daher absolut in Ordnung, sich einen Ruck zu geben und mal all die Bücher durchzusehen, die seit Ewigkeiten auf unseren Wunschlisten diverser Internetplattformen stehen. Nur zu, ehrlich, es ist okay. Und sollten Sie im Ernst beschließen, den etwas ruchloseren Pfad des Bucherwerbs einzuschlagen, dann erzählen Sie es bloß nicht Ihrem Freund Kenneth. Er wird Sie für ein paar armselige Dollar an die Bullen verraten.
Falls Sie sich übrigens fragen sollten, was mit den Lesezeichen ist, die man braucht, um mit derart gigantischen Mengen überhaupt einigermaßen sinnvoll umzugehen, dann interessiert es Sie vielleicht, dass die vermutlich weltweit größte Sammlung dieser kleinen Helfer Frank Divendal aus Alkmaar in den Niederlanden gehört. Seit 1982, als er damit begann, hat er über 120.000 davon zusammengetragen. Was wiederum bedeutet, dass er, legen wir ein Pensum von einem Buch pro Woche zugrunde, genügend Buchmarken hat, um 34 Leben lang zu lesen.
Bücher, Bücher, Bücher! Ich hatte die geheime Dachkammer entdeckt, die bis oben hin mit den Kisten meines Vaters gefüllt war, hohe Stapel, vollgepackt, und wo ich zwischen den riesenhaften Fossilien meiner Vergangenheit wie eine flinke kleine Maus im Gerippe eines Mastodons mal hier, mal dort an dieser oder jener Kiste zupfte und durch einen Spalt in rauschender Angst, in Eile, in siegesgewisser Freude das allererste Buch hervorzog. Und wie ich seinen Herzschlag unter meinem Kissen spürte, im Morgengrauen, nur eine Stunde ehe die Sonne mich würde lesen lassen! Meine Bücher!
Elizabeth Barrett Browning